Kapitel 62 - 68 Ins Quartier Latin und in den Weinausschank

Kapitel 62

Widersprich nicht!

Als Nikolai Iwanowitsch früh am Morgen des folgenden Tages erwacht,

sich streckt und mit den Augen blinzelt, ist seine Frau bereits aufgestanden

und steht im Rock, aber noch mit Schlafjäckchen vor dem Spiegel,

betrachtet ihr Gesicht und pudert es. Als sie bemerkt, dass ihr Mann

erwacht ist, dreht sie sich zu ihm: „Diese wilde Schlampe hat mir

   an drei Stellen das Gesicht zerkratzt, die infame Kreatur. Na, dafür

   hat sie’s mit dem Schirm gekriegt, und Lippe und Auge haben auch

   was abbekommen... schade nur um den Schirm... über dich allerdings,

   Nikolai Iwanowitsch, muss ich mich sehr wundern...“
-  „Wie denn, was denn, mein Liebling?“
-  „Dir scheint ja jeder Rock lieber als der deiner Frau“.
-  „Was kann ich denn dafür, wenn sie sich an mich heranmacht?

    Du hast     doch selber gesehen, wie sie mich an der Hand gehalten

    hat, als wir gehen wollten“.
-  „Das lügst du, dir hat das gefallen, andernfalls hättest du ihr gleich aufs
    Maul hauen und zur Wache schleppen sollen“.
-  „Na Glückwunsch! Danke Gott, dass keine Polizei in der Nähe war, sonst
    wären wir nach der Schlägerei wohl kaum einer Festnahme entgangen“.
-  „Weswegen denn?“
-  „Wegen Verletzung der öffentlichen Ordnung und nächtlicher Ruhestörung“.
-  „Aber sie hat doch angefangen, wie konnte sie wagen, die nächtliche
    Ruhe einer gesetzlichen Ehefrau anzutasten, das ist doch auch eine

    Verletzung der öffentlichen Ordnung...“
-  „Für Zärtlichkeiten wird man nicht bestraft, und die Schlägerei hast du als
    erste... mit dem Schirm...“
-  „Danke für deine Ausführungen. Ich habe ohnehin nicht die Absicht, noch
    länger in diesem verdorbenen Paris zu bleiben, wo man auf Schritt und
    Tritt nur Wilde trifft. Wir schauen nachher im Magasin vorbei und fragen,
    ob wir meine Sachen heute abend oder spätestens morgen früh abholen
    können - und dann fort aus Paris.
-  „Aber, Herzchen, von Paris selbst haben wir doch noch überhaupt nichts
    gesehen!“
-  „Wir nehmen uns heute eine Kutsche und schauen uns alles an. In die
    Weltausstellung, wo Wilde auf Wilden reiten und Wilde jagen, setze ich
    keinen Fuß mehr, damit du Bescheid weißt! Vor allem möchte ich mir das
    Quartier Latin angucken, wie das überhaupt so ist. So viel habe ich in den
    französischen Romanen vom Quartier Latin gelesen und bis jetzt noch
    nicht gesehen. Das muss interessant sein, das ist da, wo das

    Blumenmädchen Agnes gelebt hat, dort...“

Nikolai Iwanowitsch macht Anstalten, Einwände zu erheben, aber sie unter-
bricht ihn sofort: „Schweig - schweig! Jeder andere an deiner Stelle würde
    nach so einem Skandal ruhig sein und seinen Schwanz einziehen,
    aber du...“
-  „Nun hör mal, den Skandal hast doch du, und nicht ich...“
-  „Schluss jetzt!“.
Glafira Semjonowna verbietet ihrem Mann das Wort.

Sie brühen sich ihren Tee und verlassen erst nach 11 Uhr das Hotel. Es ist
Sonntag, Paris nimmt sich frei, Buden und Geschäfte schließen am Mittag.
Auf den Straßen sind überhaupt keine Arbeiter zu sehen, ebensowenig aller-
dings freie Kutschen, während mit Fahrgästen besetzte in ganzen Reihen
vorbeifahren, ebenso Omnibusse, überfüllt von Menschen in bunter Sonn-
tagstracht. Glafira Semjonowna, immer noch äußerst gereizt, rennt vorneweg,
Nikolai Iwanowitsch folgt ihr, und nachdem sie so durch zwei, drei Straßen
gelaufen sind, stellt Glafira verärgert fest: „Merkwürdig, keine einzige freie
    Kutsche!“
-  „Tja, Feiertag, schon alle weg. Siehst du, die ganze Stadt ist auf den Bei-
     nen, ich befürchte, dass dieses Louvre-Magasin  heute gar nicht geöffnet
     ist“.
-  „Sie lügen, das sagen Sie extra, damit wir noch länger in Paris bleiben.
    Aber geöffnet oder nicht - sowieso fahren wir hin“.

An der Ecke irgendeiner Seitengasse kommen sie an einem kleinen
Restaurant vorbei, vor dem an Tischen ein einfaches Publikum sitzt:

Männer in schwarzen Gehröcken, mit kurzen Pfeifen zwischen den

Zähnen, die Frauen in bunten Kleidern, offensichtlich ihrer Sonntagstracht,

einige von ihnen mit Blumenbuketts über der Brust geschmückt.

Sie trinken Kaffee oder Rotwein und frühstücken Sandwiches -

kleine Brötchen, längs aufgeschnitten und mit kleinen Scheibchen

Fleisch und Käse belegt.

Neben diesem  unscheinbaren Restaurant entdecken sie einen Zweisitzer,

dessen Kutscher, ein älterer, dicker Mann mit glattrasiertem, ungewöhnlich

gutherzigen, vollen Gesicht, seinem Pferdchen gerade einen Sack mit

Futter um den Hals hängt.

-  „Cocher! Vous êtes libre?“

Galant lüftet dieser seinen Hut und antwortet auf Französisch: „Ja, Madame,
   besetzt bin ich nicht, aber ich möchte frühstücken, il faut, que je prenne
   mon café. Wenn Sie warten möchten, bis ich fertig bin, stehe ich zu Ihrer
   Verfügung, c’est seulement un quart d’heure... Nehmen Sie doch Platz hier,
   bestellen Sie eine Kleinigkeit und warten Sie auf mich, ich bin bald soweit...“

Der Kutscher tritt von seinem Pferd herbei und rückt Glafira Semjonowna
einen Stuhl zurecht. Soviel Galanterie berührt sie doch, und lächelnd sagt
sie „Merci“.

-  „Ein erstaunlich lustiger Kutscher“, sagt sie zu ihrem Mann, „bittet zu war-
    ten, während er frühstückt... und dabei so höflich! Da können unsere noch
    was lernen. Hast du gesehen, wie er mir den Stuhl hingestellt hat? Naja,
    können wir nichts machen, warten wir eben auf ihn, freie Kutschen gibts
    sowieso nicht und zu Fuß zu laufen habe ich keine Lust... nun setz dich...
    bestell dir doch einen Happen zu essen, ich habe auch Hunger“.

