Auszüge Kapitel 10

Eine Offensive

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Im Mai attackierten die nördlichen Pribaltischen und die südlichen Ukrainischen Fronten. Letztere näherten sich bereits den Grenzen Polens, Ungarns und Rumäniens.

 

Unsere Stimmung war nahe an Begeisterung, der Glaube an den Sieg allgemein. Nachts wurden Artillerie und gepanzerte Einheiten an die Frontlinie verlegt. Sämtliche Telefonleitungen waren ununterbrochen belegt. Ich chiffrierte und übermittelte die Befehle Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3 usw.usw., dann die Antworten. Zum Essen war keine Zeit. Tagsüber allerdings, damit die Deutschen nichts ahnten, bestanden die telefonischen Mitteilungen aus lyrischen Ergüssen, fantastischen Erzählungen und herzenswärmendem Mat.

 

Meine Stimme war allen Telefonistinnen der Armee bekannt, und allen erklärte ich, halb im Spaß, halb im Ernst, meine Liebe. Natürlich waren diese Unterhaltungen öffentlich, jeder, der wollte, konnte sich dazuschalten und mithören. Nach den telefonischen Küssen folgte die telefonische Umarmung und dann, in liebevoller Beschreibung aller Details, der telefonische Sex, welcher dann allgemein kommentiert und bewertet wurde.

 

Morgens am 19. Mai beginnt die Artillerievorbereitung, die Granaten explodieren in den Schützengräben und auf den Unterständen der Deutschen und ebnen sie ein. Von unseren Bombern werden die feindlichen Befestigungswerke aus der Luft bombardiert.

 

Zu sechst, eine nach der anderen, fliegen die Sturmowik Iljuschin-2 über uns hinweg. Doch dann geschieht etwas Merkwürdiges: sowie sie über der dritten deutschen Linie ihre Bomben abgeworfen haben und beidrehen, explodieren sie und stürzen ab, eine nach der anderen. Nur eine von sechs kehrt zurück.

 

Bei Beginn des Artilleriebombardements haben wir unseren unterirdischen Lkw verlassen, stehen aufrecht oben auf dem Kamm und beobachten ungläubig diese katastrophale Luftattacke.

 

Nach zwei Stunden erfolgt der Angriff unserer Infanteristen. Die ersten beiden Linien durchbrechen sie, vor der dritten bleiben sie im Feuer liegen und können sich nicht erheben. Deutsche Maschinengewehre und Geschütze treten in Aktion, und zwar von völlig anderen Positionen aus als denen, die von unseren Flugzeugen bombardiert worden waren. Ein erbarmungsloses Kreuzfeuer aus völlig unbeschädigten deutschen Stellungen. Feindliche Bomber tauchen auf, und tausende unserer Soldaten sterben bei dem Versuch, zu den Ausgangsstellungen zurückzukehren. In allen Leitungen und Funkgesprächen, auf dem Erdboden, in Schützengräben, in Stabsbunkern und den Kabinen unserer abgeschossenen Flugzeuge - ein verzweifeltes und alle Anordnungen durcheinanderbringendes Gefluche, vermischt mit nervösen und gehetzten Schreien der Telefonisten und Funker in den Stäben.

 

Der Angriff ist zur Gänze gescheitert. Mehrere Tausend Tote. Die Verwundeten kriechen in ihre Gräben zurück. Einen Gegenangriff unternehmen die Deutschen nicht. Vor meinen Augen brennen unsere abgeschossenen Panzer und Selbstfahrlafetten aus.

 

Auf der Minsker Chaussee und allen Feldwegen nähern sich unserer Front daraufhin ab 20 Uhr neue Panzer- und motorisierte Divisionen.

Ein erneuter Angriff am 29. Mai scheitert ebenfalls. Nicht einmal die dritte deutsche Linie wird erreicht, wir erleiden riesige Verluste.

 

Am nächsten Tag wird vor den angetretenen Truppen ein an Tschernjachowskij, unseren Kommandierenden Marschall, adressiertes, absonderliches Schreiben des Hauptquartiers verlesen, dass die 3. Belorussische Front Vertrauen und Erwartungen von Partei und Volk enttäuscht habe und verpflichtet sei, ihre Schuld vor der Heimat mit Blut zu sühnen.

 

Ich bin kein Stratege, ich habe auf dem Beobachtungspunkt gesessen und mit eigenen Augen gesehen, wie tapfer und augenscheinlich auch fähig unsere Soldaten und Offiziere waren, wie furchtlos und aufopfernd, den Tod ihrer Freunde nicht achtend, unsere Infanterie wieder und wieder zum Sturm auf die deutschen Objekte ansetzte, wie aussichtslos unsere Piloten starben, und die Infamie und Niederträchtigkeit der Stawka-Formulierung stand mir klar vor Augen. Es war absolut offensichtlich, dass unsere Aufklärung vollkommen versagt hatte, unsere Piloten bei der Bombardierung falscher Ziele abgeschossen wurden und dass Ausrüstung und Anzahl der deutschen Truppen in unserem Abschnitt der unseren weit überlegen war. Somit war der erste, wie auch der zweite Angriffsbefehl ein Verbrechen, und ebenso kriminell war der Versuch des Hauptquartiers Stalins, die Unfähigkeit von Generälen und Aufklärung auf unsere ausgezeichneten Infanteristen, Artilleristen, Panzerfahrer und Fernmeldesoldaten abzuwälzen, auf die toten und die überlebenden Helden.

 

Mit Sicherheit war das auch Stalin, und Shukow, und auch Tschernjachowski bewusst, nachdem sie einige zehntausend Menschen haben krepieren lassen.

Aber im Rahmen der allgemeinen Sommeroffensive 1944 konnte unser Zurückbleiben, zumal in der wichtigsten Angriffsrichtung, nicht akzeptiert werden und man wollte den Fehler korrigieren, nicht durch Blut und Tod der geschwächten Einheiten, sondern durch taktische und strategische Maßnahmen des Stabes des Oberkommandierenden.

So geschieht es auch.

Jede Nacht werden über die Minsker Chaussee und alle parallel verlaufenden Straßen und Feldwege frische Korps, Divisionen und Brigaden aus der Reserve

des Oberkommandos herangeführt, Tausende von Panzern und Geschützen.

 

In Kolonnen rollen Katjuschas heran, in endlosen Reihen auf amerikanischen Dodges und Studebakers zehntausende mit MPs, MGs und Granatwerfern ausgerüstete Soldaten, Nachschub und Verpflegung, Brot, Grütze, Fett und amerikanisches Büchsenfleisch. Dann erstirbt das pausenlose nächtliche Gehupe, und wie viel Mühe ich mir auf meiner Anhöhe auch gebe, tagsüber ist von allem nichts zu entdecken.

Am 24. Juni beginnt die neue Offensive.

Ich sitze in meinem eingegrabenen Wagen über Karten von Smolensk bis Königsberg. Empfange und verschicke kurzgefasste, mir unverständliche Telegramme und spüre, dass sich das Scheitern dieses Mal nicht wiederholen wird, dass vor uns Berlin und Königsberg liegen.

Der Angriff wird ein überwältigender Erfolg.

Die deutschen Armeen werden eingeschlossen, und wir gehen vor und erreichen Ostpreußen. Wir marschierten vorwärts, während einige zehntausend eingekesselte und gefangengenomme deutsche Soldaten und Offiziere durch Moskau geführt werden, über den Roten Platz.