Alexander Iwanowitsch Kuprin

Der Elefant

Geschichte für Kinder

I

Das kleine Mädchen ist krank. Jeden Tag schaut Doktor Michail Petrowitsch
bei ihr vorbei, der kennt sie schon ganz lange. Manchmal bringt er noch zwei
Doktoren mit, unbekannte. Sie drehen das Mädchen auf den Rücken und
auf den Bauch, legen die Ohren auf ihren Körper und lauschen, zupfen am
unteren Augenlid und gucken. Die ganze Zeit schnauben sie wer-weiß-wie-
wichtig, machen ein ernstes Gesicht und unterhalten sich untereinander in
einer unbekannten Sprache.

Anschließend stiefeln sie vom Kinder- ins Wohnzimmer, wo Mama sie schon
erwartet. Der Oberdoktor - groß, grauhaarig, mit goldener Brille - berichtet von

etwas Ernstem und sehr ausführlich. Die Tür ist offen geblieben, und so
kann das Mädchen in seinem Bett alles sehen und hören. Vieles versteht sie
nicht, wohl aber, dass von ihr gesprochen wird. Mama schaut den Doktor mit
großen, müden und verweinten Augen an. Sich verabschiedend, spricht der
Oberdoktor dröhnend: „Das Wichtigste ist - sie darf sich nicht langweilen!
    Erfüllen Sie ihr alle Launen“.
-  „Ach Herr Doktor, sie wünscht sich doch gar nichts!“
-  „Hmm...da weiß ich auch nicht... überlegen Sie doch, was ihr früher
    gefallen hat, vor der Krankheit... Spielzeuge... bestimmte Süßigkeiten...“
-  „Ach nein, Herr Doktor, gar nichts will sie...“
-  „Nun, dann versuchen Sie doch, sie irgendwie zu unterhalten... also mit
    irgendwas... geben Sie Ihr Ehrenwort, dass die beste Medizin für sie
    ist, wenn sie wieder lacht und fröhlich ist. Denken Sie daran, dass
    Ihre Tochter an Lebensüberdruss kränkelt und und ihr weiter nichts
    fehlt.... auf Wiedersehen, gnädige Frau!“

II

-  „Liebe Nadia, mein liebes Töchterchen“ fragt Mama, „möchtest du nicht
    irgendwas haben?“
-  „Nein, Mama, ich brauche nichts“.
-  „Wenn du willst, setze ich alle deine Puppen zu dir ins Bett. Wir stellen
    die Sesselchen hin, das Sofa, den Tisch und das Teeservice. Die Puppen
    trinken Tee und unterhalten sich über das Wetter und die
    Gesundheit ihrer Kinder...“
-  „Danke, Mama... ich möchte lieber nicht... mir ist langweilig...“
-  „Gut, mein Kindchen, dann lassen wir die Puppen. Aber vielleicht soll ich
    Katia und Eugenia anrufen? Das sind doch deine Freundinnen?“
-  „Lieber nicht, Mama, wirklich nicht nötig. Zu nichts habe ich Lust, zu gar
    nichts. Mir ist so langweilig“.
-  „Soll ich dir Schokolade bringen?“

Aber das Mädchen antwortet nicht und guckt mit starren, unglücklichen
Augen zur Decke. Ihr tut nichts weh, nicht einmal Fieber hat sie. Dennoch
wird sie mit jedem Tag magerer und schlapper. Was sie mit ihr auch
anstellen, ihr ist das egal, sie will nichts. So liegt sie da, ganze Tage
und ganze Nächte, still und traurig. Manchmal schlummert sie für eine
halbe Stunde ein, aber selbst im Traum begegnet sie etwas Grauem, sich
Hinziehenden, Langweiligen, einer Art Regenschauer im Herbst.

Wenn das Mädchen durch die geöffnete Tür des Kinderzimmers ins
Wohnzimmer schaut, und vom Wohnzimmer weiter ins Arbeitszimmer, kann
sie dort ihren Papa erblicken. Der Papa rennt von einer Ecke des Zimmers
in die andere und qualmt dabei ununterbrochen. Zuweilen kommt er ins
Kinderzimmer, setzt sich auf den Bettrand und streichelt ruhig Nadias Füße.
Dann steht er schnell auf und tritt zum Fenster. Er betrachtet sich die Straße
und pfeift vor sich hin, aber seine Schultern beben. Er führt eilig sein
Taschentuch erst an das eine Auge, dann an das andere und läuft ganz
erbost in sein Arbeitszimmer zurück. Dort rennt er wieder von einer Ecke in
in die andere und... raucht, raucht, raucht... die Luft im Arbeitszimmer ist
schon dunkelblau vom vielen Qualm.