Unser Ehepaar richtet sich am Tischchen gegenüber der Tür ein, in der

der Kutscher wieder erscheint, seine kräftigen Lippen genüßlich ableckend,

sich an einen Nebentisch placiert und Glafira Semjonowna mit einem Lächeln

anspricht: „Il fait beau temps, Madame, n’est-ce pas?“

Die antwortet nicht, sondern stößt unter dem Tisch ihren Mann an: „Mein
   Gott, er setzt sich nicht nur neben uns, er unterhält sich mit uns sogar über
   das Wetter...“
-  „Jetzt mach bitte keinen Skandal, tu mir einen Gefallen, keinen Skandal...“
-  „Was denn für einen Skandal? Er ist doch so höflich... aber ich weiß
    wirklich nicht, ob ich ihm antworten soll, falls er noch etwas sagt...
    immerhin ist er nur Kutscher“.
-  „Antworte ruhig, wenn du die Vokabeln kennst, schaden kanns dir nicht“.

Eine Frau in weißer Haube und Schürze und mit einem Blumenbukett auf
der Brust bringt dem Kutscher auf einem Tellerchen ein Stück Brot, Butter
und ein paar Radieschen an den Tisch, und der beginnt zu frühstücken.

Kapitel 63

Ein ungewöhnlicher Kutscher

Auf den Kutscher wartend, bestellt sich unser Ehepaar einige Sandwiches

und Rotwein und beobachtet neugierig, wie dieser, ihnen gegenüber sitzend,

seine kleine Mahlzeit zu sich nimmt. Nachdem die Radieschen vertilgt sind,

lässt er sich noch ein Stück Käse und ein Glas Rotwein bringen und setzt

sein Frühstück fort.


-  „Radieschen, Käse...schau an, schau an, er pflegt ganz nach aristokra-
    tischer Manier zu speisen“, stößt Glafira ihren Mann an, „so also leben die
    Kutscher in Paris: trinken zum Frühstück Rotwein“.

Der Kutscher, bemerkend, dass über ihn gesprochen wurde, lächelt sie an
und wünscht Glafira Semjonowna, als diese sich ein Stück Sandwich

abschneidet und zum Mund führen will, ihr zunickend: „Bon appétit, Madame!“
Glafira bedankt sich ebenfalls mit einem Nicken und murmelt leise zu
ihrem Mann: „Hast du gehört, er hat uns eindeutig angesprochen!“
-  „Höflichkeit, französische Politur“
-  „Na, es mag ja eine Menge Flegel hier geben, aber der ist schon etwas
   Besonderes“.

Seinen Wein austrinkend wendet sich der Kutscher erneut an Glafira
Semjonowna, als wolle er sich gleichsam entschuldigen, dass er sie
aufhielte: „Jetzt noch ein Tässchen Kaffee, Madame, und ich bin der Ihre“.

-  „Trinkt sogar noch Kaffee nach dem Frühstück - so ein Kutscher ist das!“
    übersetzt Glafira ihrem Mann.

Die Bedienung bringt dem Kutscher tatsächlich eine große Tasse Milch-
kaffee und der fängt bedächtig an, zu löffeln, fragt aber nach einigen
Schlucken: „Der Herr spricht kein Französisch?“, dabei Nikolai Iwanowitsch
zunickend.
-  „Non... en peut il comprend, mais ne parle...“ antwortet Glafira an seiner
    Stelle.
-  „Il me semble, Madame, que vous êtes russes... was Russen anbelangt,
    pflegt sich der Blick pariser Kutscher nicht zu täuschen...“
-  „Oui, nous sommes russes“.

Der Kutscher lüftet seinen karierten Hut und schnalzt mit der Zunge:
   „Brave nation... und ich darf hinzufügen, dass alle unsere Sympathien
    auf Ihrer Seite sind...“

Zu guter Letzt trinkt er den verbleibenden Kaffee aus seiner Tasse auf einen
Zug, legt das Geld für das Frühstück auf den Tisch und sagt, sich erhebend:
   „Jetzt stehe ich zu Ihren Diensten, Madame. Ich bedanke mich für Ihre
    Liebenswürdigkeit, auf mich zu warten und bitte Sie, die Equipage zu
    besteigen“.

Unser Ehepaar steht ebenfalls auf und geht zur Kutsche, Glafira voran.

Sowie sie nur einsteigen will und einen Fuß auf das Trittbrett setzt, offeriert
ihr der Kutscher, sich mit dem anderen auf seine verschränkten Hände zu
stellen. Glafira verwundert sich und hält inne.

-  „Steigen Sie nur auf meine Hand, Madame, steigen sie nur“ sagt der
   Kutscher und fügt hinzu: „Ja, jetzt sehe ich, dass der Herr Ihr Mann ist,
   Ehemänner sind immer schlechte Kavaliere“.

Glafira Semjonowna tut, wie ihr geheißen, setzt sich, bedankt sich und stößt
wieder ihren Ehemann an, der sich neben sie gesetzt hat: „Was für ein
   Kutscher ist das! Du lieber Himmel, so ein feines Benehmen, gar nicht wie
   ein Kutscher“.
-  „Will nur mehr Trinkgeld, deswegen schleimt er sich ein“.
-  „Aber hast du gesehen, wie geschickt er die Hände gereicht hat - ganz wie
    ein Offizier. Du musst auch berücksichtigen, dass er schon alt ist“.
-  „Alles gekünstelt, und den Alten fällt es noch leichter, sich zu verstellen“.

Der Kutscher ist mittlerweile auf den Bock gestiegen und sie fahren los.
Glafira Semjonowna schwärmt weiter: „Was für ein eleganter Kutscher,
   wirklich erstaunlich. Hast du das eben verstanden, er tadelte dich sogar,
   weil du mir nicht in den Sitz geholfen hast...“
-  „Dafür sollte er was auf die Mütze kriegen. Wie kann er sich herausneh-
    men, sich über Fahrgäste lustig zu machen?“
-  „Na na, mach mal langsam, vielleicht hättest du besser dem gestrigen
    Indianer-Weib eins auf die Mütze...  darauf bist du nicht gekommen.
    Aber jetzt einem zivilisierten Menschen, da will er...“
-  „Der soll nicht wagen, sich vor den Augen von deren Frauen über Fahr-
    gäste...“
-  „Hör doch auf, Nikolai Iwanitsch, hör auf. Das tut mir schon leid, dass ich
    dir das überhaupt erzählt habe...“

Als sie ankommen, dreht sich der Kutscher voll zu ihnen um und sagt: „Les
    Magasins du Louvre - heute am Sonntag geschlossen, aber ich empfehle
    ihnen, sie zu besuchen - an einem anderen Tag“.
-  „Comment fermé? Ah, comme ce dommage!“ ruft Glafira enttäuscht, „Niko-
    lai Iwanowitsch, das Geschäft ist tatsächlich zu“.
-  „Hab ich dir doch gesagt“.
-  „Wie komme ich denn jetzt an meine Sachen - ich möchte absolut keinen
    Tag länger bleiben...Cocher! Peut on постучать un peu a la porte? Peut-
    être отворят. Ouvrier могут? Oui?  ... Da gibts bestimmt irgendsoeinen
    Diensthabenden... arrêtez, cocher...“

Glafira lässt ihn halten, steigt aus und sucht neben der Eingangstür des

Geschäftes eine Klingel. Da sich keine auffinden lässt, beginnt sie zu klopfen.

