Zum Autor

Nikolai Alexandrowitsch Leikin (Лейкин),

1841 - 1906, entstammt einer Kaufmannsfamilie

in Petersburg und wendet sich, nachdem er eine

Zeit den Vater in dessen Tätigkeit unterstützt und

kurze Zeit in Staatsdienst tritt, früh journalistischer

und literarischer Betätigung zu.

Sein Debut gibt er 1860 mit dem Gedicht

„Ring“, es folgen Beiträge für verschiedene Zeitungen

und Magazine.

Seit 1870 arbeitet er regelmäßig für die „Petersburger Zeitung“, fast täglich erscheinen Artikel und humoristische Beobachtungen, vor allem über das einfache Volk, Kaufleute, Angestellte, Kleinbürger, die ihn in ganz Russland bekannt und populär machen. Die Sammlungen dieser Artikel in Buchform erleben in den nächsten zwanzig Jahren viele Auflagen.

Seit 1882 gibt er das satirische Journal „Oskolki“ heraus, in dem Tschechow
seine ersten Erzählungen veröffentlichen kann. Durch seine Buchausgaben
gelangt er zu einer gewissen Wohlhabenkeit und ist gern Gastgeber.

Im folgenden möchten wir einige Stellen aus den Memoiren von I.I.Jasinski

(1926 erschienen) anführen. Der Autor ist Leikin zweifelsohne nicht sonderlich

gewogen, vermittelt aber ein anschauliches Bild seiner Persönlichkeit
und erzählt auch von Tschechow.  


„Ende der 70er Jahre betrat ich eines Tages ein Bekleidungsgeschäft im
Gostinoi Dwor, um mir ein Jackett zu kaufen. Der Verkäufer wirft

verschiedene Jacken auf die Ladentheke, sie mir zu zeigen, und ich rufe

aus: „Das ist feucht hier - sie versauen Ihre Waren!“
-   „Ach was, kaum...“ antwortet dieser, „das ist nur der süße Rand von einem
    Teeglas. Der verehrte Herr Leikin ließ sich herab, mit uns Tee zu trinken,
     und zur Erinnerung an seinen Besuch machen wir nicht sauber... sehen
    Sie, schon trocken...“, und er fährt mit der Hand über den Fleck.
-  „Warum verehren Sie denn Leikin so, ehrlich gesagt, habe ich den
    noch nie gelesen“.
-  „Da erlauben Sie sich doch einmal, hineinzuschauen, er schreibt sehr
     lustig und überzeugend,  die ‘Petersburger Zeitung’ hat er erst bekannt
    gemacht - was war das ohne ihn überhaupt für eine Zeitung? Kein Mensch
    nahm die in die Hand, die haben doch in erster Linie von Erpressung
    gelebt. Einmal kam so ein Journalist von denen hier vorbei, wollte den
    Laden richtig runtermachen, konnte man schon am Gesicht sehen, was er
    sich ausdenken will - musst ihm einen Drei-Rubel-Schein rüberschieben,
    damit er das sein lässt. Aber nachdem Herr Leikin in die Zeitung eintrat,
    hat man von so etwas nichts mehr gehört. Haben die Redakteure nicht
    mehr nötig, weil sie ordentlich bezahlt werden. Leikin beschreibt meistens
    unseren Handel und die Läden, alles wird offen und wahrhaftig geschildert
    und, das muss man sagen, dient der Zivilisation. Ein progressiver Schrift-
   steller, ein erstklassiger Satiriker, das gebe ich Ihnen schriftlich“.
-  „Wirklich, so in der Art Schedrins?“
-  „Von dem habe ich noch nichts gehört; für uns reicht Herr Leikin hin. Wir
    lesen jeden Tag nur Herrn Leikin“.“

Herr Jasinski, Herrn Leikin gegenüber voreingenommen, berichtet
in seinen Memoiren weiter, wie er schließlich dessen Bekanntschaft macht.
Sich nach einem kleinen öffentlichen Skandal bei Leikin entschuldigend

und eventuelle Vorwürfe, daran beteiligt gewesen zu sein, abstreitend,

wird er von diesem beruhigt und zur Mitarbeit an dessen Zeitung eingeladen.

