Kapitel 5 -9: Königsberg - Hamburg und zurück

Kapitel 5

Wo liegt Hamburg?

-  „Glascha! Wo sind denn unsere Kissen...und die Reisetasche?“ ruft
    Nikolai Iwanowitsch, als sie sich in ihrem Waggon befinden.
-  „Du liebe Güte, alles geklaut! Tatsächlich geklaut?“
    Glafira Semjonowna schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: „Ent-
    weder geklaut, oder wir sitzen nicht im gleichen Waggon. Wie es aussieht,
    ist dies hier ein anderer Wagen...alles so rötlich, aber bei uns waren graue
    Bezüge...komm, steigen wir schnell aus!“

Nikolai Iwanowitsch springt schnell zu der von außen verschlossenen Tür
des Coupes, öffnet das Fenster und beginnt zu rufen: „Ey, Xerr...
    Xerr Konduktop...Отворите... Мы не в тот вагон попали!“

Der Zug beginnt aber bereits, sich zu bewegen und nimmt zügig

Geschwindigkeit auf, dem Rufen schenkt niemand Beachtung.

-  „Also sowas... was machen wir denn ohne Kissen und die Reisetasche,
    das sind doch die Brötchen und der Kaviar drin... können uns nicht
    hinlegen, und zu essen haben wir auch nichts, die zwei Koteletts sind
    so klein, die passen beide auf eine Hand...“ jammert Glafira Semjonowna.
-  „Keine Aufregung, beim nächsten Halt setzen wir uns einfach wieder in
    unseren Waggon“, versucht Nikolai Iwanowitsch sie zu beruhigen.
-  „Umsetzen! Wie willst du das denn machen, wenn wir nur zwei Minuten
    halten - bist gerade ausgestiegen, fährt der Zug schon wieder los... und
    wie willst du den Waggon im Dunkeln finden...?“

Irgendein Deutscher mit Filzhut, mit ihnen im Coupe sitzend, nimmt ihre
Unruhe wahr und fragt etwas auf Deutsch, aber sie verstehen nichts und
reißen nur die Augen auf. Der Deutsche wiederholt seine Frage und setzt
noch das Wort „Hamburg“ hinzu.

-  „Warte mal...ich glaube, wir sitzen sogar im falschen Zug. Der Deutsche
    hier erzählt etwas von Gamburg“. Aufgeregt wendet sich Glafira Semjo-
    nowna an ihren Mann.
-  „Aber wirklich...was du wieder hörst! Frag ihn doch, wohin wir fahren.
   Vielleicht kannst du wenigstens mal das in Erfahrung bringen, dann

   hast du immerhin nicht völlig umsonst in der Pension studiert“.

Der Schrecken gibt Glafira Semjonowna Mut. Sie überlegt, legt sich einige
deutsche Phrasen zurecht und stellt folgende Frage: „In Berlin wir fahren?
   Berlin этот вагон?“
-  „Nein Madame, wir fahren nach Hamburg“.
-  „Как нах Gamburg? A Berlin?“
Verneinend schüttelt der Deutsche den Kopf und murmelt wieder etwas auf
Deutsch.


-  „Eindeutig, wir sitzen im falschen Zug“. Glafira Semjonowna kommen
   beinahe die Tränen, als sie dies feststellt. Nikolai Iwanowitsch kratzt sich
   enttäuscht am Hinterkopf: „Alles durcheinander! Ein Elend ohne
   Sprache!“ bricht es aus ihm heraus.
-  „Nach Gamburg fahren wir, nach Gamburg...“ wiederholt Glafira

    Semjonowna.
-  „Frag doch bei dem Deutschen mal genauer, kann ja sein, dass der Zug
    nach Gamburg fährt, aber vielleicht liegt Berlin auf dem Weg?“
-  „Wie soll ich fragen, wenn ich nicht kann? Frag doch selbst!“
-  „Wozu warst du überhaupt in deiner Pension?“
-  „Und was hast du eigentlich gelernt bei deinen deutschen und baltischen
    Siedlern?“
-  „Ich hab im Laden gelernt, beim Verkaufen von Segeltuch, Eisen und
    Reeps. Für mich hat niemand, wie für gewisse Damen, Geld fürs Internat
    gezahlt. Rechnen kann ich auf Deutsch, alkoholische Wörter kenn ich“.

Langsam geraten die Eheleute in Streit, fuchteln schon mit den Händen,

aber dann spuckt Nikolai Iwanowitsch aus, schiebt seine Frau zur Seite,

setzt sich neben den Deutschen und zeigt ihm seine Fahrkarten.

Der guckt sie sich an und schüttelt wieder mit dem Kopf.

