Kapitel 76 - 79 Super, diese Schweizer!

Kapitel 76

Schweizer Käse

Das ‘Hôtel de Russie’, das unsere Eheleute jetzt betreten, ist eines

der elegantesten in Genf. An der Rezeption das übliche Geläute: der
Empfangschef schlägt auf eine Glocke, eine elektrische antwortet,

sogleich eilt der Oberkellner herbei, im Frack, den Bleistift hinterm Ohr,

ein einfacher Kellner mit Serviette in der Hand springt die Treppe herab

und auch ein Page erscheint, gekleidet in eine blaue Uniform mit Litzen

am Kragen und blinkenden Knöpfen.
Unser Ehepaar ist eingekreist von sich verbeugenden Angestellten,
die es auf Deutsch und Französisch bitten, sich nach oben zu begeben.

-  „Wer von Ihnen spricht denn jetzt russisch?“ fragt Nikolai Iwanowitsch,
    die Treppe hinaufsteigend, „Руссиш... russe schprexen...“

Es erweist sich, dass niemand im Hotel russisch spricht.
-  „’Rossija’ - also so was! Dass die sich trauen, sich ‘Rossija“ zu nennen -
    das ist doch Betrug! Wir sind doch deswegen hierhergekommen, um
    Russisch zu sprechen - und jetzt...“

Das Zimmer für acht Franken ist indes äußerst luxuriös, der Oberkellner,

der es ihnen präsentiert, lobt vor allem dessen Aussicht: „Direkt vor Ihren

    Augen liegen der Genfer See und unser schneebedeckter Montblanc“.
-  „Meinetwegen..“ entgegnet Nikolai Iwanowitsch, „das mit dem Blick mag
    ja seine Richtigkeit haben, gucken wir uns nachher vielleicht mal an, aber
    gibts hier nicht irgendwas boire manger à la russe? Thé à la russe
    можно? Thé avec camovar...?“
-  „Selbstverständlich, Monsieur“, verbeugt sich der Oberkellner und wendet
    sich zum Gehen.
-  „“Cтой, стой... вот ещё... wenn wir schon hier sind, möchten wir auch den
     Schweizer Käse probieren... Fromage schweyzar aportez...“
-   „Fromage de suisse?“ verbessert der Kellner, „oui, Monsieur“.

Innerhalb einer Viertelstunde, unser Ehepaar hat sich gerade gewaschen und
gekämmt, erscheint der Tee, und zwar untadelig und mustergültig serviert:
in einem silbernen Samowar, mit Sahne, Zitrone, Warenje, dazu Brötchen

und Butter sowie sogar ein Schälchen mit frischem Wabenhonig.
Ein Stück Käse wird ebenfalls gebracht. Mit Freude in den Augen ruft
Nikolai Iwanowitsch aus: „Das ist ja großartig! Das erste Mal im Ausland wird
    der Tee anständig und menschenwürdig serviert! Also super, diese
    Schweizer - bien, bien...“ , wendet er sich an den Kellner, auf den Tisch
    zeigend und jenem auf die Schulter klopfend.

Der Oberkellner verbeugt sich ehrerbietig und verschwindet mit einem
Lächeln auf den Lippen.
-  „Und wie das Personal gekleidet ist - kein Vergleich mit unserem pariser
    Etagendiener mit seiner Papiermütze und den Filzpantoffeln...“ ergänzt
    Glafira Semjonowna.
-  „Da schau, sogar Honig ist da - die kennen den russischen Geschmack...“
    schwärmt Nikolai Iwanowitsch weiter, „nur dass die Halunken kein
    russisch sprechen“.