III

Eines Morgens aber erwacht das Mädchen ein wenig munterer als sonst.
Irgendetwas hat sie geträumt, kann sich aber nicht erinnern, was genau,
und schaut lange und aufmerksam in die Augen ihrer Mutter.
-  „Brauchst du irgendetwas?“ fragt Mama.

Da plötzlich fällt dem Mädchen ihr Traum wieder ein und sie flüstert, als sei
es ein Geheimnis: „Mama... kann ich einen... Elefanten bekommen? Aber
    keinen gemalten... Darf ich?“
-  „Natürlich, mein Liebling, selbstverständlich kannst du“.

Sie geht ins Arbeitszimmer hinüber und berichtet Papa, dass das Mädchen
sich einen Elefanten wünscht. Sofort zieht Papa Mantel und Hut über und
fährt irgendwohin. Nach einer halben Stunde ist er wieder da, mit einem
teueren, wunderschönen Spielzeug: einem riesigen Elefanten, der selbständig mit dem Kopf wackeln und dem Schwanz wedeln kann. Der Elefant hat
einen roten Sattel, auf dem Sattel befindet sich ein goldenes Zelt und darin
sitzen drei kleine Männchen. Aber das Mädchen betrachtet das Spielzeug so
gleichgültig wie die Decke und die Wände und sagt mit schwacher Stimme:
    „Nein. Das ist nicht das, was ich wollte. Ich wollte einen richtigen
     Elefanten, einen lebenden, aber der da ist tot“.
-  „Aber schau doch, Nadia“, sagt Papa, „gleich ziehen wir ihn auf, und
    dann ist er ganz genauso wie ein lebender“.

Mit einem Schlüsselchen wird der Elefant aufgezogen, und er beginnt,
kopfwackelnd und schwanzwedelnd, seine Beine zu bewegen und  schlurft

langsam über den Tisch. Dem Mädchen erscheint das nicht sehr aufregend,
eher langweilig, aber um ihren Vater nicht zu enttäuschen, flüstert sie ihm
ergeben zu: „Vielen, vielen Dank, mein lieber Papa. Ich glaube,
    niemand sonst hat so ein aufregendes Spielzeug... es ist nur... weißt du
    noch... du hattest doch schon lange versprochen, mit mir in den Tierzirkus
    zu gehen und mir einen richtigen Elefanten zu zeigen... und kein einziges
    Mal hast du mich hingeführt...“
-  „Aber hör mal, mein Liebling, versteh doch, das ist unmöglich. So ein
    Elefant ist groß, der reicht bis zur Decke, der passt doch gar nicht in
    unsere Wohnung... und überhaupt, wo soll ich den herkriegen?“
-  „Papa, ich brauche doch gar keinen großen... bring mir ruhig einen
    kleinen, Hauptsache, lebendig. Also, wenn das ein Problem ist ... also,
    meinetwegen dann so ein... so ein Elefantenbaby“.
-  „Meine Liebe, alles würde ich für dich tun, gern, aber das vermag ich nicht.
    Das ist  ja so, als würdest du plötzlich verlangen: Papa, reich mir doch

    mal eben die Sonne herunter“.

Das Mädchen lächelt traurig.
-  „Ach Papa, wie bist du dumm. Als ob ich nicht wüsste, dass man die
    Sonne nicht anfassen kann, weil man sich verbrennen würde. Mit dem
    Mond genauso. Nein, einen kleinen Elefanten hätte ich gern, einen
    richtigen“.