-   „Nein, das ist nicht richtig. Die Fahrkarten sind nach Berlin,

     aber wir fahren nach Hamburg“.
-  „Да Berlin-то будет по дороге, или нет? Вот что я вас спрашиваю!“  
    schreit aufgeregt Nikolai Iwanowitsch, „Ну, может быть, так сначала  
    Berlin,  a нахер Gamburg, или сначала Gamburg, a нахер Berlin. Них
    verschteyn?“
-  „Ach so, ich verstehe...Berlin ist dort und Hamburg ist dort. Von Dierschau
    gehen zwei Zweige...“, der Deutsche zeigt mit den Händen in entgegen-
    gesetzte Richtungen.
-  „Na Glückwunsch. Nicht mal in die gleiche Richtung fahren wir..“ vom
   Deutschen abrückend, versteht Nikolai Iwanowitsch, dass Berlin nicht auf
   dem Weg nach Hamburg liegt.-  „Und alles wegen dir“, bemerkt er bitter
    zu Glafira, „wegen deiner Toilette...’Ich muss mich zurechtmachen, muss
    mich zurechtmachen'...  da siehst du, was du gemacht hast, jetzt fahren
    wir nach Gamburg statt  nach Berlin...“
-  „Nach sechs oder sieben Stunden im Zug, ohne einmal aufzustehen,
    muss man ja wohl auf die Toilette...“ verteidigt sich Glafira.
-  „Wenn du das nicht aushältst, dann fahr doch nicht ins Ausland... die
    deutschen Frauen schaffen es ja auch: weswegen denn? Arbeitet die
    Natur bei ihnen anders?“
-  „Natürlich. Die sind die hiesigen Verhältnisse gewöhnt, aber ich nicht“.
-  „Solltest dich aber gewöhnen, wo wir jetzt im Ausland sind. Nein, wir
    müssen was essen, aber sie - auf die Damentoilette, und ich muss
    Hungers leiden... wie soll man denn von diesen Koteletts satt werden,
    wenn man seit dem Morgen nichts gegessen hat... wahrscheinlich kriegen
    wir bis Gamburg nichts weiter, und wo dieses verdammte Gamburg liegt,
    weiß der Teufel, wahrscheinlich am Arsch der Welt...“

Glafira Semjonowna sitzt einfach da, betrachtet die in ihr Taschentuch

eingewickelten Koteletts und weint.
-   „Warum müssen wir eigentlich bis nach Gamburg?“ fragt sie, „wir können
     doch am ersten Bahnhof wieder aussteigen“.
-   „Weiß der Teufel, ob’s überhaupt noch eine Station auf dem Wege gibt
     oder ob sie uns hier herauslassen. Schau dir an, was für eine idiotische
     Ordnung bei denen herrscht, kann gut sein, die lassen dich bis Hamburg
     nicht raus: hast den vollen Preis bezahlt,  jetzt fahr auch“.
-   „Dann bitten wir eben, dass sie uns rauslassen. Wir sagen, wir sind

     irrtümlich in diesen Zug geraten“.
-   „Wir bitten, wir fragen... wer soll denn bitteschön sprechen, auf Deutsch,
     du hast keinen blassen Schimmer und ich noch weniger! Nach Gamburg!
     Weißt du, was mich dieses Gamburg kann?...“   ereifert sich Nikolai Iwa-
     nowitsch, aber als er auf seine weinende Frau sieht, senkt er seine
     Stimme und fügt hinzu: „Nun heul nicht, wisch die Tränen mit dem
     Taschentuch ab...“
-   „Wie soll ich das denn machen, da sind doch die Koteletts drin! Alles
     voller Soße!“
-   „Dann nimm aus der Reisetasche ein sauberes, das ist unschön, hier mit
     Tränen zu sitzen, der Deutsche guckt schon“.
-  „Die Tasche steht im anderen Zug“.
-  „Verdammt...also, ich bin schon ganz durcheinander. Das alles ist eine
    Strafe. Hier, nimm meines...“
-  „Danke, hier der Zipfel ist noch sauber...“

Der Schaffner kommt, die Fahrkarten zu kontrollieren, bespricht sich kurz

mit dem deutschen Fahrgast und erklärt eine Menge auf Deutsch, schließlich

lauter werdend, fast schreiend: „Weg, weg! Sie müssen bald umsteigen

    und die Strafe  zahlen!“
-  „Quatscht was von einer Strafe, Strafe will er haben“, murmelt Nikolai
   Iwanowitsch zu seiner Frau und wendet sich dann an den Schaffner:
   „Дa геен-то всё таки можно? Из вагона-то можно геен?“
-  „Kak man нa станций weggeen?“ verbessert ihn seine Frau.
-  „Ja, ja, natürlich, bald kommt die Station und Sie müssen fort...“
-  „Was sagt er?“ fragt interessiert Nikolai Iwanowitsch.
-  „Gleich käme eine Station und wir müssten aussteigen“.
-  „Na also, Gottseidank“.

Endlich wird der Zug langsamer und hält, unsere Eheleute steigen nicht, sie
springen aus dem Waggon wie aus einem Gefängnis. Der Kondukteur über-
gibt sie dem Bahnhofsvorsteher, pfeift, springt aufs Trittbrett und der Zug
setzt sich wieder in Bewegung.

Kapitel 6

Wac maxen?

Nikolai Iwanowitsch und Glafira Semjonowna stehen vor dem Bahnhofsvor-
steher, zeigen ihm ihre Fahrkarten und erwarten ihr Urteil.

Der Vorsteher, dünn und hager wie eine Gerte, mit roter Mütze und Zigarre
zwischen den Zähnen, verfällt in tiefes Nachdenken, als er das ihm

hingehaltene Billetbüchlein mit dem Zielort Paris begutachtet.
-  „Bite, sagensi, was махен? Was махен?“ diesmal ist Glafira Semjonowna
    an der Reihe.
-  „Aha! Fängt an, Deutsch zu sprechen! Not macht erfinderisch“ entfährt es
    Nikolai Iwanowitsch, und mit einer gewissen Bösartigkeit betrachtet er
    seine Ehefrau.
-  „Ich habe nur was gesagt, weil es um alltägliche Haushaltswörter geht, da
    kenne ich mich aus - Was махен? Was махен?“ wiederholt sie noch
    mehrmals dem Beamten gegenüber.