Zuallererst stürzt sich Nikolai Iwanowitsch auf den Käse, aber der ist,

seiner Meinung nach, von äußerst schlechter Qualität: „Das soll

    schweizer Käse sein? Das ist ja blamabel, der schmeckt nach gar nichts,

    der ist wie unser aus Mechschera, aber nicht wie schweizer...“
-  „Wirklich, schmeckt wie unser aus Mechschera... aber du wolltest ja
    alles auf russische Art haben, à la russe, da haben sie dir eben russischen
    Käse gebracht...“ vermutet Glafira.
-  „Also, ich habe doch eindeutig Fromage schweyzar bestellt... nein, das
    verhält sich wahrscheinlich so wie mit dem Schuster ohne Stiefel: den
    guten Käse schicken sie bestimmt zu uns, nach Russland...“

Nach dem Tee macht sich unser Ehepaar hübsch, sich ein wenig in der Stadt
umzuschauen, stößt jedoch, den Korridor betretend, beinahe mit der Nase
gegen den Commisvoyageur. Dieser, vollendet elegant in schwarzglänzendem

Zylinder und gelben Handschuhen, bleibt stehen und verbeugt sich lächelnd,

dabei seinen Hut abnehmend.

-   „Verflucht... schon wieder... ist der auch hier. So etwas Aufdringliches!
    Und wie seine Augen glitzern... das ist doch schon frech...“ erregt sich
   Nikolai Iwanowitsch auf Russisch und wendet sich ab. Seine aufgeheiterte
   Stimmung erleidet einen Dämpfer.

Im Foyer werden sie vom Oberkellner angesprochen, der, unter
Verbeugungen, über die Table d’hôte informiert - Frühstück um ein,
Mittagessen um fünf Uhr - und sie bittet, sich dafür rechtzeitig einzutragen.
Glafira übersetzt und fügt hinzu: „Dann lass uns doch hier speisen - die
   haben sicher eine gute Küche“.
-  „Damit wir wieder auf diesen Commisvoyageur treffen? Da verspüre ich
    kein Verlangen, überhaupt keines... “ knurrt Nikolai Iwanowitsch, „lieber
    gehe ich in die letzte Imbisstube, als den sehen zu müssen, der hängt
    mir wirklich zum Hals ‘raus“.

Kapitel 77

Asiatische Despoten

Genf, deren halbe Einwohnerschaft ohnehin aus Ausländern besteht,

ist im Herbst für gewöhnlich leer. Reisende oder Urlauber, die vorbeischauen,

gibt es gar nicht, und die Ausländer mit Geld - sowie die dito Schweizer -

halten sich an den Ufern des Mittelmeeres auf.

So ist es auch jetzt, die Straßen menschenleer, Restaurants, Cafes und

Läden ohne Kundschaft, ihre Besitzer stehen in der Tür und rauchen und

gähnen. Flaneure sind nirgends zu entdecken, die wenigen Passanten eilen

in einem geschäftsmäßigen Tempo vorbei, anfangs sehen unsere Eheleute

sogar weder Equipagen, noch Lastfuhrwerke.

Nach den Menschenmassen in Paris und dem Gedränge auf den dortigen

Boulevards führt dies bei ihnen zu beträchtlicher Verblüffung .
-  „Was, das soll Genf sein?“ ruft Glafira aus, sich nach allen Seiten umschau-
    end, „Das wird doch so gelobhudelt, so eine bemerkenswerte Stadt, sagt
    man,  aber in Wirklichkeit total leer. Und was man nicht alles lesen kann,
    ganze Bücher gibts über Genf... Nikolai Iwanowitsch, sind wir wirklich in
    Genf?“
-  „Sicher, sicher... hab ich selbst gelesen auf dem Bahnhofsschild...“
-  „Merkwürdig! Wo ist denn der Montblanc? Den sehe ich gar nicht...“
-  „Die Berge sind da drüben...“ zeigt Nikolai Iwanowitsch, und sie gehen zur
    Brücke.
-  „Also nach der Beschreibung soll der Montblanc weiß sein, schneeweiß,
    mit Eis bedeckt, aber sowas kann ich hier nicht entdecken, das sind doch
    alles ganz gewöhnliche Berge, und oben Wolken...“ fährt Glafira fort.
-  „Es ist ein bedeckter Tag heute, es ist zu vermuten, dass der Montblanc
     hinter den Wolken ist...“
-  „Nein, das hier ist nicht Genf, mit Sicherheit nicht. In den Büchern stand,
    dass der Blick auf die Berge extravagant sei, aber hier: nichts davon.
    Die allerdurchschnittlichsten Hügel“.
-  „Dir kann man auch nichts recht machen... aber umso besser: gefällts dir
    nicht, desto eher fahren wir weiter...“ kommentiert verärgert Nikolai Iwa-
    nowitsch.   

