Auf dem wiener Bahnhof herrscht Gedränge. Aus dem Fenster schauen sie
auf die Menge auf den Bahnsteigen, und, erstaunlicherweise, der größte Teil
des Publikums besteht aus Juden: mit kurzen und mit langen Gehröcken,
Zylindern, Melonen und Schirmmützen, mit Schläfenlocken oder ohne.
Von den schick gekleideten Frauen ist ebenfalls die gute Hälfte jüdisch,
unsere Eheleute lesen das am Gesicht ab.
Der Zug ist noch nicht zum Halten gekommen, sondern rollt die letzten
Meter zwischen den Bahnsteigen, als im Coupe der zweiten Klasse schon
ein schmaler, flinker Hebräer mit Melone und roter Krawatte steht,
mit dünnem, ausgefransten Kinnbart und Ringen mit farbigen Steinen
an den unsauberen Händen, vor den Eheleuten seinen Kratzfuß macht,
sich verbeugt, ihnen ein Kärtchen mit einer Hoteladresse in die Hand drückt
und sie auf Deutsch anspricht: „Ein Hotel erster Klasse, im besten Teil
der Stadt, günstige Zimmer, Frühstück, Mittag- und Abendessen zu
gemäßigten Preisen... mit dem Kutscher verhandele ich und ihr Gepäck
haben sie in zwei Minuten...“
Er spricht ohne Pause, dreht sich und setzt seinen Hut auf und ab.
- „Glascha! Was erzählt er denn?“
- „Wer soll ihn denn verstehen... ich glaube, er offeriert ein Hotel...“
Der Jude, russisch hörend und sehend, dass man ihn nicht versteht,
wechselt in ein gebrochenes Französisch.
- „Dann lies doch, was da steht“, nimmt Nikolai Iwanowitsch das Kärtchen
und gibt es seiner Frau, „kann sein, dass wir die Adresse noch brauchen“.
- „Aber er...“ sagt Glafira, „mit einem Juden möchte ich nicht fahren...“
Der Jude, als er sieht, dass auf sein Französisch nicht geantwortet wird,
spricht sie auf Polnisch an.
- „Да мы русские, русские“, sagt schließlich Glafira lächelnd, „Russen wir
и ничего нам не надо“.
- „Ach, verehrte Madame“, seufzt er, „das tut mir leid, dass ich kein Russisch
spreche. Deutsch kann ich und Französisch, Polnisch, Ungarisch und
Tschechisch, Kroatisch und Serbisch, aber die russische Sprache
beherrsche ich nun leider nicht. Wenn sie mir erlauben, Ihnen bei der
Suche nach einem Hotel behilflich zu sein, werde ich Ihnen einen Polen
vorstellen, der Russisch kann“.
- „Nixt, nixt...ничего нам не требуется...“ versucht auch Nikolai Iwanowitsch
abzuwinken.
Ihr Zug hält jetzt, und ein Gepäckträger in grauer Jacke erscheint, dem die
Eheleute ihr Gepäck übergeben und mit dem sie den Waggon verlassen.
Der Jude bleibt allerdings nicht zurück und bespricht sich mit dem Träger,
der fragt: „Wünschen die Herrschaften eine Equipage?“
- „Ja, ja, Equipage...“ antwortet Glafira, „wir in Gotel“.
Am Bahnhofsportal winkt der Träger eine Kutsche herbei, und der Jude
spricht wiederum mit dem Kutscher und hilft unserem Ehepaar sogar
beim Einsteigen.
- „Brauchen Sie nicht, wir brauchen nichts...“ schubst Nikolai Iwanowitsch
ihn weg und fragt seine Frau: „In welches Hotel fahren wir eigentlich?“
- „Na in das, wo der Kutscher uns hinfährt, kann uns doch egal sein,
Hauptsache nicht in ein jüdisches“.