Der versteht die Frage durchaus, erhebt wichtig seinen Kopf und beginnt

auf Deutsch zu erklären, detailliert, belehrend und mit Pausen, erwähnt

mehrfach Königsberg, Berlin, Dirschau sowie das Wort „Schnellzug“ und

begleitet das Ganze mit illustrierenden Gesten.

Glafira Semjonowna rümpft zwar die Nase über den Tabaksqualm,

der ihr direkt ins Gesicht geblasen wird, ist aber ganz Ohr und versucht,

kein Wort zu verpassen.
-  „Alles verstanden?“ fragt sie Nikolai Iwanowitsch.
-  „Selbstverständlich, sind ganz gewöhnliche Wörter. Strafe, neue

   Fahrkarten kaufen und zurück in dieses verfluchte Königsberg fahren“.
-  „Und wann, wann geht dieser Zug nach Königsberg? Frag ihn auf Deutsch,
    du kannst es ja“.
-  „Wi vil Ur поезд in Kёnigsberg?“
-  „In zwei Stunden, Madame“.
-  „Was hat er gesagt?“
-  „Weiß nicht. Wi vil Ur? Ur, Ur?“ wiederholt sie und zeigt auf ihre

    Armbanduhr.
-  „Um 10 Uhr, in zwei Stunden“.

Der Stationsvorsteher zieht seine Taschenuhr hervor und zeigt auf

die Ziffer zehn.
-  „In zwei Stunden können wir fahren? Ausgezeichnet! Monsieur, nehmen
   Sie Ihre Strafe und lassen Sie uns jetzt in Frieden“, ruft Nikolai Iwanowitsch
   hoch erfreut, holt mit einer Hand diverse Goldmünzen und silberne Mark-
   stücke aus der Manteltasche und hält sie dem Beamten hin: „Nehmen
   Sie, nehmen Sie, suchen Sie sich die passenden aus, und dann das Billet
   nach Kёnigsberg. Soviel Münzen Sie brauchen, soviel nehmen Sie“.
-  „Nemensi, nemensi Straf und fjür Billet, fjür zwey Billet“, wiederholt Glafira
   auf Deutsch, „wir wicen nixt ваш Geld. Nemensi...“

Auf dem ernsten Gesicht des Beamten erscheint ein Lächeln, er sucht sich
verschiedene Münzen heraus und setzt hinzu: „Wir haben hier einen Warte-

    und Speisensaal, in dem Sie etwas essen und trinken können“.

-  „Trinken?“ noch höher erfreut ergreift Nikolai Iwanowitsch die Hand des
    Bahnhofsvorstehers, „Lassen Sie uns doch etwas zusammen trinken,
    Mocjö, Bir trinken, Schnaps trinken...komensi trinken...Bir trinken...
    Obwohl Sie Deutscher sind, werde ich mit Ihnen trinken, mit Freude sogar,
    lange habe ich aufs Trinken gewartet. Gehen wir, gehen wir, sträuben Sie
    sich nicht... Нечего упираться-то, кomensi“, zieht er ihn Richtung Buffet.

Im Handumdrehen sitzt das Ehepaar mit dem Stationsvorsteher gemeinsam
an einem Tisch.
-  „Schnaps! Bier...zügig!“ kommandiert Nikolai Iwanowitsch.
-  „Бифштекс! Котлету!“ befiehlt Glafira Semjonowna, „und Te...Kaffe...
    бутерброды.... да побольше бутербродов, vil Buterbrodow...“  

Der Tisch füllt sich mit Speisen und Getränken: Kümmel erscheint und Bier,
es erscheinen Brote mit Käse und Schinken und Kaffee mit Sahne.

Der Stationsvorsteher sitzt da, als hätte er einen Stock verschluckt,

trinkt seinen Kümmel und nuckelt am Bierkrug mit dem unveränderlich

ernsten und würdevollen Gesichtsausdruck des deutschen Beamten.
-  „Der Wodka ist bei Ihnen reichlich süß, dieser Kümmel“ merkt Nikolai Iwa-
    nowitsch an, als er mit ihm anstößt, „ein Gläschen reicht eigentlich, auf ein
    zweites hat man schon keine Lust mehr. Gibt es bei Ihnen in Deutschland
    denn keinen einfachen russischen Wodka? Russisch Wodka? Neyn?
    Neyn? Russisch Wodka?“

Der Deutsche mumrmelt etwas Unverständliches und kippt sein Bier auf Ex.
-  „Encore! Человек - Mensch...encore zwey Bir!“ ruft Nikolai Iwanowitsch.

Die Gläser kommen, Nikolai Iwanowitsch trinkt seines auf einen Zug leer, der
Deutsche lächelt und tut es ihm nach.

„Ach, ich liebe das einfach“, ruft Nikolai Iwanowitsch aus und rückt, mit der
Absicht, ihn zu umarmen, näher zum Bahnhofsvorsteher, „ещё Bir trinken,
   ещё zwey Bir trinken“.