An der Brücke angekommen, erblicken sie Ufer und Wasser des Sees,

und Glafira muss sich korrigieren: „Blaues Wasser, nein, das ist Genf,
   das blaue Wasser erkenne ich wieder, das war so oft beschrieben.
   Tatsächlich bemerkenswert: tiefblau, und dabei dennoch durchsichtig -
   da guck, Nikolai Iwanitsch, wie tief es ist, und trotzdem sieht man den
   Grund, da unten liegt ein zerschlagener Teller...“
-  „Ach, zum Teufel mit ihm...“ er gähnt und dreht sich weg.
-  „Wie wunderschön das Wasser ist“, schwärmt Glafira, „warum, Nikolai
    Iwanitsch, ist das hiesige Wasser so dunkelblau? Liegt das an der Natur?“
-  „Da sind bestimmt irgendwelche Fabriken in der Nähe, die Indigo oder
    blaue Farben verarbeiten, die leiten die Stoffe wohl hinterher ins Wasser...“
-  „Also hör auf, so ein Unsinn! Eine solche Menge Wasser mit blauer Farbe
    färben - das ist doch ein Riesensee hier!“ widerspricht Glafira energisch,
    „schau, schau, ein Dampfer, dahinten, und zwei Segelschiffchen...“

Nikolai Iwanowitsch muss erneut gähnen.
Sie überqueren die Brücke und befinden sich auf einer breiten Straße voller
teurer Geschäfte mit riesigen Schaufenstern, in denen jegliche Mode- und
Galanteriewaren ausgestellt sind. Glafiras Augen laufen über alles her, an
jedem Fenster bleibt sie stehen und ruft: „Oh, wie hübsch! Ach, wie wunder-
    bar! Die Sachen sind ja viel exquisiter als in Paris! Also, Nikolai Iwano-
    witsch, sag, was du willst, aber ich finde, für die Aktion in Paris, für deinen
    Fauxpas, könntest du mir erlauben, hier ein paar Kleinigkeiten zu kaufen,
    Geschenke und so weiter, für 100 Francs oder so“.
-  „Schon wieder mein Fehltritt! Was willst du denn, Matuschka! Wird das
    nie aufhören? Im Zug konntest du dir bei diesem Playboy zwei Mal
    Spitzen kaufen - und jetzt schon wieder! Jedem Ochsen kann man das
    Fell nur ein Mal abziehen...“

Glafira Semjonowna schaut gekränkt drein: „Gut, wie du möchtest. Ganz
    ohne Geschenke kann  ich allerdings nicht nach Hause kommen!“ und
    fügt, mehr vor sich hinsprechend, hinzu: „Der Commisvoyageur ist ja
    noch in unserem Hotel, den frage ich einfach, ob er noch ein paar
    Muster für mich hat, zwei Goldstücke habe ich noch...“

Nikolai Iwanowitsch explodiert beinahe: „Das wirst du nicht tun! Auf gar
   keinen Fall! Von dem ziehe ich dich an den Zöpfen wieder weg, damit
   du’s weißt!“

In Glafira Semjonownas Augen beginnen Tränen zu schimmern, aber

dann spuckt sie aus und rennt los, Nikolai Iwanowitsch muss sich

sputen, hinterherzukommen:  „Glascha!  Wohin willst du denn?

    Sei doch nicht dumm, bitte, stell dich nicht so an...“  und er versucht,

    mit ihr Schritt zu halten, um ihr ins Gesicht  blicken zu können,

    aber immer, wenn er sie einholt, erhält er mit dem Regenschirm

    einen Schlag auf die Hand.