-  „Das ist sinnlos, Madame“, ruft der Kutscher, „heute öffnet niemand, alle
    Employees haben ihren freien Tag, befinden sich außerhalb der Stadt an
    der frischen Luft und verbringen ihre Zeit mit der Dame ihres Herzens“.

Glafira Semjonowna klopft trotzdem noch einige Male, setzt sich wieder in
die Kutsche und bemerkt verärgert zu ihrem Ehemann: „Na egal, dann
    bleiben wir eben noch einen Tag länger, aber schreibs dir hinter die Ohren,
    in deine Ausstellung mit den verfluchten Wilden mache ich keinen Schritt...
   Cocher! Quartier Latin! Je vous prie...“ befiehlt sie dem Kutscher.

Kapitel 64

Vom Nutzen des Lesens

Sie fahren fast nur im Schrittempo, da sich der Kutscher jede Minute

zu seinen Fahrgästen herumdreht und auf irgendein Gebäude weist,

sprechen tut er ohnehin ohne Pause. Abwechselnd zeigt sein Gesicht

ein Lächeln oder einen ernsteren Ausdruck, spricht er mit Begeisterung

oder in einemtraurigen Tonfall, mal schnalzt er mit der Zunge, mal nickt er.

Offensichtlich ist er selbst ein großer Verehrer der Stadt.

-  „Wunderbar kann er sprechen, aber versteh mal einer, was er da alles
     sagt“,  bemerkt Nikolai Iwanowitsch zu seiner Frau, „Verstehst du irgend-
    etwas, Glascha?“
-  „Ehrlich gesagt, auch nicht viel. Eigentlich schade. Die Namen von Kirchen
    und Straßen, das ja. Gerade sind wir an der Börse vorbeigefahren, der
    Marquis de Clermont hat da alles verloren“.
-  „Was denn für ein Marquis Clermont?“
-  „Aus dem einen Roman, weißt du nicht mehr, habe ich dir vorgelesen“.
-  „Also nein, was du wieder erzählst, ich dachte, es handelte sich um einen
    richtigen...“
-  „Alles verloren, und ist dann Stiefelputzer geworden. Hast du doch sogar
    selber gelesen, oder?“
-  „Soll ich mir alles merken? Du weißt doch, wie ich lese. Liege gemütlich auf
    dem Sofa, öffne das Buch und nach einer Minute bin ich eingeschlafen.
    Lesen ist für mich wie ein Schlafmittel“.
-  „Nun, ich kann mich an meine Lektüre erinnern. Die pariser Straßen sind ja
     deshalb so interessant für mich, weil sie in den französischen Romanen
     beschrieben wurden. Darum will ich auch ins Quatier Latin - da kenne ich
     schon alles in- und auswendig“.

Endlich weist der Kutscher sie darauf hin, dass sie angekommen seien.
-  „Ja, hmm...schon nicht mehr so viele Menschen auf den Straßen wie im
    Stadtzentrum...“, neugierig guckt Glafira nach links und  rechts, „Mer-
    ci, cocher, merci...hier leben also diese Studenten, Grisetten, Arbeiter und
    Blumenverkäuferinnen...“ sagt sie zu Ihrem Mann.
-  „Hm...soso“, gähnt dieser.
-  „Interessiert dich das gar nicht, Nikolja? Also ich finde das hier wesentlich
    aufregender als die Ausstellung“.
-  „Boulevard St.Michel!“ verkündet der Kutscher, als sie auf eine breite
   Straße einbiegen.
-  „Ach, das also ist der Boulevard St.Michel!“ ruft Glafira aus, „ja, so habe
   ich ihn mir vorgestellt, genau wie der große Prospekt auf der Wassiljewski-
   Insel... unheimlich viele haben über ihn geschrieben... unglaublich... hier
   lernt die Weißnäherin Klotilde den Medizinstudenten Maline kennen... und
   hier muss irgendwo das Restaurant sein, wo sie das erste Mal frühstücken.
   Das Restaurant gehört ihrer Tante Pâté... Siehst du, alles weiß ich noch!“
-  „Ach, das phantasierst du doch...“
-  „Nein, stimmt überhaupt nicht, das wird sogar ganz genau beschrieben:
    Über dem Eingang eine Uhr, und darüber hängt ein Hirschgeweih... ich
    würde es sofort wiedererkennen, wenn wir drin wären...“
 Nikolai Iwanowitsch streckt sich: „Na gut, lass uns reingehen.. jetzt würde
    ich gern ein Gläschen Roten trinken, dem Kutscher können wir ja auch
    etwas anbieten...“
-  „Moment, erstmal müssen wir es finden.. Cocher! Vous savez où est
    restaurant de tante Pâté?“
-  „Quel numéro, Madame?“
-  „Die Hausnummer... woher soll ich die wissen! Je ne sais pas...“
-  „Alors il faut chercher. C’est un restaurant russe?“
-  „Как russe? Francais. Tante Pâté wird beschrieben als gutherzigste
    Frau der Welt. Als Klotilde ein Unglück widerfährt und sie ein Kind be-
    kommt, nimmt sie sich ihrer an, als Klotilde krank wird und im Krankenhaus
    liegt, füttert sie es mit Ziegenmilch, ... siehst du, an alles kann ich mich
    erinnern...“
-  „Boulevard St.Germain!“ zeigt der Kutscher.
-  „An den kann ich mich auch erinnern... da lebte in einem Mansarden-
    zimmer...“
-  „Nun hör schon auf...“
-  „Aber warum denn? Das ist doch eine schöne Erinnerung, er war in einer
    Apotheke angestellt....“
-  „La Rue des Ecoles, la Rue St.Jacques...“ zeigt der Kutscher.
-  „Ja, ich weiß... kenne ich alles...“
-  „C’est la Sorbonne...“
-  „Ach, die Sorbonne, das ist sie also... Nikolai Iwanowitsch, guck dir die
    Sorbonne an! Josephe und Lazar haben hier studiert... interessant...
    hier haben sie bei einem Antiquar die Handschrift aus dem 16.Jahr-
    hundert gefunden, nach der  sich Josephe als Nachkomme des Herzogs
    Aubrais herausstellte sowie als  Alleinerbe seiner Millionen...“
-  „Hmm..hm...soso... aber, Liebling, das interessiert doch niemanden“.
-  „Wieso denn, wenn das von den Leuten gelesen wird, kann es doch nicht
     uninteressant sein“.
-  „Also ich habs nicht gelesen. Außerdem ist in Romanen immer alles
    erfunden“.
-  „Erfunden? Da guck doch hin, auf den Gittern liegen die Bücher, und die
    Antiquare stehen daneben, genau wie’s im Roman steht,  alles
    stimmt... siehst du die Antiquare?“
-  „Sicher, sicher... aber du wolltest doch dieses Restaurant suchen, dann
    such doch lieber...“
-  „Ach, immer willst du in ein Restaurant, du bist unersättlich!“
-  „Blöde Kuh, doch nur wegen dir, du wolltest doch...“
-  „Collège de France“ zeigt der Kutscher.
-  „Jaja, kenne ich gut ...Collège de France... da müsste es eine Taverne
    mit dem  Namen ‘Füllhorn’ geben.. diese da, wahrscheinlich ist es diese
    da...“  Glafira zeigt lebhaft auf ein schmuddeliges Restaurant, vor dem
    in grauen Arbeitsblusen zwei Herren mit schwarzen Hüten stehen.
-  „Na, dann lass uns doch gucken.. wenn du meinst...“ verlangt Nikolai
    Iwanowitsch.
-  „Ich würde gern, hier hat nämlich der Graveur Carot beim Würfelspiel seine
    Frau an den Künstler Brûlée verloren... ich weiß bloß nicht, ob das hier
    war“.
-  „Dann frag, frag beim Kutscher“.
-  „Würde ich ja, aber ich weiß nicht, wie Füllhorn auf französisch heißt.
    Cocher! Cocher! Comment on nomme cette taverne?“
-  „Connais pas, Madame... Mais si vous voulez visiter un restaurant où il y a
    une dame, qui parle russe, alors - voilà“ und zeigt auf die andere Straßen-
    seite.
-  „Was hat er gesagt?“ fragt Nikolai Iwanowitsch.
-  „Er hat auf ein Restaurant gezeigt, in dem es eine Dame geben soll,
    die Russisch spricht“.
-  „Da müssen wir unbedingt hin - warum hast du ihn denn nicht angewiesen,
    zu halten?“