Langsam schließt sie die Augen und flüstert: „Ich bin müde... entschuldige,
     Papa...“

Papa rauft sich die Haare und läuft ins Arbeitszimmer. Eine Zeitlang flitzt er
dort wieder hin und her. Dann plötzlich schmeißt er seine nicht zu Ende
gerauchte Zigarette auf den Fußboden (dafür kriegt er von Mama immer
was zu hören) und ruft entschlossen nach dem Dienstmädchen: „Olga!
    Mantel und Hut!“

Im Korridor erscheint seine Frau: „Wohin willst du denn?“
Er seufzt, während er den Mantel zuknöpft: „Maschenka, das weiß ich selber
    noch nicht... ich weiß bloß, dass ich heute abend mit Sicherheit einen
    richtigen Elefanten mit zu uns nach Hause bringe...“

Alarmiert schaut ihn seine Frau an: „Mein Lieber, bist du sicher, dass es dir
    gut geht? Keine Kopfschmerzen? Vielleicht hast du schlecht geschlafen?“
-  „Gar nicht habe ich geschlafen“, antwortet er ärgerlich, „ich sehe schon,
    du fragst, ob ich den Verstand verloren habe? Bis jetzt noch nicht.
    Machs gut, heute abend wird man ja sehen“.
 Und er verschwindet, laut die Wohnungstür hinter sich zuschlagend.

IV

Zwei Stunden später sitzt er in der Menagerie, in der ersten Reihe, und
schaut zu, wie gelehrige Tiere nach den Anordnungen des Besitzers

Kunststückchen ausführen. Kluge Hunde springen, schlagen Purzelbäume,
tanzen, singen zu Musik und bilden Wörter aus großen Pappbuchstaben.
Äffchen - die einen in roten Röcken, die anderen in blauen Höschen -
schwingen an Seilen und reiten auf einem großen Pudel. Riesige,
rotschöpfige Löwen hüpfen durch brennende Reifen. Unförmige, tapsige
Robben schießen aus Pistolen. Zum Schluß werden die Elefanten
hereingeführt. Es sind ihrer drei: ein ganz riesiger, zwei ganz kleine,
Elefantenzwerge, doch trotzdem immer noch größer als ein Pferd.
Es ist merkwürdig anzuschauen, wie diese gewaltigen Tiere, die auf den
ersten Blick linkisch, ungeschickt und schwerfällig aussehen, die
schwierigsten Aufgaben trickreich lösen, die selbst ein wendiger Mensch
nicht schaffen würde.

Besonders brilliert der große Elefant: zuerst setzt er sich auf seine Hinter-
beine, dann, alle viere nach oben, auf seinen Kopf, balanciert durch einen
Parcours aus Holzflaschen und auf einem rollenden Fass, blättert mit
seinem Rüssel die dicken Seiten eines Buches aus Karton um und setzt
sich schließlich an einen Tisch, legt sich eine Serviette vor und speist zu
Mittag wie der wohlerzogenste kleine Junge.

Die Vorstellung ist beendet, die Zuschauer zerstreuen sich. Nadias Vater
begibt sich zu dem fülligen Deutschen, dem Chef der Menagerie. Der
Besitzer steht vor einem Bretterverschlag, mit einer dicken, schwarzen
Zigarre im Mund.

-  „Entschuldigen Sie bitte“, spricht ihn Nadias Vater an, „meinen Sie, ich
    könnte Ihren Elefanten mal kurz mit zu mir nach Hause nehmen?“

Vor Erstaunen reißt der Deutsche seine Augen weit auf, ebenso den Mund,
aus dem die Zigarre auf die Erde fällt. Ächzend bückt er sich, hebt sie auf,
steckt sie wieder in den Mund und fragt dann erst: „Mitnehmen? Den
    Elefanten? Nach Hause? Ich habe Sie, glaube ich, nicht richtig
    verstanden?“

An seinen Augen kann man erkennen, dass er sich ebenfalls fragt, ob
Nadias Vater nicht irgendwas mit dem Kopf hat... aber der Vater beeilt sich,
ihm zu erklären, worum es geht: seine einzige Tochter, Nadia, ist an etwas
Merkwürdigem erkrankt, das nicht einmal die Ärzte richtig verstehen. Seit
einem Monat schon liegt sie im Bett, magert ab, wird mit jedem Tag
schwächer und schwächer, interessiert sich für nichts, langweilt sich und
schwindet langsam dahin. Der Doktor hat angeordnet, sie zu amüsieren,
aber nichts kann sie begeistern; alle Wünsche sollen ihr erfüllt werden,
aber sie will nichts haben. Nur heute hatte sie Lust, einen lebenden
Elefanten zu sehen. Das sollte doch nicht unmöglich sein?