Entgegenkommende Passanten bleiben stehen und gucken sie an, selbst
Verkäufer, die die Szene durch die Schaufenster beobachten konnten, kom-
men aus den Läden auf die Straße und schauen ihnen lange hinterher. Am
nächsten größeren Boulevard beendet Glafira ihren Trab, wirft sich auf eine
Bank und beginnt, versteckt hinter einem Taschentuch, zu weinen.

-  „Ungeheuer, bösartiges! Fährt durch Europa und tut zivilisiert, über seine
    eigene Frau aber will er herrschen wie ein wilder, tierischer, asiatischer
    Despot!“

Nikolai Iwanowitsch setzt sich zu ihr, entschuldigt sich und redet ihr gut
zu, um sie zu beruhigen, was ihm am Ende auch irgendwie gelingt.
Glafira hört auf zu weinen und wird von ihm durch die Geschäfte geführt,

in denen sie sich  Galanteriewaren und verschiedenen Plunder aussucht,

nicht für hundert, aber für zweihundert Francs. Sie erstehen Weidenkörbchen,
alpinen Tinnef aus Holz, eine beleuchtete Miniaturalm, Modeschmuck aus
irgendwelchen Muscheln, Tücher, Holzhäuschen usw., welches sie sich

alles ins Hotel schicken lassen.

Erschöpft begeben sie sich auf die Suche nach einem Restaurant.

Kapitel 78

Punsch auf dem Montblanc

Unser Ehepaar entscheidet sich für ein elegantes Lokal an der
Uferpromenade des Genfer Sees, dessen Kellner nicht, wie in Paris,
kurze oder lange Schürzen tragen, sondern einen Frack mit weißer Weste
und ebensolcher Krawatte. Am Eingang werden sie begrüßt von einem
dicken Herren in Anzug, offensichtlich der Besitzer selbst. Mit seinem
sich weit hervorwölbenden Bauch, betont durch eine massivgoldene Uhr-
kette, dem sorgfältig gestutzten Bärtchen, einem roten Seidenfoulard, das
wie ein Einstecktuch aus der Jackettasche ragt sowie seiner Zwiebelnase
erinnert er unser Ehepaar doch sehr an einen typischen russischen Kauf-
mann. Nur sein Haupt ist, anders als bei diesem, mit einem blauen Tuch-
mützchen geschmückt, das eher wie eine Kappe aussieht.

Sich verbeugend und auf Französisch parlierend führt er unsere Eheleute
in einen großen Speisesaal im ersten Stock, an einen langen, opulent
und elegant eingedeckten Tisch.
-  „Mir scheint, Monsieur und Madame sind Russen?“
-  „Oui, oui...les russes...“ bestätigt Glafira.
-  „Wir werden uns bemühen, dem russischen Geschmack gerecht zu
    werden. Ich schmeichle mir, mit den russischen Gepflogenheiten
    vertraut zu sein...“, fährt er auf Französisch fort, verbeugt sich und fragt:
   „Befehlen Sie ein Mittagessen?“
-  „Oui, oui, dîner...“ nickt Nikolai Iwanowitsch, der das Wort ‘Essen’

    verstanden hatte, „und was kostet das? Combien?“
-  „Quel prix le dîner?“ verdeutlicht Glafira Semjonowna.
-  „Von sechs bis zwanzig Franken, Madame. Wir können sechs Gänge
    servieren, sie sagen mir nur, was Sie ausgeben möchten und überlassen
    es mir, Ihrem Geschmack zu genügen...“ versucht der Besitzer der
    angestrengt lauschenden Glafira Semjonowna zu erklären.

Diese übersetzt ihrem Mann und fügt hinzu: „Das scheint ja ein ganz
    merkwürdiges Restaurant zu sein - für wieviel Franken bestellen wir
    denn?“
-  „Meinetwegen für acht - wollen mal sehen, was er für den russischen
    Gaumen bringt“.