 

Kapitel 65

Mme Bavolets Weinausschank

Das kleine Restaurant, welches unser Ehepaar jetzt betritt, ist als

solches eigentlich nicht zu identifizieren, man könnte es mehr

als Weinausschank bezeichnen, in dem, außer Wein natürlich,

auch Brot, Eier, Radieschen und Pastinaken erhältlich sind.

Diese Gegenstände zumindest liegen, neben den Metalltrichtern,

mittels derer der Wein in Flaschen abgefüllt wird, auf der

Marmortheke herum, hinter der eine stark auseinandergeflossene,

schon nicht mehr junge Dame präsidiert, der eine Art hoher Kamm,

mit Perlen verziert, in der Frisur steckt.

Sie ist brünett und von einer eindrucksvollen Größe,

ebenso wie ihre geschwungenen, eindeutig nachgezogenen Augenbrauen

und trägt einen dünnen Oberlippenbart und ein schwarzes Wollkleid.
Mit ihren fleischigen Händen und wurstähnlichen, mit billigen Ringen

geschmückten Fingern erreicht sie kaum ihren Bauch, ihre durch

das Korsett eingeschnürten Brüste wölben sich gebirgsartig hervor.

Zwei schmale, magere Franzosen stehen am Tresen und machen ihr

schöne Augen, der eine mit Ziegenbart, der andere mit herabhängendem

Schnauzer, wie ihn Kakerlaken tragen.

Der Ausschank besteht aus nur einem Raum mit schmutzigem Fußboden,
auf dem sich Eierschalen und Reste von Rübchen tummeln, an den Wänden
befinden sich schlechte Lithografien in rissigen, fliegenübersäten Holzrahmen
oder einfach nur so angeklebte billige Farbdrucke in volkstümlicher Manier,
die in kräftigen Farben die Erschießung von Elefanten bei irgendeiner

Belagerung oder eine Karte Europas zeigen, in der ein grimmiger Bär liegt,

wo Russland und eine Pickelhaube, wo Preussen ist und dergleichen mehr.

Es riecht nach Wein. Tische gibt es mehrere, aber nur zwei sind besetzt.

An einem spielen zwei Franzosen, den Gehrock abgelegt, Domino,

am anderen liest ein einsamer Besucher in hoher Schirmmütze,

eine Flasche Wein vor sich auf dem Tisch, aufmerksam das ‘Petit Journal’.

Es gibt nur eine Bedienung, ein sehr junges Mädchen mit Wachsschürze

und Kellnerbörse am Gürtel.

Eingetreten, macht Glafira Semjonowna unwillkürlich einen Schritt zurück:
   „Was ist das denn für eine Kaschemme.... hier sollen wir rein?“ murmelt sie
   mit einem Blick auf die ohne Jackett dasitzenden und die billigen, dünnen
   ‘Caporal’ dampfenden Dominospieler.
-  „Na und - kennt uns jemand hier? Dafür sehen wir eine Französin, die
    Russisch kann“, antwortet ihr Mann, „setz dich nur“.

Sowie sie sitzen, kommt das Mädchen und schaut sie fragend an.

-  „Nun, wer von Ihnen spricht denn nun russisch? Sie, Mamsell, oder?“
    fragt Nikolai Iwanowitsch.
-  „Comprends pas, Monsieur...“
-  „Wie, nicht verstehen... man hat uns versichert, hier spräche man russisch“.
-  „Nous sommes Russes et Cocher nous a dit, que ici parlent russe...“ so
    Glafira.
-  „Ah, oui, c’est ça...“ lächelt das Mädchen, dreht sich um und ruft: „Madame
    Bavolet! Voilà des personnes russes, qui désirent vous voir...“

Die Dame hinter der Theke lächelt ebenfalls und begibt sich zum Tisch: „Ah,
    que j’aime les russes! Monsieur et Madame sont de Pétersbourg ou de
    Moscou?“ und weiter im besten Französisch: „Ich selbst war in beiden
    Städten und habe mir seit dieser Zeit die allerbesten Erinnerungen an die
    Russen bewahrt...“.
-  „Moment, Moment, Madame“, unterbricht sie Nikolai Iwanowitsch, „spre-
     chen Sie denn auch Russisch?“
-  „Да, я говорю по-русски, mais à présent c’est très difficile pour mois -
    Madame parle français?“ wendet sie sich an Glafira.
-  „Oui, Madame, un peut...“, kommt ein wenig unwillig die Antwort.
-  „Da sag ihr doch, dass sie sich setzen soll..“ verlangt Nikolai Iwanowitsch.
-  „Prenez place, Madame“.

Die Dame nimmt sich einen Stuhl, setzt sich zu ihnen und erklärt

auf Französisch: „Ich bin eine Künstlerin, ach, Monsieur, wenn Sie wüssten,

   was für eine Stimme ich hatte... aber dann erkältete ich mich, wurde krank

   und verlor mein Kapital. Ich bin Sängerin, ich bekam ein Engagement

   für Petersburg.    In Moskau war ich auch... Vous devez savoir Egarew?