Geht die Fahrt anfangs durch schmale, dunkle Straßen, errreichen sie
bald die Boulevards mit Gasbeleuchtung und, nachdem der Kutscher
einige Male abgebogen ist, kommen sie vor einem mit elektrischem Licht
hell beleuchteten Hoteleingang zum Stehen, aus dem sogleich ein Portier
mit litzengeschmückter Mütze und ein Junge in grauer Jacke und rotem
Kepi herbeigelaufen kommen und ihnen beim Aussteigen behilflich sind.
- „Zimmer... Zimmer fjür zwey... с zwey кровати...“ sagt Nikolai Iwanowitsch.
- „Bitteschön, Pan, drei Gulden...“ antwortet der Portier.
Nikolai Iwanowitsch kramt im Mantel, um den Kutscher zu bezahlen, aber
plötzlich steht, wie aus der Erde gewachsen, der Jude wieder da und schiebt,
unter einer höflichen Verbeugung, seine Hand zur Seite: „Nicht nötig, zu
zahlen... ist bereits geschehen... nachher...Il ne faut pas payer... c’est payé
déjà...“ parliert er.
- „Sind Sie auch da!“ ruft Nikolai Iwanowitsch, „Was wollen Sie denn?
Glascha! Was will er von uns?“
- „Er sagt, wir bräuchten den Kutscher nicht zu bezahlen“.
- „Was hat er hier zu suchen? Wenn der hier dazugehört, will ich nicht
bleiben, nicht in einem jüdischen Hotel“.
- „Nun geh schon rein“, befiehlt Glafira, „wo willst du denn jetzt ein anderes
Hotel finden...“
- „Hat uns schon eingewickelt, hat uns geführt, wohin er wollte...“ Nikolai
Iwanowitsch klatscht verärgert mit der Hand auf die Hüfte, aber begibt sich
ins Foyer.
Das Hotel ist erstklassig, mit einem beeindruckenden Treppenhaus, in dem
eine Unmenge an Personal herumläuft: Kellner im Frack und mit weißen
Krawatten, Zimmermädchen in einem formellen, bräunlichen Dienstkleid
mit weißen Häubchen und Schürzen sowie Pagen in grauen Uniformen
mit grünem Besatz. Alle verbeugen sich vor unserem Ehepaar und weisen
ihm den Weg durch die Korridore zu ihrem Zimmer.
Sie haben ein großes für vier Gulden gewählt, und zwei Zimmermädchen
werfen sich auf Glafira, ihr den Regenmantel abzunehmen, während sich
zwei Kellner um Nikolai Iwanowitsch kümmern und ein weiterer einfach
ehrerbietig dasteht, um weitere Anweisungen entgegenzunehmen.
- „Ich denke, Glascha, jetzt sollten wir erst einmal einen Tee trinken und eine
Kleinigkeit essen“, wendet sich Nikolai Iwanowitsch an seine Frau und
möchte dies, nach einem Nicken ihrerseits, dem Kellner mitteilen, aber
der steht schon, sich respektvoll verbeugend, in der Tür und murmelt
bloß: „Ich verstehe, mein Herr, Sie werden das Gewünschte sofort er-
halten...“
- „Oh, er versteht Russisch, nur sprechen kann er es nicht“, bemerkt Glafira,
als der Kellner in der Tür verschwindet.
Da sie in Wien nur einen Tag bleiben wollen, machen sich unsere Eheleute,
kaum, dass sie sich erfrischt und eine kleine Mahlzeit eingenommen haben,
auf den Weg, die Stadt zu besichtigen. Diesmal sind sie aber vorausschauender
und erkundigen sich, um nicht wie in Paris das Hotel nachher suchen zu müssen,
beim Portier nach dessen Adresse.
Sowie sie die Visitenkarte des Hotels in Empfang genommen haben,
steht auch schon der ihnen bereits bekannte, schmale Jude vor ihnen
und fragt, höflich den Hut abnehmend und sich verbeugend, ob sie nicht
eine Kutsche benötigten. Damit sie ihn auch verstünden, wiederholt er
seine Sätze jeweils auf Französisch, Deutsch und Polnisch.