Dem widerspricht der Deutsche keineswegs, drückt die Hand Nikolai Iwano-
witschs und offeriert ihm eine Zigarre.

-  „Warte mal, ich möchte ihn fragen, was mit unseren Bettdecken und der
   Reisetasche ist, die mit dem anderen Zug abgefahren sind - bestimmt sind
   die nicht verschwunden“ stupst ihn Glafira Semjonowna an.
-  „Echt, kannst du das?“
-  „Ich probiers einfach, die Wörter sind ja nicht so kompliziert“.
-  „Streng dich an, Glafira, streng dich an...“.
-  „Sagensi bite, wo ist наши Sackvoyage и подушки? Мы Sackvoyage и
    подушки verloren. То-есть не verloren, nixt verloren, a наш Bagage в
    поезде остался... Bagage в Zug остался...“ wendet sie sich an den
    Deutschen, „nixt versteen?“

Und das Wunder geschieht - der Beamte versteht.
-  „Natürlich, Madame, ich verstehe, Sie sprechen von der Bagage, die jetzt
   von Königsberg nach Berlin unterwegs ist. Ihr Gepäck werden Sie in Berlin
   erhalten“, sagt er auf Deutsch, „man muss nur telegrafieren. Nein, nein,
   das geht nicht verloren“.

Und auch Glafira Semjonowna hat verstanden: „Wenn wir telegrafieren,
    bekommen wir unser Gepäck in Berlin zurück“ übersetzt sie ihrem Mann.
-  „Dann soll er doch telegrafieren, und wir trinken darauf mit ihm ein Fläsch-
    chen Madeira...Xerr, telegrafirensi, a я скажу danke и мы будем trinken,
    Madeira trinken...“
-  „Gern, mit Vergnügen“, der Deutsche nimmt das Geld entgegen, geht zum
Telegrafenbüro und kommt schon nach ein paar Minuten mit der Quittung
wieder: „So, jetzt brauchen Sie keine Angst mehr zu haben“ und klopft Niko-
lai Iwanowitsch auf die Schulter.
-  „Вот за это danke, tak danke! Человек, Mensch! Eyne Fljasche
   Madeira!“     ruft er, fragt aber vorsichtshalber „Trinken Madeira?“
-  „Aber natürlich, Kellner, bringen Sie...!
-  „Kellner - Kellner! Ich hatte vergessen, wie das auf Deutsch heißt! ...
    Kellner: Madeira!“

Der Madeira erscheint und verschwindet zügig, die Gesichter der Herren
röten sich, sie als angeheitert zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung.
Einer spricht Deutsch, einer Russisch, beide verstehen einander nicht,

ohne dass dies einer flüssigen Konversation Abbruch tut. Bei der Ankunft

des Zuges nach Königsberg klopfen sie sich auf dem Bahnsteig freundschaftlich
auf die Schultern. Als der Stationsvorsteher aber sieht, wie Nikolai Iwanowitsch

sich ihm in der Absicht naht, ihn zu umarmen und zu küssen, weicht er zurück,

und erst bei der endgültigen Verabschiedung, nachdem er die beiden
Russen in den Waggon gesetzt hat, lässt er es geschehen und ruft ihnen

beim Abschied noch zu: „Glückliche Reise!“

Der Zug setzt sich in Bewegung.

Kapitel 7

Schweinkind

Der Zug eilt Richtung Königsberg, wohin zurück der Bahnhofsvorsteher unser

Ehepaar, aus nicht nachvollziehbaren Gründen, geschickt hat, fuhr doch von
ebender Station, auf der sie mit ihm Bier und Madeira geschluckt hatten, ein
anderer Zug geradewegs nach Berlin. Offensichtlich lag doch irgendein Miss-
verständnis vor, und der Deutsche musste unsere Reisenden und ihre

Absichten nur unzureichend verstanden haben.

Nikolai Iwanowitsch sitzt in seinem Coupe und flucht: „Kёnigsberg, Kёnigs-
   berg...da hat er uns was Schönes eingebrockt... wenn ich schon im Grab
   liege, kriege ich noch Alpträume von Kёnigsberg, soll er dafür in der Hölle
   schmoren... außerdem ganz bestimmt eine jüdische Stadt“.
-  „Wie kommst du denn darauf?“
-  „Natürlich wegen “-berg“, alle Juden sind doch -berg: Rosenberg, Tuten-
    berg, Eisenberg, Tannenberg. Merkwürdig, dass ich von dieser auslän-
    dischen Stadt vorher noch nie etwas gehört habe, ist neu, was?“
-  „Eigentlich nicht, über sie wurden wir in der Pension sogar in Geografie
     unterrichtet“.
-  „Ach, und warum hast du mir vorher nichts von ihr erzählt? Da wäre ich
    gewarnt gewesen!“
-  „Was hätte ich denn erzählen sollen?“
-  „Na zum Beispiel, dass man normalerweise dort das Abendessen per
    Telegramm bestellt. Da habt ihr in Geografie bestimmt drüber gesprochen,
     wofür sollte die Geografie sonst gut sein? Geografie lernt man, wenn man
     verreisen will“.
-  „Über Abendessen und Telegramme wurde mit Sicherheit nicht gespro-
     chen, ich erinnere mich da ganz genau“.