Herr Jasinski will sich später, in sowjetischen Zeiten, nicht so recht erinnern
können, schickt aber wohl ‘einige Zeilen’, d.h. eine Erzählung, allerdings
unter Pseudonym.
   
   „Einige Zeit später konnte ich eines Tages vernehmen, wie in einem
    anderen Zimmer meiner  Wohnung jemand mit anderthalb Schritten

    umhergeht: Leikin war auf einem Bein lahm. Er erschien zu einer Visite

    und um mich zum  Abendessen einzuladen und legte mir einen großen

   Haufen Bücher mit bunten Einbänden auf den Schreibtisch: „Ich habe Ihnen

   meine Werke mitgebracht mit der Bitte, sie unverzüglich zu lesen, ich bin,

   was man auch sagt, ein kleiner Schedrin“.
Ich erzählte ihm, wo ich das erste mal von ihm gehört hatte und wo man
von der Existenz Schedrins nichts ahnt.
    „Na, sehen Sie“, sagte Leikin mit Überzeugung, „man muss mich lesen.
     Bei mir hat Tschechow gelernt, seine Kurzgeschichten zu schreiben.
     Wenn Leikin nicht gewesen wäre, gäbs auch keinen Tschechow...“

Er setzte sich und kaute gedankenvoll an seinen Lippen. Bekleidet war
er mit einem Mantel, und unter dem Mantel sah man Hosen mit roten
Streifen an der Seite.

-    „Was tragen Sie denn für einen Anzug, Nikolai Alexandrowitsch“ wunderte
     ich mich, „sind das Generalshosen?“
-    „Wie soll ich sagen, so in der Art. Trage ich wegen meiner dienstlichen
     Verpflichtungen. Ich bin im Vorstand der Kirche des Kosakenregiments,
     das ist quasi die Kosakenuniform. Mir hängt sogar eine Medaille am Band
     um den Hals. Keinesfalls sollte man ohne gesellschaftliche Verbindungen
     leben, langweilig wäre das“.
-    „Wie, dann sind sie jeden Sonntag in der Kirche?“
-    „Keinen einzigen Gottesdienst lasse ich aus...“ bestätigt Leikin mit einer
      geradezu finsteren Freude, „wir sind Humoristen, aber das Volk ist
      ernsthaft. Und kommen Sie zum Abendessen vorbei, meine Frau hat
      ein kleines Unternehmen, da kriegen Sie hübsche Mädchen zu sehen“.
-    „Was denn für Mädels, Nikolai Alexandrowitsch?“
-    „Na ja, ist doch angenehmer zu speisen, wenn hübsche Mädchen
      servieren. Die Leibeigenschaft gibts nicht mehr, und selbst wenn, würde
      mir das bei meinem bürgerlichen Rang nichts nutzen. Früher mal habe
      ich einen Adelstitel angestrebt, aber jetzt haben wir die Firma mit den
      Weißnäherinnen, und das ist in jeder Hinsicht vorteilhafter. Die Frau
      unterstützt so ihren Ehemann, und somit wird deren Gleichberechtigung
     befördert. Ist bei uns Tradition seit den sechziger Jahren“.

Bei einem Treffen mit Tschechow schilderte ich, welchen lächerlichen
Eindruck Leikin auf mich gemacht hatte. Tschechow aber bemerkte: „Was
     Sie auch denken mögen, ich bin ihm jedenfalls irgendwie verpflichtet.
     Eine Zeitlang konnte ich mich überhaupt nicht seinem Einfluss entziehen,
     und seine „Kalauernden Charaktere“ - die Ihnen im Gostinoi Dwor
     begegnet sind - sind wirklich wundervoll. In jedem von uns steckt etwas
     von diesen „Charakteren“. Mein erstes Pseudonym ‘Tschechonte“ zum
     Beispiel, obwohl unabhängig von Leikin ausgedacht, hat doch etwas von
     diesem Ladengeruch an sich, nicht wahr?“
     
Seit dieser Zeit unterhielt Leikin zu mir, wie man zu sagen pflegt,
freundschaftliche Beziehungen. Zu dem geladenen Essen erschien ich nicht,
aber am Tag des Engels, seinem Namenstag, wie er sich ausdrückte, holte
Leikin mich selbst ab.