- „So etwas Aufdringliches..“ sagt Glafira Semjonowna, „не надо, ничего
не надо... nixts... geensi прочь, мы идём гулять, schpaziren...“
Sie machen sich zu Fuß auf den Weg und kommen bald auf eine
breite Straße, von Gaslaternen hell erleuchtet und mit großen Geschäften
links und rechts, in deren Schaufenstern unübersehbare Warenmengen
mit angehefteten Preisen angeboten werden. An Kutschen herrscht
kein sostarker Verkehr wie in Paris oder Berlin, dafür drängen sich auf
den Trottoirs die Fußgänger, unter denen sich auch viele Juden befinden.
Vor allem anderen fällt unseren Eheleuten allerdings die Fülle
geschminkter Frauen einer bestimmten Sorte auf, geradezu aufgedonnert
in buntfarbigen Kleidern und mit hohen und breitkrempigen Hüten,
die sie verwegen schräg und mit der unvermeidlichen, riesigen, weißen
Straußenfeder tragen.
Die Damen pusten Rauch aus Zigaretten und werfen den Männern
einladende Blicke zu.
- „In Paris und Berlin haben wir diese Weiber gar nicht auf der Straße
gesehen“, bemerkt Nikolai Iwanowitsch „und so unglaublich viele, und
alle mit dieser Straussenfeder. Das ist wahrscheinlich eine Art Abzeichen
oder Uniform?“
- „Na dann zähl doch noch, wie viele... ist ja auch eine angemessene
Beschäftigung für verheiratete Männer... pfui, wie widerwärtig!“
Glafira spuckt aus.
Als sie an einer kolossalen, dunklen Kirche vorbeikommen und
stehenbleiben, um sich die Basreliefs anzuschauen, gesellt sich wieder
der Jude zu ihnen und erklärt: „Die berühmte Stephanskirche“.
Glafira lächelt ihn an und übersetzt für ihren Mann. Im Weiteren bleibt
Glafira nur noch vor den Scheiben der Läden stehen, die hell erleuchtet
sind, so dasssie die Innenräume bis in den letzten Winkel komplett
überschauen kann und und in deren Verkäufern sie, anhand ihrer Nasen
und Lippen, wiederum Juden identifiziert, nach der letzten Mode gekleidet.
- „Die Verkäufer sind hier alle aus Jerusalem - ich weiß nicht, weswegen
man uns erzählt hat, Wien sei eine slawische Stadt. Gucks dir doch an -
so ein Unsinn“.
Ihr Begleiter weicht nicht von ihrer Seite und flattert bei jedem Halt vor
einer der Schaufensterscheiben, in denen Glafira Semjonowna Handschuhe
und Seidenstrümpfe mustert und ganz verblüfft von deren Preisen ist, um sie
herum.
- „Wir müssen unbedingt etwas kaufen, das ist ja unglaublich günstig...
in Peterburg bezahlen wir fast das Dreifache...“ sagt sie und will unwill-
kürlich nach der Türklinke des Geschäftes greifen, als ihr Begleiter ihr
zuvorkommt und ihnen die Tür aufhält. Glafira wendet sich hilfesuchend
an den Verkäufer, zeigt auf die Strümpfe und murmelt: „Dises...ix weyss
nixt wi auf Deytsch...“
- „Strümpfe bitte, Damenstrümpfe...“ befiehlt der Jude dem Verkäufer.
- „Warum, zum Donnerwetter, treibt sich denn dieser Mensch immer um
uns herum?“ runzelt Glafira die Stirn.
- „Das muss ein Commissionär oder Handelsagent sein, langsam beginne
ich das zu verstehen...“ antwortet Nikolai Iwanowitsch.
Glafira wählt ihre Strümpfe und bezahlt, während der Commissionär mit
dem Verkäufer, einem lockenköpfigen Juden mit Manschettenknöpfen aus
falschen Brillianten, leise einige Worte spricht und ihm beim
Herausgehen seine Karte überreicht. Auf der Strasse folgt er sogleich
unserem Ehepaar, bis es Nikolai Iwanowitsch zu viel wird:
- „Jetzt reichts mir aber langsam“, brüllt er ihn an, „nun hau ab,
Verdammter...“ und hebt sogar leicht den Regenschirm.