Nikolai Iwanowitsch zieht eine Grimasse und knurrt: „Na, ein ausgezeichne-
   tes Internat muss das gewesen sein, vom Deutschen wurden nur die
   Haushaltswörter gelehrt, aus der Geografie die Abendessen weggelassen,
   die elementarsten Dinge habt ihr nicht gelernt“.
-  „Was regst du dich auf? Hast doch mit dem Deutschen gegessen und
    getrunken!“
-  „Gut, Gott gab uns Speise und eine Kleinigkeit zu trinken... aber trotzdem...
    naja,  war immerhin ein guter Mensch, dieser Stationsvorsteher, zwar ein

    Deutscher, aber ein guter Mensch.. haben zusammen gesessen, von Herz

    zu Herz geplaudert, und was getrunken...“  murmelt dankbar Nikolai Iwano-
   witsch, wird ruhiger, sagt nichts mehr und  beginnt, wegzudämmern.
   Der Madeira macht sich bemerkbar.

-  „Nun schlaf nicht, schlaf nicht!“ stößt ihn seine Frau an, „nicht, dass wir
   Königsberg verpassen, das wird doch nur ausgerufen, und dann müssen
   wir schnell aus dem Waggon springen...“
-  „Ich schlafe ja nicht, hab nur die Augen ein bisschen zugemacht.... hab
    geträumt, der Madeira sei alle...“
-  „Königsberg!“ ruft der Schaffner aus, als er ins Coupe guckt, um die Fahr-
karten zu kontrollieren, und wenige Minuten später hält der Zug im selben
erleuchteten Bahnhof mit demselben Restaurant, in dem die selben
Kellner, Bierkrüge verteilend, von Tisch zu Tisch eilen. Zuerst galt es jetzt
natürlich, in Erfahrung zu bringen, wann ihre Bahn nach Berlin ginge. Zu
diesem Zweck wendet sich unser Ehepaar an jeglichen uniformierten Bahn-
angestellten und jeglichen Kellner, präsentiert die Billets und fragt: „Berlin?
   Wi vil Ur? Berlin?“  

Anscheinend sollte der nächste Zug nach Berlin in zwei Stunden fahren,
wenigstens behaupteten das alle. Denjenigen, die ganz schnell irgendwo
hin müssen oder einfach nur mundfaul sind, drückt Nikolai Iwanowitsch
einen Griwennik in die Hand - „Das sind immerhin 10 Pfennig“, wie er sagt -
und ihre Lippen öffnen sich. Einige rieten allerdings davon ab, diesen Zug
zu nehmen, da man mehrere Male umsteigen müsse und verwiesen auf
den übernächsten, in fünf Stunden, aber selbstverständlich verstanden
unsere Eheleute davon kein Wort.

-  „Das ist ein Bummelzug, und bis Berlin müssen Sie zwei Mal umsteigen“,
   sagt ein Bahnangestellter, der vor seinem Bier sitzt, „Bummelzug, haben
   Sie verstanden?“
-  „Danke, danke...zwey Ur warten? Na, warten wir eben zwey Ur, auch
    schon egal. Da können wir ja in der Zwischenzeit noch ein Bierchen
    trinken...“, in einem Gefühl von Begeisterung zupft Nikolai Iwanowitsch den
    Angestellten am Arm, „Na Glascha, siehst du, wie gut ich mich schon
    auf Deutsch verständigen kann!  Nun, wir könnten wirklich  noch ein
    Bierchen trinken, hoffentlich ohne Telegramm“.

Sie setzen sich an einen Tisch und Nikolai Iwanowitsch ruft: „Kellner! Zwey
   Bir!“ Tatsächlich wird das Bier gebracht.
-  „Siehst du, ohne Telegramm, lass uns das doch mal mit Butterbroten
    probieren, vielleicht gibts die auch ohne Telegramm“.
-  „Ach, telegrafisch bestellen muss man nur Table d’Hôte, von der Karte
    nicht, das hat dir doch dieser Russe vorhin erklärt“.
-  „Egal, diesmal nehm ich Soljanka, furchtbaren Hunger habe ich.
    Wie heißt сёлянка на сковородке auf Deutsch?“
-  „Woher soll ich das denn wissen?“
-  „Na, dann frag ich eben selber. Kellner...Xabensi сёлянка на
    сковородке?“