Der Besitzer stellt die Rotweine vor und fragt anschließend: „Et l’eau de
     vie russe? Vodka?“
-  „Wie, Sie haben Wodka? Russischen Wodka? Wirklich?“ freut sich
    Nikolai Iwanowitsch.
Der Besitzer lächelt nur und nickt schweigend.

-  „Так, пожалуйста, голубчик. Je vous prie. Da fahre ich und fahre im
    Ausland  herum, aber ein Gläschen russischen Wodkas habe ich noch
    nicht gesehen. Das ist ja eine Überraschung  - Wodka in der Schweiz,
    merci, merci!“, und Nikolai Iwanowitsch drückt ihm sogar kräftig die Hand.

Weitere Gäste im Saal gibt es kaum. Am anderen Ende des riesigen
Tisches haben zwei Engländerinnen mit Pferdegebiss neben einem schon
bejahrten Landsmann ohne ihr Frühstück oder Mittagessen beendet und sind

bereits beim Dessert, löffeln ihr Fruchtkompott und gießen eifrig Sodawasser

aus einem schäumenden Siphon nach.
Ein hagerer, einer Hopfenstange nicht unähnlicher Offizier mit rotem

Walrossbart und blauer Uniform mit einem unglaublich hohen roten Kragen

beschäftigt sich an einem Einzeltisch mit der Zeitung, einem Teller Birnen

und einer Flasche Likör.

-  „Das dauert ganz schön lange“, bemerkt Nikolai Iwanowitsch, „vielleicht
    lassen wir uns Tinte und Papier bringen und schreiben Ckripkin noch
    einmal? Wir könnten sagen, dass wir mitten in Schnee und Eis auf dem
    Gipfel des Montblancs säßen...“
-  „Wozu soll das denn gut sein?“
-  „Einfach so... sollen sie doch staunen. Vom Eiffelturm haben wir geschrie-
    ben, und hier eben vom Montblanc“.
-  „Auf dem Eiffelturm waren wir auch, aber auf den Montblanc zu steigen -
    daran haben wir noch nicht einmal gedacht...“
-  „Tut nichts zur Sache, ist doch egal... sollen sie uns doch beweisen, dass
    wir nicht raufgeklettert sind! Wir waren oben - und fertig. Kennst doch
    die Unseren! Neidisch sind die sowieso: ‘Wir kommen höchstens zur
   Wallfahrt nach Tichwin - aber schau dir die Iwanows an: einfach los, und
   auf den Eiffelturm, und auf den Montblanc...’ - ich schreib jetzt“.
-  „Na, wie du willst, dann schreib doch...“ und Glafira muss lächeln.

Nikolai Iwanowitsch lässt sich alles bringen und macht sich an den Brief.
-  „So, und schon fertig, zehn oder fünfzehn Zeilen, sieht aus wie eine
    Liebenswürdigkeit von uns, aber das Briefchen wird die Ckripkins so
    erbosen, dass sie sich vor Neid noch gegenseitig beschimpfen. Er hatte
    seiner Frau doch wirklich versprochen, mit ihr ins Ausland zu reisen,
    aber über Tichwin sind sie noch nicht hinausgekommen“, erklärt er und
    beginnt zu lesen: „Lieber Anicim Sergejitsch und liebe Maria Iwanowna,
    so, jetzt sind wir also in der Schweiz! Kaum in Genf angekommen, sind
    wir gleich in die schnee- und eisbedeckten Berge gekraxelt. In diesem
    Moment sitzen wir auf der höchsten Spitze des größten Berges, dem
    Montblanc, genießen den heißen Punsch, mit dem man hier bewirtet
    wird und schicken Euch Grüße. Es herrscht eine furchtbare Kälte -
    15 Grad Minus - ich und Glafira Semjonowna sind geradezu genötigt,
    Punsch zu trinken, um uns aufzuwärmen...“
-  „Was schreibst du denn da über mich? Lüg doch von dir selbst...“ unter-
    bricht Glafira seinen Vortrag.
-  „Ach, hör auf zu meckern... „um uns aufzuwärmen. Der Schnee liegt hier,
    glaube ich, bestimmt dreieinhalb Meter hoch, und tauen tut er niemals.
    Die Höhe ist derart, dass von der Spitze des Berges dessen Fuß
    überhaupt nicht sichtbar ist. Ein furchtbares Schauspiel der Natur. Sehr
    schade, dass ihr nicht mitgekommen seid - bis bald...“