Sofort lüftet ihr Begleiter höflich seinen Hut und begibt sich fort, folgt
ihnen aber in einiger Entfernung, wie sie feststellen, als sie sich einmal
umdrehen. Nachdem sie einen großen Platz überquerten, um die Fassade
eines großen Gebäudes zu bewundern, hören sie ihn rufen: „Das ist die Oper!“
Gegenüber befinden sich einige Restaurants und Kaffeehäuser, und unser
Ehepaar begibt sich in eines und bestellt Eis. Ihr Commissionär scheint
verschwunden, aber als sie mit Essen fertig sind, sehen sie ihn an einem
entfernteren Tisch sitzend und Zeitung lesend. Trotzdem hatte er sie
beobachtet, denn nach dem Bezahlen tritt er an sie heran und hält ihnen
zwei rote Papierstückchen hin.
- „Darf ich mir erlauben, Ihnen zwei Karten für die Oper zu einem wohlfeilen
Preise anzubieten“, fragt er auf Deutsch und wiederholt seine Frage sofort
auf Französisch.
- „Ist das nun traurig oder zum Lachen?“ fragt sich Glafira und übersetzt
für ihren Mann: „Er bietet uns für zwei Gulden Opernbillets an“.
- „Ist das nicht schon zu spät?“
- „Na, irgendwas werden wir schon noch zu sehen bekommen... Ну,
давай... gebensi...“.
Glafira möchte ihm das Geld geben, aber der Commissionär winkt ab.
- „Will er nicht nehmen. Später, sagt er...“ erklärt Glafira.
- „Nur deswegen, damit er mit uns in Verbindung bleiben kann!“
- „Ach, was solls, der weicht uns sowieso nicht von der Seite...“
Unsere Helden betreten das Theater, in dem vor einem wiederum zur Hälfte
jüdischen Publikum eine ihnen unbekannte Oper, deren erster Akt schon
beendet ist, sowie ein kurzes Ballett gegeben wird.
Nach der Vorstellung treffen sie ihren jüdischen Handelsagenten im Foyer
wieder. Seinen Hut hebend, fragt er auf Deutsch und Französisch: „Befehlen
Sie eine Equipage? Befehlen Sie das beste Restaurant der Stadt für das
Souper? Ich könnte Sie zu einem Lokal führen, in dem die Kellner
Russisch verstehen“.
Wieder übersetzt Glafira, und Nikolai Iwanowitsch muss lächeln: „Na, zum
Teufel, dann soll er uns hinführen. Scheint ja unser Schicksal zu sein,
dass er sich unser bemächtigt. Was für Leute - scheinen ja zu ahnen,
was man möchte...“
Während der nächtlichen Fahrt durch Wien veranstaltet der Commissionär
eine Stadtführung, nennt die Straßennamen, weist auf bedeutende
Gebäude hin und erzählt pausenlos Geschichten, alles in vier Sprachen
und dennoch von unserem Ehepaar größtenteils unverstanden.
Das Restaurant, in das sie jetzt eintreten, besteht aus einem eindrucksvollen,
mit elektrischem Licht großzügig beleuchteten Saal, der mit einer Unmenge
kleiner Tische mit Marmorplatten vollgestellt ist. Die Bedienung ist zur Hälfte
weiblich, ausnahmslos junge und hübsche Damen in schwarzen Kleidern
mit weißen Schürzen, die sich den männlichen Gästen gegenüber sehr
intim benehmen.
Einige setzen sich, Getränke bringend, einfach an den Tisch mit
dazu, nippen aus den Gläsern Wein oder Bier und gackern fröhlich.
Die Herren legen sich ihrerseits ebenfalls keinerlei Beschränkung auf
und umfassen die Damen an der Taille, kneifen ihnen in die rundlichen
Wangen oder streichen mit der Hand ihren Rücken hinab, was dem
kritischen Blick Glafira Semjonownas nicht entgeht.