   Jardin de Demidow?
   Демидов сад?... das war meine Arena... Ah, Monsieur, die Russen wissen,
   Talente zu würdigen, sie wissen wahre Künstler zu schätzen!“
-  „Ja, sprechen Sie denn nun russisch?“ wieder unterbricht sie Nikolai

    Iwanowitsch.
-  „Oh, oui, Monsieur, je me souviens de quelques mots... Isvostschik...Vino..
    Vodka...Botvigne... о, какое это вкусное русское блюдо - ботвинья!
    Botvigne mit Lachs...“
-  „Ja, wirklich hübsche Vokabeln, aber nur Wörter...und sprechen können
    Sie nicht? Parler russe - ne comprenez?“
-  „Да, да... я говорила по-русски - aber wegen mangelnder Praxis hab
    ichs vergessen. Hier gibts russische Studenten, die kommen oft vorbei,
    und oft erinnern wir uns an Russland... Moujik, Boulka, na Tschai.. tri
    roubli na Tschai... c’est pour boire...“
-  „Das ist ja nicht viel, Madame, peu russe, peu, peu“.
-  „Oui, oui, Monsieur, à présent, j’ai oublié... mais votre Madame vous
    traduit... et troika! Ach, wie war das schön... Troika, iamtshik -
    ganz entzückend...“
-  „Glascha! Was erzählt sie denn?“
Glafira übersetzt, soweit sie es vermag.

-  „Ach so, Künstlerin...“ ruft Nikolai Iwanowitsch, „erinnert sich an Egarew
   und Demidows Park... Sehr angenehm, Madame“, drückt er die Hand der
   dicken Dame, und, zu seiner Frau gewandt: „Was ist angenehm auf
   Französisch?“
-  „Charmant“.
-  „Charmant, charmant, Madame, dass sie Künstlerin sind“.

Die Dame lebt auf und ergreift nun ihrerseits Nikolai Iwanowitschs Hand:
   „Да, Künstlerin war ich, und was für eine! Mit Blumen haben sie mich
    überschüttet...“ und fährt, in etwas gesenkterem Ton, fort: „Nun finde
    ich mich in diesen Umständen wieder... ich führe diesen Ausschank,
    un petit cabaret... das hier ist meine Bar... sie gehört mir und

    gottseidank bin ich damit zufrieden...“
-  „Da weiß der Teufel, was sie plappert! Na, schon egal...“ winkt Nikolai
    Iwanowitsch ab, „Madame: Vous - artiste, a nous - marchands... bouvons!“
-  „Qu’est que vous voulez prendre, Monsieur?“
-  „Vin rouge и на закуски виноград. Raisins, raisins... но bien vin...“
-  „Du bon vin? Il faut chercher, Monsieur. Mademoiselle Marie!“ sie gibt der
    jungen Bedienung einen großen Schlüssel, flüstert mit ihr und „Tout de
   suite, Monsieur, vous recevez...“ nickt sie Nikolai Iwanowitsch zu, ergeht
   sich erneut in Erinnerungen und baut dabei Wörter wie Gostinoi Dvor,
   Pirogue, Kvasse, Stierliat, Tschelovek und Kosak in ihre Rede ein.

Keine fünf Minuten später stellt das Mädchen eine von irgendwoher geholte
Flasche Wein sowie Gläser auf den Tisch.
-  „Voyons, Monsieur, c’est quelque chose d’extraordinaire“ behauptet die
    Wirtin, mit dem Finger gegen die Flasche schnippend, und schenkt ein.


                                             

Kapitel 66

Ankor Champagne!

Madame Bavolet, die in die Breite gegangene Wirtin des Weinausschanks,
in dem unser Ehepaar gelandet ist, stellt sich als tüchtige Trinkerin heraus.
Beim Einschenken der Gläser ertönt ihr heiserer Contralto: „Ah, que j’aime
   les russes! Ah, que je suis bien aise de voir Monsieur et Madame! Buvons-
   sec! Avec les russes il faut boire à la russe - tvoe zdorovie douschinka!“
   mit diesen drei Wörtern Russisch stößt sie mit den Eheleuten an, trinkt
   ihr Glas auf einen Zug aus und stellt es sich umgedreht auf den Kopf, ihren
   Kamm zum Klimpern bringend.


-  „Ой, баба, kann die trinken“, stößt Glafira unwillkürlich hervor, sie staunend
    betrachtend, „was für eine ordinäre Schlampe...“
-  „Na na, sag nicht sowas... immerhin ein Mensch, der in Russland war ...
    und freundlich...du siehst doch, wie gut sie Russisch kann...“ wirft
    Nikolai Iwanowitsch sofort ein und kippt sein Glas ebenfalls.

Glafira Semjonowna nippt nur an ihrem, was dem Blick der Wirtin nicht

entgeht: „Aber nicht doch, Madame... so geht das nicht, so trinken Russen nicht.
    Bis zum Boden austrinken...“ sagt sie auf Französisch und bedrängt Glafira
    Semjonowna, ihr Glas ebenfalls ganz zu leeren.
Diese lehnt ab. Da die Wirtin darauf besteht, kommt Nikolai Iwanowitsch seiner

Frau zu Hilfe: „Wie heißt denn Kopf auf Französisch?“
-  „La tête“.
-  „Sie ist krank... bei ihr la tête ist krank...“ erklärt er der Wirtin, auf den
   Kopf seiner Frau zeigend.
-  „Mais c’est du bon vin, Madame, que je vous donne, davon bekommt man
   keine Kopfschmerzen. Kennen Sie Monsieur Petichevsky in Petersburg?
   Er müsste jetzt Oberst sein... ach, wie war das lustig mit ihm damals, so
   ein fröhlicher Mensch, liebte das Trinken... und reich war er... beaucoup
   d’argent... много деньги...“

Ohne Unterbrechung plappernd zählt sie alle Straßen und französischen
Restaurants in Petersburg auf, an die sie sich erinnert: „Newski.. Grand
    Morskaja, Restaurant Borel... Samarkand... die sind doch jetzt bestimmt
    noch viel schöner als damals... N’est-ce pas, Monsieur? Und die Newa?
    Ein reizender Fluss...“

Irgendwie versteht unser Ehepaar die Französin, irgendwie befriedigen sie
auch deren Neugier, in einem gebrochenen Französisch, durchsetzt mit
russischen Wörtern und begleitet von Gesten, wobei Glafira zwischendurch
schon gähnen muss. Ihr behagt die Gesellschaft dieser ihrer Meinung nach

zu aufdringlichen und frechen Ex-Sängerin gar nicht, welche unverdrossen
weiter erzählt:  „Alle meine Bühnenkolleginnen verfügen jetzt über Kapital,
   aber mir, als Lohn für meine Herzensgüte, sind nur Krümelchen zuge-
   fallen, die mich gerade befähigten, diesen Ausschank hier zu eröffnen...
   Да, Monsieur, gut hatte ich gelebt, aber dann Stimme und Figur einge-
   büßt... et les circonstances...“, sie macht eine kleine Pause, ehe sie
   endet, „jetzt bin ich eine arme Witwe und weiter nichts...“