-    „Bei mir können Sie spachteln wir sonst nirgends“, versicherte er mir,
     „und wenn Sie erst mein Arbeitszimmer sehen, werden Sie begreifen,
      dass ich ein Mann der sechziger Jahre bin“.

In der Tat hingen an allen Wänden seines Kabinetts Porträts von Slepzow,
Suworin, Dobroljubow; Tschernischewski, Burenin, Turgenew, Uspenski
und weiteren.
-    „Morgen hänge ich Sie auf“, versprach er, „weil ich jetzt endlich Ihr
      Autogramm habe. Der einzige, der fehlt, ist Dostojewski. Eines Tages
     habe ich ihn gefragt: ‘Fjodor Michailowitsch, geben Sie mir doch Ihre
     Karte“, aber er bellt mich nur an: „Welchen Bedarf haben Sie denn an
     meinem Visitenkärtchen; was bin ich Ihnen - und was bedeuten Sie mir?“
     Sofort habe ich erkannt, dass er kein ganz normales Subjekt ist und
     komme auch ohne ihn aus. Aber kommen Sie doch mit ins Wohnzimmer,
     da hat sich sich schon alles versammelt. Ins Kabinett  lasse ich nicht alle  
    herein - die edlen Rösser, aber nicht jeden beliebigen Hengst“.

Im Wohnzimmer traf ich, kann man sagen, die ganze Personage seiner
komischen Erzählungen. Über dem Sofa hing das Portrait von ihm und
seiner Frau. Beide hielten die Hände dergestalt, dass Ringe sichtbar waren,

welche der Künstler sorgfältig wiedergegeben hatte. Nach meiner Erinnerung
gab es auch Porträits von Bischöfen o.ä.

Die Gäste kamen aus dem Gostinoi Dwor - wie sich herausstellte,

Verwandte von ihm und seiner Frau, gesetzte und wohlbeleibte Kaufleute

und Handlungsgehilfen mit liebedienerischem Gesichtsausdruck.

Die einen bliesen sich auf, andere bemühten sich, „progressiv“ zu erscheinen

und machten einen Kratzfuß bei der Vorstellung, einem dabei süßlich

in die Augen schauend.


Die Damen, in schulterfreiem Kleide, ebenfalls imposant. Die Frau Leikins
eine gleichfalls füllige, ansehnliche Dame mit großen Ohrringen...

Aber bald erschienen auch, einer nach dem anderen, die Literaten:

Wladimir Tichonow, Schtscheglow-Leontjew, Nasarjew, Dubrowin,

es glänzte Tschechow.

Leikin trat zu mir und flüsterte verdrießlich: „Gut, dass genug vernünftige
    Leute gekommen sind, ich müsste sonst befürchten, dass vom Fisch
    übrig bliebe. So ein anderthalb-Meter-Gericht offeriere ich nicht jedem,
   wenn Sie und Ihre Kollegen nicht da wären, schmisse ich nicht Perlen vor
   die Säue. Nur schade, dass Fedorow nicht gekommen ist’.

Fedorow war Chefredakteur der „Neuen Zeit“ und ein berühmter Autor von
Vaudevilles. Er war ein großer Esser, wog so viel wie Leikin und hinkte wie
dieser, nur auf dem anderen Bein, man rief ihn die Kommode mit fehlendem

Bein. Aber zur großen Freude Leikins erschien, als alle sich bereits

zu Tisch setzten, auch Fedorow.
    