Nikolai Iwanowitsch klebt den Umschlag des Briefchens zu und lässt ihn
von einem Bediensteten in den nächsten Briefkasten werfen.

-  „Ärgern wird sie das, richtig ärgern, dass wir auf dem Montblanc sitzen
   und nicht sie selber...“ bemerkt er, vor sich hinlächelnd.

Jetzt kommt der Wodka, und mit ihm werden auch die Vorspeisen - закуски -
serviert: Sardinen, Hering, irgendein Räucherfisch und Strassburger
Pastete. Es ist richtiger, russischer Wodka, in einer kleinen, bauchigen
Flasche mit dem Etikett der Firma Cmirnow aus Moskau.

-  “Батюшки! Alles nach russischer Art! Mit wunderbaren закуски...“ ist
    Nikolai Iwanowitsch gerührt, „sogar der Wodka ist aus Moskau... ganz
    unbedingt musst du auch ein Gläschen probieren, Glascha“.
-  „Zu welchem Zweck denn?“ fragt Glafira, „den trinke ich doch sonst auch
    nicht!“
-  „Es ist doch eine Ehre, wenn man im Ausland welchen serviert bekommt.
    Was für eine Patriotin wärest du denn andernfalls?“
-  „Ach nö, trink nur allein“.
-  „Aber selbstverständlich, aber sowieso trinke ich den... unseren heimat-
    lichen, russischen, rechtgläubigen...“

Nikolai Iwanowitsch betrachtet mit einem versonnenen Lächeln die Flasche,
streicht ihr über den Bauch, gießt sich ein und schluckt höchst andächtig.

Kapitel 79

Skandal und Duell

Das Menue, das der Wirt selbst und, wie versprochen, nach russischer Art
reichte, bestand aus Krebssuppe mit Croutons, Steinbutt, Miniatur-Beefsteaks, Weißkraut, Grillhühnchen, Eis mit Früchten und Käse. Der Schweizer
beging keinen Fehler, augenscheinlich hatte er es schon oft mit russischen
Reisenden zu tun gehabt. Die mäkelige Glafira Semjonowna aß alles - außer
den Steinbutt, den sie mit den Worten „Das mag Gott wissen, was das für
ein Fisch ist“ zurückwies, über den Rest war sie des Lobes voll.

Vier Gläschen Wodka versetzten Nikolai Iwanowitsch in eine aufgeräumte
Stimmung, auch Glafira Semjonowna schmollte nicht mehr, beide verbrachten

ein geradezu fröhliches Mahl, als zu dessen Ende auf einmal der
Commisvoyageur im Saal erscheint, dieses Mal noch geschniegelter als sonst.

Er glänzt  mit nagelneuen, dunkelgelben Handschuhen mit schwarzen Nähten

und einer richtigen Rose im Knopfloch und sein Auftreten wirkt auf Nikolai

Iwanowitsch wie ein Guss kalten Wassers. Dieser bricht seine Ausführungen

Glafira Semjonowna gegenüber mitten im Satz ab, verfinstert sich
und murrt: „Hat sich dieser Teufel schon wieder eingeschlichen! Glascha!
    Ich bitte dich - kein Wort zu ihm!“

Der Franzose, unser Ehepaar erblickend, verbeugt sich liebenswürdig,
tritt zu ihnen an den Tisch und wünscht einen „Bon appétit“.
-  „Da mögest du doch an Fischgräten ersticken, lackierter Antichrist!“
   entgegnet Nikolai Iwanowitsch auf Russisch und wendet sich ab.
-  „Was soll das denn?“ versucht Glafira ihn zu bremsen.
-  „Ach, ist einfach frech und ein Schweinehund“.
-  „Warum das denn? Hat er uns irgendetwas getan?“
-  „Das wäre ja auch noch schöner - dann könnte er sich auf eine derartige
     Abreibung gefasst machen...“

Der Commisvoyageur versteht nichts von ihrem Dialog, merkt aber selbstver-
ständlich, dass es sich um keine zärtlichen Worte handelt, wiewohl Glafira
versucht, ihr Lächeln beizubehalten.