-  „Witwe, eine Witwe ist sie...“ übersetzt Glafira, sich auf das Wort konzen-
   trierend, das sie verstanden hatte, „sie sagt, sie sei eine arme Witwe...“
-  „Witwe? Wie offen sie spricht, ihr ganzes Leben hat sie uns erzählt...“
   sagt Nikolai Iwanowitsch erstaunt und gerührt, klopft der Wirtin familiär
   auf die Schulter und fügt hinzu: „Ich liebe Madame für Ihre Offenherzig-
   keit. Glascha! Wie heißt das auf Französisch? Übersetz!“
-  „Weiß ich nicht“.
-  „Also so eine... nichts weiß sie. Für Ihre Seele liebe ich Sie, Madame, für
   Ihre Seele. Vous comprenez? Non? Glascha, wenigstens Seele wirst du
   doch kennen?“
-  „Душа - l’âme“.
-  „Für l’âme, Madame, liebe ich Sie, für votre l’âme. Für Ihre gute, herzliche
    Seele. Pour votre bien l’âme...“

Die Französin versteht, ergreift seine Hand und ruft, sie dabei kräftig
drückend, aus: „Merci, Monsieur... благодарю... jetzt fallen mir auch wieder
   russische Wörter ein...“

Nikolai Iwanowitsch möchte nachschenken, aber die Flasche ist bereits leer.
Die Wirtin bemerkt das und sagt: „Diese Flasche ging auf mich, Monsieur,
   c’est de moi, c’est pour les voyageurs russes que j’adore, und jetzt müssen
    Sie sagen, was Sie wünschen“.
-  „Eingeladen hat sie uns zu der Flasche“ übersetzt Glafira ihrem Mann und
    setzt hinzu:  „also sowas! Uns Ausländer hat bisher noch niemand einge-
    laden!“

Die Gastfreundschaft Madame Bavolets stimmt sie ihr ein wenig geneigter:
   „Merci, Madame“, bedankt sie sich und, zu ihrem Mann gewandt: „Es ist
    mir zwar nicht lieb, dass du noch mehr trinkst, aber jetzt müssen wir uns
    natürlich auch mit einer Flasche revanchieren“.
-  „Unbedingt, unbedingt...“ beeilt sich Nikolai Iwanowitsch, bedankt sich nun
    auch seinerseits bei der Wirtin und ruft:  „Eine Champagnerflasche!
    Champagner, Madame!“

Dieser findet sich in der Weinschenke allerdings nicht an, und so eilt
die Wirtin, ihr Mädchen nach ihm zu schicken. Die Flasche wird von ihr dann
selbst entkorkt und eingeschenkt.
-  „Auf die Franzosen! Pour les français!“ ruft Nikolai Iwanowitsch aus.
-  „Vive la France! Vive les français!“ antwortet die Französin, erhebt sich vom
    Stuhl, den Rücken gestreckt, zu ihrer vollen, eindrucksvollen  Größe und
    reckt, effektvoll und heldinnenhaft, wie im Theater, ihren Pokal in die Luft.

In den Ausruf „Vive la France“ stimmen auch die Dominospieler ohne Jackett
ein, woraufhin Nikolai Iwanowitsch noch zwei Gläser bestellt und sie einlädt,
mitzutrinken, sich auf Russisch vorstellend. Sie nehmen die Einladung an,
rufen „Vive la Russie“ und setzen sich zu ihnen an den Tisch. Ihr vor der Tür
wartender Kutscher, das feierliche Krakeelen vernehmend, schaut nach dem
Rechten und wird von Nikolai Iwanowitsch gleichfalls eingeladen. Eine Flasche

stellt sich als zu wenig heraus, so dass Nikolai Iwanowitsch genötigt ist,    

die nächste zu ordern.

-  „Deux bouteilles, deux! Две бутылки!“ befiehlt er der jungen Bedienung,
   wird jedoch von Glafira Semjonowna am Ärmel gezupft: „Das reicht doch
   jetzt, bestell nicht noch mehr. Du kannst mein Glas dem Kutscher geben,
   ich trinke sowieso nichts...“, aber Nikolai Iwanowitsch ist nicht mehr
   aufzuhalten.
-  „Aber nicht doch, Glaschenka. Wir trinken hier auf die Russen und auf die
    Franzosen, da glaubst du doch nicht im Ernst, ich würde mich auf eine
    Flasche beschränken! Anderswo befiehl, was du willst, und ich werde
    gehorchen - aber hier: auf keinen Fall!“

Als die Flaschen erscheinen, sitzt der Kutscher bereits bei unseren

Eheleuten und bemüht sich intensiv, ihnen etwas zu verdeutlichen,

dabei auf seine Brust zeigend und das Wort ‘royaliste’ erwähnend,

aber beide können ihm nicht folgen.

Die Wirtin wird immer lebhafter, streitet zunächst mit einem der Franzosen

ohne Jackett, mit einer besonderen Begeisterung immer wieder den

Namen des Kaisers Louis Napoleon erwähnend, dabei dem Kutscher

die Hand reichend, um dann, sich unserem Ehepaar zuwendend,

erneut ausdauernd für Petersburg zu schwärmen und schließlich,

sich mit ihrem Champagnerglas in der Hand in die Mitte des Gastraumes

stellend, mit ihrem brüchigen, heiseren und in den Bass übergehenden

Kontraalt das bekannte Chanson „Ah, que j’aime les militaires“

anzustimmen.

Der Gesang ist schrecklich und von andauerndem Husten unterbrochen,

trotzdem bricht Nikolai Iwanowitsch und mit ihm das gesamte männliche
Publikum in Begeisterung aus, nach jedem Couplet Bravo rufend und wie
rasend applaudierend.

Glafira Semjonowna ist schon am Schmollen und liegt ihm ständig in den
Ohren, doch nach Hause zu fahren, aber er schenkt ihr keine Beachtung,
und bemerkend, dass auch die beiden neuen Flaschen geleert sind, klopft
er mit ihnen auf den Marmortresen und befiehlt: „Encore champagne!
Encore deux bouteilles! Auf die Franzosen zu trinken, hab ich immer Lust“.

 

Kapitel 67

Cancan

Das spontane Gelage, von Nikolai Iwanowitsch im Ausschank der

Madame Bavolet inszeniert, nimmt jetzt Fahrt auf.

Mittlerweile ist die achte Champagnerflasche ausgetrunken und auf

dem Tisch steht ein Weidenkorb, in dem sich riesige Birnen und

Weintrauben türmen. Die ganze Gesellschaft, bestehend aus

unserem Ehepaar, der Wirtin selbst, den beiden Franzosen im
Hemd sowie dem Kutscher, wird zunehmend hitziger und lauter.

Eine Ausnahme stellt Glafira Semjonowna dar, ihren Gatten anflehend,

nach Hause zu fahren, aber von Nikolai Iwanowitsch ignoriert.

Wie es häufiger bei vom Wein enflammierten Menschen zugeht,

sprechen alle gleichzeitig und niemand hört irgendjemandem zu.

Nur selten dringt das Russisch Nikolai Iwanowitschs gegen die Reden

seiner Gesprächsteilnehmer durch. Niemand kann ihn verstehen,

obwohl er anderes glaubt.
Er ergeht sich in Händeschütteln und gegenseitigem Schulterklopfen

mit den Franzosen, mit dem einem, der in jedem zweiten Satz

Elsass-Lothringen erwähnt, kommt es sogar zum Austausch von Küssen.