Und mit zitternder Stimme, den Deutschen beim Mantelknopf packend, fügt
er hinzu: „Also... natürlich hoffe ich, dass meine Tochter wieder gesund
    wird. Aber... verhüte Gott... wenn diese Krankheit plötzlich böse endete...
    wenn mein Mädchen plötzlich stürbe?... Bedenken Sie doch bloß: den
    Rest meines Lebens würde mich der Gedanke quälen, ihren letzten
    Wunsch nicht erfüllt zu haben!...“

Der Deutsche verdüstert sich und kratzt sich beim Nachdenken mit dem
kleinen Finger die linke Augenbraue. Dann fragt er: „Hmm... und wie alt
    ist ihr Töchterchen?“
-  „Sechs“.
-  „Hmm... meine Lise ist auch sechs. Hmm... aber Sie können sich
    vorstellen, dass das nicht billig wird? Wir müssen den Elefanten in der
    Nacht hinführen, und erst in der nächsten kann er zurück. Tagsüber geht
    das auf gar keinen Fall, das gibt einen Menschenauflauf, einen Skandal.
    Am Ende verliere ich so einen ganzen Tag, und Sie müssten mir die
    Ausfälle ersetzen“.
-  „Natürlich, natürlich... machen Sie sich darüber keine Sorgen...“
-  „Und dann: ist das überhaupt von der Polizei erlaubt, einen Elefanten
    in eine Wohnung zu bringen?“
-  „Hab ich schon geregelt. Ist erlaubt“.
-  „Und noch eine Frage: erlaubt denn der Hausbesitzer einen Elefanten?“
-  „Erlaubt er, das bin ich nämlich selbst“.
-  „Aha. Umso besser. Und noch eine Frage: in welcher Etage wohnen
    Sie denn?“
-  „In der ersten“.
-  „Hmm... das ist aber nicht so schön... verfügen Sie denn in Ihrer Immobilie
    über ein breites Treppenhaus, hohe Wände, große Zimmer, breite
    Türen und einen tragfähigen Fußboden? Weil, mein Tommi verfügt nämlich
    über eine Höhe von mehr als 2 Meter dreißig, und einer Länge von
    2 Meter neunzig. Außerdem wiegt er 1 Tonne und 830 Kilogramm.

Nadias Vater überlegt jetzt doch einen Moment.
-  „Wissen Sie was?“ spricht er, „Lassen Sie uns doch gleich zu mir fahren
    und an Ort und Stelle alles untersuchen. Wenn es sein muss, lasse ich
    die Wände durchbrechen“.
-  „Das hört sich gut an!“ ist der Menageriebesitzer einverstanden.

V

Mitten in der Nacht führt man den Elefanten auf Besuch zum kranken
Mädchen.
Unter einem weißen Umhang schreitet er wichtigtuerisch in der Straßenmitte
und wackelt mit dem Kopf, seinen Rüssel mal ausrollend, mal wieder
einrollend. Obwohl es schon spät ist, hat sich eine große Menge um ihn
versammelt. Doch der Elefant schenkt ihr keine Beachtung: jeden Tag sieht
er hunderte von Leuten in der Menagerie. Nur einmal wird er ein wenig
ärgerlich. Irgendein Straßenjunge schlich sich heran und fing an, zum
Vergnügen der Gaffer, zwischen seinen Füßen Faxen zu machen. Da zieht
der Elefant dem Jungen ganz ruhig mit dem Rüssel die Mütze vom Kopf und
wirft sie über den nächsten Zaun, der oben mit Stacheldraht besetzt ist.
Ein Polizist geht durch die Menge und redet auf sie ein: „Meine Herrschaften,
   bitte gehen Sie doch auseinander. Was glauben Sie denn, hier Ungewöhn-
   liches zu entdecken? Ich muss mich doch sehr wundern! Haben Sie denn
   noch nie einen Elefanten auf der Straße gesehen?“

Sie kommen zum Haus. Vom Hauseingang an, und den ganzen Pfad des
Elefanten, bis hin zum Esszimmer, stehen alle Türen sperrangelweit offen,
wozu man gezwungen war, mit dem Hammer ihre Riegel abzuschlagen.
Genau wie an dem Tag, als man die wundertätige Ikone ins Haus getragen hatte.