-  „Nun ess schon dein Eis auf - als ob sie absichtlich aufhört, zu kauen...
    das Obst packen wir ein, können wir auf dem Weg essen...“ finster treibt
    Nikolai Iwanowitsch seine Frau zur Eile und schreit zum Kellner hinüber:
   „Счёт! Combien payer?“

Als der Franzose sieht, dass sich unsere Eheleute anheischig machen, zu
gehen, versucht er, das liebenswürdigste Lächeln, über welches er verfügt,
aufzusetzen, zieht seine Rose aus dem Knopfloch und reicht sie Glafira
Semjonowna hin. Diese wird rot, kann sich jedoch, mit einem Seitenblick
auf ihren Gatten, nicht dazu durchringen, sie anzunehmen.
-  „Trau dich bloß nicht!“ ruft ihr dieser in drohendem Ton zu und wirft
    zornsprühende Blicke auf den Franzosen.
-  „Non, non...il ne faut pas...je ne veux pas... merci...“ verlegen und verwirrt
    weist Glafira die ihr hingehaltene Rose zurück.
Als der Commisvoyageur beharrt, streckt Nikolai Iwanowitsch seine Hand

aus, ergreift das Blümchen und wirft es auf den Boden.

-  „Aber Monsieur!...“ sagt der Franzose gedehnt, wiewohl mit erhobener
    Stimme und richtet sich langsam in seinem Stuhl auf.
-  „Ничего Monsieur! Unverschämter! Steh auf, Glafira Semjonowna, wir
    gehen...“. Auch Nikolai Iwanowitsch erhebt sich: „Bezahlen können wir
    da drüben...“

Glafira Semjonowna ist dem Tode nahe. „Ach, ein Skandal... hat er einen
    Skandal inszeniert...“ flüstert sie und trippelt ihrem Mann hinterher.

Ihnen folgt der Vertreter, mit den Armen rudernd und auf Französisch
schimpfend.
-  „Halt! Kommen Sie mir nicht zu nahe - ich habe Sie nicht angerührt!“
    tritt ihm Nikolai Iwanowitsch entgegen.

Der Franzose weicht zurück und redet stattdessen auf einen älteren Herren
ein, der, an einem Einzeltisch sitzend und aufs Essen wartend, sich die
ganze Szene mit vor Verwunderung geweiteten Augen betrachtet hatte.

Nikolai Iwanowitsch, leise vor sich hin fluchend, bezahlt die Rechnung.
Als er das Wechselgeld für seine zwei Goldstücke erhalten und  zwei
Franken Trinkgeld gegeben hat, bemerkt er, dass sich Glafira Semjonowna

nicht mehr im Saal befindet. Schnell verlässt er das Restaurant und entdeckt

sie auf der Strasse, hastig Richtung Hotel gehend. Als er sie endlich einholt,

sieht er, dass sie weint.
-  „Was gibts denn hier zu heulen! Gleich sind wir zu Hause, dann packen
    wir unsere Sachen und reisen ab...“ knurrt er ärgerlich, „weg aus Genf!
    Das reicht... du hast es soweit getrieben, dass das Französchen schon
    glaubte, dich in den Arm nehmen zu können...“
-  „Na und - ist das meine Schuld?“
-  „Natürlich! Meinst du, ich habe nicht gesehen, wie du ihn im Waggon
    angelächelt hast? Na klar hat er sich Hoffnungen gemacht - alte
    Schlampe du!  Kommt nur irgendsoein zärtlicher Franzose, flirtet ein
    bisschen und flüstert ihr was ins Ohr - schon schmilzt sie dahin!“
-  „Türke - eifersüchtig wie ein Türke! Den Sultan will er spielen...“ schimpft
    Glafira Semjonowna und schiebt ihren Gatten von sich weg.