Getrunken wird auf die Russen allgemein, im Einzelnen noch auf die
Kosaken sowie einem nicht ganz verständlichen Grund auf die Sappeure.

Dieser letzte Toast wird von Madame Bavolet dargebracht, die sich
daraufhin erneut in die Raummitte begibt und, sich in einer theatralischen
Pose aufstellend, ein zweites Chanson zum Besten gibt, diesmal zur Ehre
der Sappeure: „Rien n’est sacrée pour un sapeur“.

Wieder Bravo-Rufe, wieder großer Applaus, obgleich der Vortrag schon
nicht mehr als mittelmäßig bezeichnet werden kann, da die außerordentliche

Menge des genossenen Alkohols die Stimme der Wirtin gänzlich ruiniert hat.

Auf Klatschen und Beifallsrufe scheint sie allerdings großen Wert zu legen,

sie erinnern sie an ihre Vergangenheit am Theater. Wie ein alter,

ausgemusterter Kavalleriehengst, den Ton von Flöten und Trommeln

vernehmend, selbst kurz vor dem Schindanger anfängt, im Takt aufzutreten

und die Beine in früher erlernten Schrittfolgen zu setzen, so streckt sich

auch Madame Bavolet beim Applaus zu ihrer vollständigen, mächtigen Größe,

drückt die Hand ans Herz und verbeugt sich. Einer alten theaterhaften und theatralischen Gewohnheit zufolge sendet sie Nikolai Iwanowitsch sogar

einen Luftkuß mit den Worten „Pour mon bon russe“.

Sofort flammt Glafira Semjonowna vor Eifersucht auf: „Na gut, ganz wie du
   möchtest, aber wenn du jetzt nicht mitkommst, fahre ich allein nach Hause“.
-  „Sofort, Glaschenka, gleich fahren wir, warte noch einen Moment... es ist
    doch das erste Mal, dass wir in Paris richtige, herzliche Menschen getrof-
    fen haben...“, rechtfertigt er sich, „und alle so warmherzig...“
-  „Aber versteh doch, ich habe Hunger, ich muss etwas essen. In dieser
    Kaschemme gibts doch nichts außer faulen Eiern und Radieschen, das
    ist doch kein Abendessen“.

Als sie sieht, dass Glafira Semjowna Anstalten macht, zu gehen, kommt

auch die Wirtin und versucht diese zu überreden, noch zu bleiben.

-  „Mais nous voulons dîner, nous n’avons pas encore dîner aujourd’hui...“
-  „Dîner? Vous n’avez pas dîné, Madame? Alors tout de suite je vous procu-
    rerai le dîner...“ und die Wirtin schickt nach einem Abendessen.

Es erscheinen Hummer, Schinken und kalte Pastete. Ersterer lässt Glafira
wieder schmollen, sie probiert nur den Schinken, um ihren Hunger zu betäuben.

Um den Hummer kümmern sich die Franzosen ohne Jackett.

Die künstlerischen Vorstellungen der Wirtin gehen davon unbeeindruckt weiter.

Es folgen weitere Chansons und eine Operettenarie. Der Versuch eines
Duetts mit einem der jackettlosen Franzosen scheitert aufgrund beider
Trunkenheit, alle Darbietungen werden jedoch begleitet vom Lüpfen des
Rockes und weitausholenden Gesten und enden mit einem Cancan.

Ein wenig unbeholfen hüpft Madame Bavolet mit ihrem ungeheuren Leib

durch den Weinausschank, wobei das ein oder andere Mal Tische und
Stühle im Weg sind, und nur unter Schwierigkeiten schafft sie es, ihre
elefantenähnlichen, unförmigen und dicken Beine in die Luft zu werfen.

Dessenungeachtet tanzt einer der Dominospieler hingebungsvoll und
begeistert um sie herum, was sie veranlasst, schnaufend und nach Atem
ringend, ihm noch einige aufreizende Frivolitäten zu präsentieren.
Auch Nikolai Iwanowitsch betrachtet sich das Schauspiel ergeben und
mit angehaltenem Atem, um schließlich der Verführung zu erliegen.

-  „Das war Frankreich, aber so tanzt man à la russe!“ ruft er aus und

springt in die Mitte, um selbst einen Tanz vorzuführen.

Diesen Anblick nun vermag Glafira Semjonowna nicht zu ertragen, bricht in
Tränen aus und läuft aus dem Ausschank.
-  „Glascha! Glascha! Wohin willst du denn, warte doch...“ mit diesen Worten
    läuft Nikolai Iwanowitsch ihr hinterher, sie bittend, noch zu bleiben.
-  „Nein, ich kann nicht mehr, es reicht!“ Aufgelöst und unter Tränen, aber
   höchlich verärgert steht sie in der offenen Kneipentür und ruft hinunter:
   „Cocher! Je veux nach Hause... je veux à la maison. Venez-ici et partons
   à la maison...“

Der Kutscher kommt herbeigelaufen, stellt teilnahmsvoll fest: „Madame est
    malade, je vois que Madame est malade...“ und macht sich anheischig,
    sie in die Kutsche zu setzen.
-  „Lass mich doch kurz den Wein bezahlen und abrechnen - dann fahre ich
    mit dir...“ bittet Nikolai Iwanowitsch.
-  „Teufel du! Diable! Herzloses Vieh! Ich will nicht mit dir fahren! Bleib doch
    bei deiner besoffenen Gesellschaft, begib dich doch in die Arme dieses
    unverschämten Luders... den Kutscher kann ich selbst bezahlen...
    Da wollen wir mal sehen, wie du dich allein durch Paris schlägst ohne
    Französisch! Cocher! Allez, allez, Cocher...!“ befiehlt Glafira dem

    mittlerweile auf den Bock gekrabbelten Royalisten.
-  „Aber ich komme gleich...“ murmelt Nikolai Iwanowitsch und wendet sich
    um: „Madame! Combien? Сколько argent?“, aber die Kutsche  bewegt
    sich schon und der Kutscher treibt das vom langen Stehen müde
    Pferdchen an.
-  „Glascha! Glascha! Nun warte doch...“ ruft Nikolai Iwanowitsch hinterher,
    und jetzt kommen auch Madame Bavolet und die beiden Franzosen auf
   die Straße gelaufen.
-  „Madame est partie...?“ bemerkt leicht spöttisch die Wirtin, „mir scheint,
   Madame ist ein wenig kapriziös, aber weinen Sie nicht, wir werden uns
   schon gut ohne sie amüsieren...“ und zieht Nikolai Iwanowitsch, ihn bei der
   Hand fassend, wieder in ihren Ausschank zurück.

 

Kapitel 68

Gott wird richten

In der Gesellschaft allein zurückgelassen, fühlt sich Nikolai Iwanowitsch

völlig sprachlos. Trotz allem war Glafira ja eine Art Übersetzerin gewesen,

sein eigener Wortschatz ist eng begrenzt und umfasst ausschließlich

Vokabeln aus dem Bereich alkoholischer Getränke, worüber er schon

selbst geflucht hat.
Nichtsdestoweniger geht die Zecherei weiter, und gezwungen, sich mit den
Flaschenkumpanen pantomimisch zu verständigen, tut er auch dies,

um seine Wortbeiträge zu präzisieren. Trotz der durch den Weingenuß

schwereren Zunge redet er ohne Unterlass, und, o Wunder, mit der

Unterstützung von Händen und Gesten versteht man ihn irgendwie,

obwohl er über alles spricht: über Petersburg, über sein Leben dort,

über die Frau und das Geschäft.