Der guckt ihn nur an.
-  „Сёлянка“, wiederholt Nikolai Iwanowitsch, “Сборная сёлянка, капуста,
   ветчина, почки, дичина там всякая... Nixt verschteyn?  Versteht nichts.
   Glascha! Wie heißt denn gesottenes Ferkelchen mit Meerrettich? Frag
   wegen des Ferkelchens!“
Seine Frau überlegt.
-  „Wahrscheinlich weißt du das auch nicht?“
-  „Nun warte doch...gleich...свинья -  Schweyn, so, und Ferkelchen, also...“
-  „Ребёночка от Schweyn xabensi?“ - fragt forsch Nikolai Iwanowitsch.
-  „Schweinebraten? Aber sicher...“
-  „Да не брата нам надо, а дитю от Schweyn“.
-  „Дитя - auf Deutsch: Kind“, mischt sich Glafira ein, „Warte, ich frage.
    Schweynkind xabensi?“
-  „Moment, Moment...nur gekochtes Schweynkind will ich, холодный...“
-  „Kalt“ übersetzt Glafira.
-  „Да с сметаной и с хреном - xabensi?“
-  „Nein, mein Herr, tut mir leid“. Der Kellner kann kaum sein Lachen unter-
    drücken.
-  „Na siehst du, ohne Telegramm kannst du auch ums Verrecken nichts
    von der Karte kriegen, neyn heißt es einfach“, flüstert Nikolai Iwanowitsch
    seiner Frau zu, und laut: „Ну, порядки!“
-  „Dann gib ihm doch Trinkgeld, vielleicht funktionierts dann“, rät Glafira,
    „drück es ihm einfach in die Hand, 20 Pfennig müssten reichen..“
-  „Meinst du wirklich? Kellner, nemensi вот на тэ и bringensi Schweynkind.
    Бери, бери...Was ist denn...sieht er nicht? ...ist wahrscheinlich wegen des
    Telegrammes...“
Der Kellner nimmt das Geld nicht und sagt: „Entschuldigung der Herr, aber
   ich habe schon gesagt, dass wir das nicht haben...“

-  „Nimmt er nicht, Glascha, darf er wahrscheinlich nicht...“
-  „Dann frag doch nach Käsebroten, vielleicht gibts die?“ drängt Glafira,
   „ich will jetzt was essen!“
-  „A бутерброды можно без телеграммы?“
-  „Buterbrod mit Kese и mit Fleysch“, präzisiert Glafira.
-  „Aber ja, Madame“.
-  “Gottseidank“ ruft Nikolai Iwanowitsch aus und wendet sich seinem Bier zu,
    „stell dir vor, da kannst du bei uns auf dem Markt wem du willst erzählen,
    dass es in Deutschland eine Stadt gibt, in der es im Bahnhofsrestaurant
    Abendessen für Reisende nur nach Telegramm gibt, das glaubt dir keiner!“
    resümiert er das Vorgefallene und breitet fassungslos seine Arme aus.

 

Kapitel 8

Zweiter Versuch

Um 1 Uhr nachts soll der Zug, mit dem unser Ehepaar nach Berlin fahren
möchte, in Königsberg ankommen, aber bereits eine halbe Stunde vorher
machen sie sich bereit, um auf den Bahnsteig zu gehen.

-  „Nun beeil dich, Glascha, mach hin, das wir uns nicht verspäten. Weiß
    der Teufel, aber hier herrscht eine solche Ordnung, dass der Zug noch
    früher kommen kann. Stehen wir schon auf dem Bahnsteig, verpassen
    wir ihn nicht: der Zug kommt - wir springen hinein, nun mach zügig“,
   treibt Nikolai Iwanowitsch seine Ehefrau an.
  „Ich komm ja schon“, antwortet diese, sich erhebend, „aber nimm doch
    noch ein paar belegte Brote mit, wenn wir die  hier ohne Telegramm
    bekommen, wahrscheinlich müssen wir auf den anderen Bahnhöfen
    wieder telegrafisch bestellen, und wir haben dann nichts zum Früh-
    stücken...“
-  „Da hast du vollkommen Recht...“

Mit einem ganzen Paket belegter Brote beladen wartet unser Ehepaar

die halbe Stunde auf dem Bahnsteig. Punkt eins fährt der Zug ein,

Passagiere steigen aus, und sofort stürzen die Eheleute zu den Waggons

und besteigen das erste beste Coupe, in dem bereits ein dünner

und ein dicker Deutscher sitzen.

-  „Xerr...Bite“ wendet sich Nikolai Iwanowitsch an letzteren, „Was ist das?
    Berlin?“
-  „Ja, man kann auch nach Berlin fahren“ lautet die Antwort.
-  „Berlin? Na Gott sei gedankt“.

Der Kondukteur kontrolliert die Billette durchs Fenster und bemerkt zum
Ehepaar: „In Dirschau müssen Sie umsteigen“.
-  „Glascha! Was sagt er?“
-  „Weiß der Teufel, was..“ antwortet sie und stellt dem Schaffner die Frage:
   Berlin?“
-  „Ja, ja, aber in Dirschau müssen Sie umsteigen! Dieser Waggon fährt nach
   Danzig, sie müssen in Dirschau einen anderen Zug nach Berlin nehmen“.

Immerhin ‘Berlin’ verstehen sie.
-  „So, diesmal haben wir uns nicht geirrt“, nickt Nikolai Iwanowitsch seiner
   Frau beruhigt zu.

Ein Pfiff, ein Dampfertuten, los gehts.
-  „Wann wir wohl morgen in Berlin ankommen?“ fragt Glafira.
-  „Dann konzentrier dich mal und versuch, bei dem Dicken da zu fragen,
   der sieht verlässlicher aus“.

Glafira Semjonowna sammelt sich, bewegt einige Male lautlos die Lippen
und fragt. „Berlin wi vil Ur?“
-  „Das kann ich nicht ganz genau sagen, aber am Morgen sicher“.
-  „Was sagt er denn, Glascha?“

Glafira übersetzt das einzige verstandene Wort „Morgen“ nicht ins russische

Wort „morgens“, sondern mit 'завтра': „Morgen, sagt er, über die Uhrzeit
    nichts. Morgen: das wissen wir  selbst“.
-  „Dann frag nochmal nach. Oder warte, ich frage selbst. Berlin wi vil Ur?“

Der Deutsche zuckt die Schultern: „Um wieviel Uhr, weiß ich nicht, nur,
    morgen früh...“
-  „Tfuu, wieder nichts, wieder nur: Morgen“.