Aber vor der Treppe hält der Elefant aus Nervosität an und bleibt störrisch.
-  „Wir müssen ihm eine Leckerei geben...“ sagt der Deutsche, „ein süßes
    Brötchen oder sowas... na los, Tommi, hüh! Tommi!“

Schnell springt Nadias Vater zur benachbarten Bäckerei und kauft eine
riesige, runde Pistazientorte. Der Elefant macht Anstalten, sie sofort im
Ganzen und mitsamt der Kartonverpackung hinunterzuschlucken, der
Deutsche reicht ihm jedoch bloß ein Viertel. Die Torte ist ganz nach Tommis
Geschmack, und er streckt den Rüssel  nach dem zweiten Happen aus.
Aber der Deutsche erweist sich als gewitzter. Die Süßigkeit festhaltend, steigt
er langsam die Treppe hinauf, Stufe für Stufe, und der Elefant folgt ihm,
mit ausgestrecktem Rüssel und gespreizten Ohren, notgedrungen nach.
Auf dem Treppenabsatz erhält er das zweite Stück.

Auf diese Art und Weise führt man ihn bis ins Esszimmer, aus dem man
vorher alle Möbel entfernt und den Fußboden dicht mit Heu bedeckt hat...
Man bindet den Elefanten mit einem Fuß an den Ring, der im Fußboden
angeschraubt wurde. Vor ihn hin legt man frische Wurzeln, Kohl und Rüben.
Der Deutsche lässt sich auf dem Sofa nebenan nieder. Die Lichter werden
gelöscht, und alle legen sich schlafen.

VI

Am nächsten Tag ist es kaum hell, da ist das Mädchen schon wach und fragt
zuallererst: „Was ist mit dem Elefanten? Ist er gekommen?“
-  „Ist da“, antwortet die Mutter, „aber er hat angeordnet, dass sich Nadia
    zuerst wäscht und dann ein weichgekochtes Ei und heiße Milch zu sich
    nimmt“.
-  „Und ist er nett?“
-  „Natürlich ist er nett. Nun ess erst, Kindchen, gleich gehen wir zu ihm“.
-  „Und ist er auch lustig?“
-  „Geht so. Zieh das warme Jäckchen an“.

Schnell ist das Ei aufgegessen und die Milch ausgetrunken. Nadia setzen
sie in die Karre, in der sie gefahren wurde, als sie noch nicht richtig laufen
konnte, und schieben sie ins Esszimmer.
Der Elefant erweist sich als wesentlich größer, als sich Nadia beim

Angucken seiner Zeichnung vorgestellt hatte. Er ist nur ein kleines

bisschen niedriger als die Tür, und von der Länge her nimmt er das

halbe Zimmer ein.
Eine grobe Haut hat er, mit vielen Falten. Die Beine so dick wie Säulen.
Ein dünner Schwanz mit einer Art Staubwedel am Ende.

Viele Dellen am Kopf. Riesige, blätterförmige Ohren, die schlaff

nach unten hängen.
Die Augen sind total winzig, aber klug und gutherzig.
Die Stoßzähne wurden abgesägt. Der Rüssel sieht genau aus wie

eine Schlange und endet in zwei Nasenlöchern mit einem beweglichen,

flexiblen Finger dazwischen.

Streckte der Elefant den Rüssel in seiner ganzen Länge aus,

würde dieser bestimmt bis zum Fenster reichen.

Erschrocken ist das Mädchen gar nicht. Nur verblüfft über die ungeheure
Mächtigkeit des Tieres. Dafür quiekt seine Njanja, die sechzigjährige Polja,
vor Angst laut auf.

Der Besitzer des Elefanten, der Deutsche, tritt zur Karre und begrüßt das
Mädchen: „Einen schönen guten Morgen, gnädiges Fräulein. Bitte haben
    sie keine Angst. Tommi ist sehr gutmütig und mag Kinder“.