-  „Ma femme bien femme, но она не любит boire vin, non boire vin...“
    erklärt er das plötzliche Verschwinden Glafiras, tippt, zur Verdeutlichung,
    mit dem Finger gegen die Flasche und schüttelt den Kopf.
-  „Oh, Monsieur, presque toutes les femmes sont de cette façon...“
    antwortet einer der Franzosen.
-  „Ehemänner und Ehefrauen - die sind doch alle unglücklich. Ich weiß
    das aus Erfahrung...“, stimmt auch Madame Bavolet mit einem schon
    sehr geröteten Gesicht bei, „jetzt bin ich Witwe und würde um keinen
    Preis meine Freiheit aufgeben...“

Mit aufgelöster Frisur und zur Seite neigendem Haarkamm,

mit verschwitztem Gesicht und verschmierter Schminke ist sie

hinreichend betrunken, verlangt aber von Nikolai Iwanowitsch,

mit ihm anstoßend: „Auf Ex, Monsieur!“
-  „Зачем Monsieur? Pourquoi Monsieur? Надо по-русски, a la russe.
    Я - Nikolai Iwanowitsch...“ stupst er sich mit dem Finger auf die Brust.
-  „Oui, oui... je me souviens... Petr Iwanitsch, Iwan Iwanitsch...“
-  „Nikolai Iwanitsch“.
-  „Nicolas Ivanitch... auf Ex, Nicolas Ivanitch... und Ihr Nachname?“
-  „Фамилия? Marchand Iwanow“.

Jetzt mischt sich einer der Franzosen ein: „Voyons, Monsieur,

    mois je suis aussi marchand. Vous comprenez: gantier?“ und zieht

    zur Veranschaulichung einen Handschuh aus der Hosentasche.

-  „Handschuhmacher? Mit Handschuhen handeln Sie? Ich verstehe... ich
    verkaufe Taue und Reeps... also...“, Nikolai Iwanowitsch schaut
   sich um, irgendwelche Stricke zu entdecken und wird beim Verschluss
   der Champagnerflasche fündig: “...so etwas... tu marchand и je
   marchand - руку...“ drückt ihm die Hand, und unter Rufen wie „Vive la
   France“ und „Vive la Russie“ wird weitergetrunken, wobei Nikolai
   Iwanowitsch sich an jeden heranmacht und mit der Aufforderung: „A la
   russe!“ versucht, alle abzuküssen, und zwar „Три раза, по-русски -
   trois, trois...“, was sich besonders Madame Bavolet sehr gefallen lässt.

Die Tür ist schon lange abgeschlossen, der Alkohol fließt unvermindert, und
das weitere Geschehen verschwimmt in der Erinnerung.

Nikolai Iwanowitsch erinnert sich dunkel, in einer viersitzigen Kutsche
irgendwohin gefahren zu sein. Er selbst saß neben Madam Bavolet,
die einen breitkrempigen hohen Hut mit einem Haufen Federn trug,
die beiden Franzosen saßen ihnen gegenüber.
Weiter erinnert er sich an einen Garten, mit Gas erleuchtet, ein wenig
wie ein Theater, in dem stark dekolletierte Damen sangen und tanzten,
an die Klänge eines Orchesters, an ein buntgemischtes Publikum, daran,

dass sie in einem roten und goldenen Zimmer etwas aßen, wobei ihm
dann einfällt, dass er irgendeine Französin in den Armen hielt, aber nicht
Madame Bavolet, sondern so eine schlanke, blonde, mit spitzem Näschen,

aber alles sieht er wie in einem Traum.

Wie er zurück ins Hotel gekommen ist, weiß er nicht, aber er erwacht in
seinem Hotelzimmer in seinem Bett, in dem er ohne Jackett und Weste,
aber mit Hosen, Stiefeln und fürchterlichen Kopfschmerzen liegt.
Die Augen öffnend, sieht er im Fenster hellen Sonnenschein und wie
Glafira Semjonowna, in Rock und Nachtjäckchen mit dem Rücken zu
ihm stehend, irgendetwas in den Koffer stopft.

Nikolai Iwanowitsch stellt sich noch eine Zeitlang schlafend und überlegt,
wie er das Gespräch mit seiner Ehehälfte beginnen soll, wenn er aufsteht -

kann aber irgendwie nicht denken, bis sein Gehirn dann schließlich

vollständig seinen Dienst versagt. Er bleibt noch eine Zeitlang liegen,

ohne sich zu rühren, und tastet dann behutsam nach der Uhr auf

dem Nachtschränkchen, um nach der Zeit zu schauen. Sie vorsichtig

anhebendund einen ebenso vorsichtigen Blick darauf werfend, stellt er

überrascht fest, dass es schon nach 14 Uhr ist. Ebenso sacht möchte

er sie zurücklegen, aber die Uhrkette schlägt an den Marmor und

eine Bettfeder quietscht.

Am Koffer herumhantierend dreht Glafira Semjonowna sich um und,

Nikolai Iwanowitsch mit geöffneten Augen und sich im Bett drehend

erblickend, runzelt drohend die Brauen:
    „Aha, aufgewacht. Du Schuft!“
-  „Glascha, verzeih... verzeih doch, mein Täubchen... das ist doch auch
    deine Schuld, dass das alles passiert ist...“ murmelt er und versucht, einen
    schmeichelnden Tonfall anzuschlagen und seiner Stimme so viel Sanftheit
    wie möglich zu verleihen, aber die ist noch heiser und kratzig vom
    gestrigen Rausch.
-  „Schweig still! Ich zeig dir gleich, was meine Schuld war! Traust dich auch
    noch, dich zu rechtfertigen, Säufer!“ unterbricht ihn Glafira sofort.
-  „Nun, verzeih doch, mein Engelchen, ich weiß ja, dass ich in deiner
    Schuld stehe“.
-  „Wage nicht, mich Engelchen zu nennen! Deine fette Schlampe kannst du
    so nennen, mit der du dich betrunken und die du umarmt hast, aber
    mich gefälligst nicht mehr“.  
-  „Wen soll ich umarmt haben? Wen?“
-  „Halt die Klappe! Du hast doch bestimmt ein ganzes Dutzend Luder im
    Arm gehabt, als du die Nacht durchgesoffen hast!“
-  „Glascha! Glascha! Warum sagst du sowas? Warum?... Gott wird richten...“
    empört sich Nikolai Iwanowitsch und will sich aufrichten, aber ein fürchter-
    liches Schwindelgefühl überfällt ihn.

Glafira Semjonowna hält es nicht länger aus, wirft sich über den geöffneten
Koffer und beginnt, ihr Gesicht mit  Händen bedeckend, bitterlich zu
weinen.