Der Schaffner, vor die gleiche Frage gestellt, antwortet ähnlich: „Ich fahre bis
   Danzig, das ist eine andere Linie, über Berlin weiß ich nichts, aber morgen
   früh bestimmt“.

Mehr als „Morgen“ bekommen unsere Eheleute nicht heraus, während der
Zug weiterdampft und für jeweils zwei Minuten an Bahnhöfen hält. Der
Schaffner hat ein Auge auf sie, schaut immer wieder herein und wiederholt
jedes Mal: „In Dirschau müssen Sie umsteigen!“ Das Ehepaar wiederholt
schon stumm die Worte „Dirschau“ und „umschteygen“, deren Bedeutung für

sie aber im Dunkeln liegt.

-  „Weiß der Teufel, was er da immer sagt“ fragt sich Nikolai Iwanowitsch
    hilflos und spuckt enttäuscht auf den Boden.
-  „Mach dir keine Sorgen“ unterbricht ihn Glafira Semjonowna im Versuch,
   ihn zu beruhigen, „alle haben gesagt, dass wir in einem berliner Waggon
   sitzen und nach Berlin fahren, lass sie doch jetzt erzählen, was sie wollen,
   solange wir nur glücklich ankommen“.
 Ihr Ehemann beruhigt sich letztlich und schläft ein.

Kapitel 9

Merkwürdiges Berlin

Einige Minuten später hält der Zug wieder. Mit einem Eisenhammer die

gusseisernen Räder abklopfend, eilt der Schaffner vorüber und öffnet

die Tür des Coupes. Auf dem Bahnsteig hört man ausrufen: ‘Dirschau,

Dirschau! Drei Minuten“.

Glafira Semjonowna sitzt am offenen Fenster und betrachtet sich
ruhig das Treiben auf dem Bahnsteig. Gepäcktrager hasten vorbei

mit Koffern oder kleinen Wägelchen mit Kisten und Ballen, das Publikum

eilt hierhin und dorthin, winkt mit Armen und Händen, an denen

Regenschirme baumeln oder ihr Handgepäck mit angebundenem

Reiseplaid. Nikolai Iwanowitsch schläft und schnarcht ab und an auf

eine liebliche und einschläfernde Weise.

Plötzlich kommt der Schaffner vorbei und ruft ganz aufgeregt, sich an Glafira
Semjonowna wendend: „Madame, was sitzen Sie denn noch hier? Das ist
   schon Dirschau!“
Glafira versteht nichts, rührt sich nicht und schaut ihn mit großen Augen an.
-  „Dirschau! Sie müssen umsteigen!“ wiederholt der Schaffner und versucht,
   sie mit Gesten aus dem Waggon zu treiben, „Schnell! Schnell! Sonst fahren
   Sie nach Danzig!“
-  „Kolja! Nun wach schon auf! Guck, was er sagt“. Glafira rüttelt aufge-
    schreckt an ihrem Ehemann. Die Augen öffnend, streckt er sich erst ein-
    mal, während der Schaffner „Schnell -Schnell“ ruft und zeigt, dass sie
    aussteigen müssen.
-  „Kolja, nun komm zu dir, er will, dass wir aussteigen, wahrscheinlich gibt
    es irgendeinen Schaden?“
-  „Woher soll ich das wissen“, gähnt Nikolai Iwanowitsch mit weit geöffnetem
    Mund, „da frag doch einfach, sprichst doch besser Deutsch als ich“.
-   „Wir in Berlin“ fragt Glafira den Kondukteur.
-  „Ja, ja, nach Berlin, ich weiß, aber Sie müssen hier umsteigen, Herr im
    Himmel, was machen Sie denn nur! Es bleibt nur noch eine halbe Minute!
    Raus hier!“
Wieder versucht er sich mit Gesten verständlich zu machen und schließlich
sogar, Nikolai Iwanowitsch an der Hand herauszuziehen.

-  „Weiß der Teufel, wohin er mich ziehen will“, sträubt sich Nikolai

   Iwanowitsch, „Xerr Konduktor, sind wir schon in Berlin?“
-  „Ja ja, Berlin, schneller, schneller!“
-  „Glascha! Stell dir vor, wir sind schon in Berlin! Na sowas!“ ruft Nikolai
   Iwanowitsch erfreut, vom Schaffner mittlerweile schon auf den Bahnsteig
   herausgezogen.
-  „Bist du verrückt?“
-  „Schneller, Madame, schneller, um Gottes Willen“.
-  „Nun komm schon, Glascha! Wer hätte das gedacht, morgen sollten wir
   ankommen, und jetzt mitten in der Nacht“.

Nun hüpft auch Glafira aus dem Waggon, fragt den Kondukteur aber

    sicherheitshalber noch einmal: „Berlin? Berlin?“
-  „Sicher, sowieso, geht in Ordnung... den Zug zeigt man Ihnen...“

Nikolai Iwanowitsch drückt ihm zwanzig Pfennige in die Hand: „Danke,

    очень danke, спасибо, что предупредили“.