Da Nikolai Iwanowitsch auf einer zügigen Abreise besteht, besteigen sie

schon am gleichen Tag um 17 Uhr ihren Zug Richtung Heimat. Glafira sitzt
beleidigt und von ihrem Mann abgewandt, auf seine Versuche, ein
Gespräch zu beginnen antwortet sie nur mit einem „Scher dich zum Teufel!“.
Bis zur Abfahrt verbleiben noch fünf Minuten, und so schiebt Nikolai
Iwanowitsch das Fenster nach unten, betrachtet sich das Treiben auf dem
Bahnsteig, die hin- und herhastenden Passagiere, die Gepäckträger, mit
Reisetaschen und Plaids beladen, und entdeckt plötzlich inmitten der Menge

den Commisvoyageur, von Waggon zu Waggon laufend und in die Fenster

spähend. Nikolai Iwanowitsch wird schlecht: „Hunderttausend Höllenhunde!
   Das kann doch wohl nicht wahr sein - reist dieser Rotzjunge schon wieder
   in unserem Zug?“, und, sich zu seiner Frau wendend, „na Glückwunsch,
   gleich hast du deinen Verehrer wieder, läuft draußen auf dem Bahnsteig
   herum und sucht uns“.

In der Tat ist der Vertreter auf der Suche nach ihnen, und, sowie er den
Kopf Nikolai Iwanowitschs im Fenster erblickt hat, schon herangesprungen,

eine Faust schüttelnd, in der anderen Hand eine Visitenkarte präsentierend,

in einem französischen Redeschwall losprasselnd, dessen Tonfall Nikolai

Iwanowitsch erraten lässt, dass es sich diesmal um keine Komplimente handelt.

-  „Was willst du spaghettibeiniger Trottel, bildest dir ein, mich hier
    beschimpfen zu können, was?“ ruft er ihm auf Russisch zu und steckt
    den Kopf aus dem Fenster.

Der Franzose schreit weiter ununterbrochen und droht ihm mit der Faust.

-  „Da trau dich, mir zu drohen, räudiger Köter, wenn’s um die Fäuste geht,
    da hab ich auch welche, kannst dein Mittagessen aus der
    Schnabeltasse trinken...“ ruft Nikolai Iwanowitsch zurück und streckt eine
    Faust aus dem Abteilfenster.

In diesem Moment ertönt eine Glocke, dann der Pfiff der Lokomotive, und
der Zug setzt sich in Bewegung. Es scheint, als habe der Franzose genau
darauf gewartet: er springt zum Abteilfenster und ergreift Nikolai
Iwanowitschs herausgestreckten Kopf bei den Ohren.

-  „Was...was... ach so einer bist du...“ heult Nikolai Iwanowitsch auf, steckt
    den Arm ganz hinaus, schlägt dem Commisvoyageur den Hut vom Kopf
    und ergreift ihn nun seinerseits an den Haaren.

Der Franzose heult ebenfalls auf. „Arretez! Arretez!“ schreit er, aber da der
Zug keineswegs anhält, ist er gezwungen, neben ihm herzulaufen,
bis er sich endlich aus dem Griff Nikolai Iwanowitschs befreien kann.

Als sich dieser zu seiner Frau umwendet, befindet sich der Zug schon in
voller Fahrt.
-  „Was ein Halunke! Prügeln wollte er sich mit mir - na, bin ja kein kompletter
    Idiot. Hab mich bedankt, bis Weihnachten wird er dran denken - guck,
    meine Trophäe...“ mit diesen Worten präsentiert Nikolai Iwanowitsch seiner
    Frau ein ganzes Büschel Haare.