Das Mädchen reicht ihm seine weiße, blasse Hand: „Guten Tag, wie
    geht es Ihnen?“ erwidert sie, „Kein bisschen fürchte ich mich. Und wie
    heißt er?“
-  „Tommi“.
-  „Guten Tag, Tommi“, sagt das Mädchen und verbeugt sich mit dem Kopf.
    Weil der Elefant dermaßen groß ist, traut es sich nicht, ihn zu duzen:
    „Haben Sie gut geschlafen?“

Sie reicht auch ihm ihre Hand. Vorsichtig nimmt der Elefant sie und
drückt ihre feinen Fingerchen mit seinem kräftigen, flexiblen Finger und
geht hierbei wesentlich zarter zu Werke, als Doktor Michail Petrowitsch.
Dazu wackelt er mit dem Kopf und seine Augen ziehen sich zusammen,
als lachten sie.
-  „Er versteht doch alles, oder?“ fragt sie den Deutschen.
-  „Oh, absolut alles, gnädiges Fräulein!“
-  „Nur dass er nicht spricht?“
-  „Genau, nur dass er nicht spricht. Weißt du, ich habe auch eine Tochter,
    genauso klein wie du. Lisa heißt sie. Tommi ist ein guter, ein sehr guter
    Freund von ihr“.
-  „Und Sie, Tommi, möchten Sie jetzt Ihren Tee trinken?“

Wieder streckt der Elefant seinen Rüssel aus und pustet seinen starken,
warmen Atem direkt in das Gesicht des Mädchens, dass dessen feine
Haare auf dem Kopf nach allen Seiten fliegen.

Nadia kichert und klatscht in die Hände, auch der Deutsche lacht tief und
dunkel. Er ist genauso groß, dick und gutmütig, wie sein Elefant, und Nadia

scheint, dass sie einander sehr ähnlich sind. Vielleicht Verwandte?

-  „Nein, Tee trinkt er nicht, gnädiges Fräulein. Aber gesüßtes Wasser: mit
    Vergnügen. Und Brötchen liebt er“.

Man bringt ein Tablett mit Brötchen, und das Mädchen bewirtet den
Elefanten. Geschickt ergreift er ein Brötchen mit seinem Finger und schiebt
es, den Rüssel eindrehend, irgendwo unter seinen Kopf, dorthin, wo sich
seine lustige, dreieckige und zottige Unterlippe bewegt. Man hört, wie das
Brötchen knirschend auf seiner trockenen Haut schrappelt. Das gleiche
vollführt er mit dem nächsten Brötchen, und dem dritten, und dem vierten,
um beim fünften zum Zeichen seiner Dankbarkeit mit dem Kopf zu nicken,
wobei sich seine Augen vor Behagen noch weiter zusammen zusammen-
ziehen. Das Mädchen lacht vor Freude.

Als alle Brötchen verspeist sind, macht Nadia den Elefanten mit ihren
Puppen bekannt: „Schauen Sie, Tommi, diese aufgebrezelte Puppe - das ist
    Sonja. Ein sehr braves Mädchen, nur ein bisschen launisch, und ihre
    Suppe isst sie nicht. Und dies ist Natascha - Sonjas Tochter. Sie
    ist gerade in die Schule gekommen und kennt schon fast alle Buchstaben.
    Und diese da - das ist Matrjoschka, meine allererste Puppe. Siehst du,
    die Nase ist ab, der Kopf geklebt und Haare hat sie auch keine mehr.
    Trotzdem kann man die Alten nicht einfach aus dem Haus jagen. Stimmts,
    Tommi? Früher war sie Sonjas Mutter, jetzt ist sie unsere Köchin. Aber
     jetzt lassen Sie uns doch spielen, Tommi: Sie sind der Papa, ich die
    Mama, und dies sind unsere Kinder“.

Tommi ist einverstanden. Er lächelt, greift sich Matrjoschka am Hals und
schiebt sie sich in den Mund. Nur zum Spaß natürlich. Ein paar Mal auf ihr
herumkauend, legt er sie dem Mädchen wieder auf die Knie, wiewohl ein
wenig nass und eingedrückt.