Der Schaffner schlägt die Coupetüren zu, pfeift und der Zug fährt ab.

-  „Das ist ja unerwartet, schon in Berlin, schon angekommen“, murmelt
    Nikolai Iwanowitsch, „alle haben gesagt „Morgen“, und jetzt sind wir schon
    morgens da“.
-  „Es ist ja auch schon morgen, wir haben ja gestern Abend gefragt, nach
    der Uhr ist es morgen, weil es morgens ist“, besinnt sich Glafira, „na egal,
    lass uns gehen, wir fahren ins Hotel. Wir wollten doch einen Tag bleiben
    und uns die Stadt angucken“.

Sie gehen zum Ausgang. Durch die Fenster sieht man ins Restaurant

und auf die herumlaufenden Kellner.

-  „Die Station ist ja nicht gerade berühmt“, sagt Nikolai Iwanowitsch, den
    Wartesaal betretend, „und ich habe gedacht, wer weiß wie schick der
    berliner Bahnhof ist. Möchtest du hier noch was essen oder trinken?“
-  „Ach was, nur noch ab ins Bett. Lass uns schnell ins Hotel fahren. Guck,
    da steht schon ein Portier mit der Mütze vom „Hotel de Berlin“, mit dem
    können wir fahren, bestimmt hat er eine Kutsche. Vielleicht kann er uns
    auch das Gepäck einlösen, gib ihm die Quittung“.
-  „Wir müssen auch noch nach der Reisetasche und dem Bettzeug fragen,
    die in dem anderen Zug liegen. Das Telegramm haben sie bestimmt
    schon erhalten“.
-  „Da erkundigen wir uns morgen, wen kann man denn jetzt noch fragen!
    Bloß schnell ins Hotel. Selbst wegen des Gepäcks, da können wir morgen
   immer noch...wo sollen wir jetzt anfragen! Morgen nach dem Aufstehn
   kommen wir mit der Quittung, der Portier kann sich um Tasche und Kissen
   kümmern. Maria Iwanowna hat erzählt, dass es in Berlin Hoteldiener gibt,
   die russisch sprechen, da lässt sich dann alles klären“.

Nikolai Iwanowitsch begibt sich zu dem Hotelangestellten mit der Aufschrift
auf der Schirmmütze und ruft: „Gotel-de-Berlin! Номерь? Есть Номера?“
Aufgeschreckt guckt dieser ihn an und fragt verständnislos: „Was für eine
   Nummer, mein Herr, was wollen Sie?“
-   „Комнату нам нужно... Zimmer“, erklärt Glafira.

Der Hoteldiener wird munter: „Ein Logement wird gewünscht? Zimmer?
   Aber selbstverständlich, Madame, bitteschön... Haben Sie Koffer, Bagage?“
-  „Bagage morgen, morgen. Schnell in Gotel, wir wolen schljafen...“
-  „Die Bagage kann ich schnell holen, geben Sie nur die Quittung“.
-  „Neyn, Bagage morgen“.
-  „Wie Sie wünschen, Madame“.

Zu Nikolai Iwanowitschs Erstaunen führte der Diener sie vom Bahnhof zu
Fuß durch schlecht beleuchtete Straßen - „Sollte das wirklich Berlin sein?
   Oder haben wir uns wieder irgendwie verirrt? Oder, weiß der Teufel, hat
   der Schaffner uns zum Spaß aus dem Waggon gezogen...“ brummelt er
   vor sich hin, „mir hat man erzählt, es gibt Gaslaternen in Berlin. Sogar
   elektrisches Licht, aber hier, was für eine Dunkelheit...“

-  „Berlin?“ fragt Glafira sicherheitshalber.
-  „Aber sicher, Madame, Hotel-de-Berlin“.
-  „So, sagt auch, dass das Berlin ist. Merkwürdig. Die Straßen dunkel, kaum
    eine Laterne, niemand zu sehen. Keine Leute, keine Kutschen...“ wundert
    sich Nikolai Iwanowitsch immer noch.

Der Diener bleibt vor einem verschlossenen, von nur einer kleinen Laterne
beleuchteten Eingang stehen und klingelt. Die Tür öffnet sich und ein nicht
gerade repräsentativer Mensch mit verschlafenem Gesicht und einfachem,
grauen Jackett öffnet und führt unser Ehepaar in den ersten Stock, um ihnen
das Zimmer zu zeigen: „Drei Mark“.
-  „Три марки. Hm, also ungefähr drei deutsche Poltini“, überlegt Nikolai
   Iwanowitsch, erst das einigermaßen saubere Zimmer mit zwei Betten
   betrachtend und dann die nichtrepräsentative Person: „Nu, gut“.

Schon nach einer halben Stunde liegen Nikolai Iwanowitsch und Glafira
Semjonowna in tiefem Schlaf versunken in einem Zimmer des

Hotel-de-Berlin, das an der Hauptstraße des kleinen westpreußischen

Städtchens Dirschau liegt.

Schon im Einschlafen bemerkt Nikolai Iwanowitsch noch:
   „Mein Gott, was bin ich froh, dass wir, ohne die Sprache zu beherrschen,
    letztlich doch glücklich in Berlin angekommen sind“.
-  „Und ich erst“, antwortet seine Frau.