Den anderthalb-Meter-Sterlett verteilte Leikin selbst und häufelte gnadenlos

einen Bissen nach dem anderen auf die Teller.
   
-   „Essen Sie und erinnern Sie sich“ sagte er, „bei wem sonst bekommen Sie
    so etwas vorgesetzt, außer bei mir. Wenn Sie einen Roman verfassen
    wollen, beschreiben sie mein Abendessen. Ich habe dafür extra einen
    Koch angeheuert und mich den ganzen Tag mit ihm beraten....“

Junge Mädchen in weißen Schürzen huschten durchs Esszimmer, trugen
Teller ab, brachten neue, schenkten Wein nach und verteilten die Speisen.

-  „Na, die sind doch wahrlich hübsch, oder?“ fragte mich Leikin mürrisch,
    „werden mal gute Näherinnen, meine Frau hält sie streng, aber in keiner  
     anderen Schneiderei finden sie vergleichbar hübsche“.

Tatsächlich waren alle junge Frauen rosafarbenen Teints, gut

herausgefüttert und anständig gekleidet.

-   „Die werden von uns doch nicht geknechtet“, führte Leikin, neben mir
     sitzend, weiter aus, „Ausbeutung passt gar nicht zu mir. Haben ihre
     Ausbildung beendet und wollen nicht gehen, bald ist die ganze untere
     Etage von der Werkstatt belegt“.
   
Nach dem Abendessen wurden Tänze veranstaltet. Irgendein kaufmän-
nischer Kavalier dirigierte und rief: „Die Tanzdamen! Die Kavaliere gehen
durch sie durch...“ und noch etwas aus den ‘Kalauernden Charakteren’.

Bemerkend, wie ich in der Unterhaltung mit Tschechow lächelte, kam
Leikin angehumpelt und sagte: „Freunde der Natur - sagt, was  ihr wollt, aber
    ich bin ein richtiger Naturalist. Nichts denke ich mir aus. Die Natur ist
    einfallsreicher als der Schriftsteller. Mit großzügiger Hand streut sie aus,   
    und dabei so ausdrucksstark, dass man nur zuhören und niederschreiben
    muss“.

Mit der Zeit wurde Leikin immer populärer und kam zu Wohlstand, seine
Frau schaffte, glaube ich, die Weißnäherinnen ab, in der Meinung, es sei
nicht schicklich, sie weiter zu beschäftigen. Den Generalshosen entsagte er
nicht. Als er mich einmal auf dem Newski-Prospekt sah, ließ er seinen
Kutscher halten, trat zu mir auf den Bürgersteig und berichtete mir, dass er
gerade zu dem einflussreichen Fürsten Alexei Alexandrowitsch führe, von
dem er bereits einen Brilliantring erhalten habe.

-   „Billige Brillianten, zugegeben, gelbe, aber wertvoll ist nicht der Schmuck,
    sondern die Beachtung, die man erfährt. Er hat mich eingeladen, und ich
    lese ihm heute morgen meine Erzählungen vor. Er hält mich für keinen
    üblen Erzähler und tatsächlich kann ich mit meinen Szenen im Theater
    auftreten, nicht bloß im Arbeitszimmer. Ich würde gern über ihn zum Zaren
    vordringen, der liebt ja unsere ganze russische Richtung, und ich, obwohl
    ein kleiner Schedrin, bin doch Russe vom Kopf bis zu den Zehen. Nur
    schade“, senkte er seine Stimme zu einem Flüstern, „man sagt, dass er
    trinkt. Na, das heißt immerhin, dass eine russische Seele in ihm sitzt“.

Das war das letzte Mal, dass ich Leikin gesehen habe“.


Иероним Иеронимович Ясинский - Роман моей жизны: Книга
   воспоминаний, Москва/Ленинград 1926

Jasinski (1850 - 1931) schrieb Erzählungen und Gedichte, war Journalist,
Literaturkritiker, Übersetzer, Dramaturg und Herausgeber.