Dann zeigt ihm Nadia ein großes Bilderbuch und erklärt: „Das ist ein Pferd,
    das ein Kanarienvogel, dies ein Gewehr... hier ist ein Vogelkäfig, dort sind
    Eimer, Spiegel, Ofen, Schaufel und eine Krähe... und hier, schauen Sie,
    ein Elefant! Stimmt, überhaupt nicht ähnlich. Können Elefanten denn
    so klein sein, Tommi?“

Tommi findet, dass derart kleine Elefanten nirgends auf der Welt existieren.

Überhaupt gefällt ihm das ganze Bild nicht.

Mit seinem Finger greift er an den Rand der Seite und blättert sie um.

Die Stunde des Mittagessens ist gekommen, aber das Mädchen lässt sich
absolut nicht vom Elefanten wegziehen. Der Deutsche kommt ihr zu Hilfe:
    „Wenn Sie erlauben, organisiere ich das. Sie können zusammen essen“.

Er weist den Elefanten an, sich zu setzen, der wohlerzogen gehorcht. Sein
Hinsetzen lässt den Fußboden der gesamten Wohnung erzittern und das
Geschirr im Schrank klappern, den unteren Mietern rieseln Stücke vom
Deckenputz auf den Kopf. Ihm gegenüber nimmt das Mädchen Platz,
zwischen sie wird der Tisch gestellt. Dem Elefanten bindet man eine
Tischdecke um den Hals und die neuen Freunde beginnen, zu speisen.
Dem Mädchen werden eine Hühnersuppe sowie Frikadellen serviert, der
Elefant ist Vegetarier und erhält verschiedene Gemüse und Salat.
Das Mädchen bekommt einen winzigen Schluck Sherry, der Elefant: warmes
Wasser mit einem großen Glas Rum, und mit Behagen saugt er das Getränk
mit Hilfe seines Rüssels aus der Waschschüssel. Hinterher gibt es das
Dessert: eine Tasse Kakao für das Mädchen und für den Elefanten eine
Torte, diesmal mit Nüssen. Der Deutsche sitzt währenddessen mit Papa
im Wohnzimmer und läßt es sich genauso gut gehen, wie sein Elefant.
Als Getränk süffelt er Bier, allerdings in größeren Mengen als sein

Schützling nebenan.

Nach dem Mittag erscheinen verschiedene Bekannte Papas, die schon im
Flur vorgewarnt werden, damit sie vor dem Elefanten nicht erschrecken.
Anfangs wollen sie das nicht glauben, aber dann, als sie Tommi sehen,
bleiben sie stehen und pressen sich an die Tür.

-  „Nur keine Angst, der tut nichts!“ beruhigt sie das Mädchen.

Aber die Bekannten beeilen sich, ins Wohnzimmer zu kommen und müssen,
kaum dass sie fünf Minuten gesessen haben, dringend wieder weg.

Der Abend kommt, es ist schon spät. Zeit für das Mädchen, schlafen zu
gehen. Aber vom Elefanten bekommt man sie nicht weg. So schläft sie
neben ihm ein, und schlafend fährt man sie ins Kinderzimmer. Sie spürt
gar nicht mehr, wie man sie auszieht.

In dieser Nacht träumt Nadia, wie sie Tommi heiratet und sie viele Kinder
haben, kleine, fröhliche Elefantenbabies. Der Elefant, den man nachts in
die Menagerie zurückgeführt hat, träumt ebenfalls von dem lieben,
anschmiegsamen Mädchen. Außerdem von mächtigen Torten, mit Nüssen

und Pistazien, riesig wie ein Torbogen...

Am nächsten Morgen wacht das Mädchen ganz munter auf, frisch und
schreit, wie früher, als sie noch gesund war, durch das ganze Haus, laut
und ungeduldig: „Mei-ne Mi-hilch!“

Den Ruf vernehmend, bekreuzigt sich die Mutter im Schlafzimmer.
Aber das Mädchen erinnert sich sofort an den gestrigen Tag und fragt:
   „Und der Elefant?“

Man erklärt ihr, dass der Elefant geschäftlich nach Hause musste, zudem
hätte er auch Kinder, die er keinesfalls allein lassen könne, er bitte, Nadia
seine Verehrung auszusprechen und lüde sie zu sich nach Hause ein,
sobald sie vollständig gesund sei.

Das Mädchen lächelt schelmisch: „Dann bestellt Tommi, ich sei schon
    wieder vollständig gesund!“