- „Ach, was für Schlampen! Guck dir an, was die sich erlauben, diese
Kellnerinnen... die Blondine da drüben... setzt sich einfach seinen Hut auf...
und schau, jetzt streicht sie ihm noch im Bart herum... also das geht doch
wohl zu weit! Und dass die Männer das mit sich machen lassen...“
- „Äh, wahrscheinlich alle nicht verheiratet... Junggesellen gefällt sowas...“
vermutet, mit einem schnellen Seitenblick auf seine Frau, Nikolai
Iwanowitsch.
- „Quatsch - ich glaube, mehr als die Hälfte von denen ist verheiratet...“
Nun tritt einer der fracktragenden und russisch-verstehenden Kellner an
den Tisch und wird von Nikolai Iwanowitsch auch gleich mit Worten
überschüttet: „Вот что, голубчик...“ sprudelt er auf Russisch los, „hast du
für uns nicht was Leckeres à la russe... verstehst du, aber etwas richtig
Gutes!“
- „Да, господин...“ kommt die Antwort, und der Kellner reicht ihm die Karte.
- „Was soll ich denn mit der Karte?“ fragt empört Nikolai Iwanowitsch, immer
noch auf Russisch, „die ist doch auf Deutsch, das kann ich nicht lesen,
und wenn, verstehe ich’s sowieso nicht. Bring uns doch einfach von
irgendwas Vernünftigem vier Portionen, zwei für Madame, zwei für mich.
Erster Gang рыбки, zweiter - мясо. Понял?“
- „Miaco? Да, господин“.
Allmählich kristallisiert sich heraus, dass die Russischkenntnisse des
Kellners exakt diese beiden Wörter umfassen - sowie die Zahlen bis zehn.
- „Fisch и Fleysch, но nixt kalt...“ formuliert Glafira Semjonowna, die von
Anfang an an der Sprachmächtigkeit des Kellners gezweifelt hatte.
Dieser eilt, in die Küche zu kommen, und die Ergebnisse seiner Bemühungen
sind ein gesottener Stör, in einer weißen Mehlschwitz-Soße mit Kartoffeln,
sowie Wiener Schnitzel, selbstverständlich aus Kalbfleisch, mit diversen
Beilagen. Da die Portionen riesig und ansprechend zubereitet sind,
ist unser Ehepaar rundum zufrieden.
- „Das ist doch in Ordnung, so etwas nenne ich Essen, und die Portionen,
nicht für einen Spatzenschnabel, wie in Paris...“ lehnt sich Nikolai Iwano-
witsch zurück, ein ausgezeichnetes wiener Bier in der Hand haltend: „Na,
Glascha, möchtest du noch etwas Eis?“
- „Danke, gern, wenn ich aufgegessen habe...“
- „Sehr schön, ess ruhig, ess, musst nach der pariser Zeit sehen, dass du
wieder besser ins Futter kommst... ich denke, ich bestelle mir noch Wein-
trauben, die nehm ich mit ins Hotel, wenn ich nachher im Bett noch Appetit
bekomme...“.
Glafira Semjonowna isst ihren Teller leer, verspeist ihr Eis und hinterher
noch eine Birne, die zweite packt sie ein, ebenfalls fürs Bett.
- „Das Beste ist doch, dass du hier alles essen kannst, was du auf dem
Teller siehst...“ stellt Glafira abschließend fest, „Stör, na, den kennen wir,
und gut, dass sie nicht auf den schwachsinnigen Einfall geraten sind, den
mit irgendwelchen Schnecken zu servieren, sondern mit Kartoffeln“.
- „Bist du zufrieden?“
- „Ja, sehr, und das Bier ist auch klasse“, bestätigt Glafira.
- „Dann ist ja alles gut, Wien haben wir gesehen, das können wir jetzt
allen erzählen, und morgen gehts direkt nach Hause, wenn du willst“.
- „Ja, bitte gleich morgen früh, ich hab schon Heimweh“.
- „Ja, mich ziehts auch heimwärts... reicht hin, mit dem Ausland... wenn ich
zu Hause bin, laufe ich als erstes in die Banja, darf gar nicht dran denken,
wie lange das schon her ist...“ freut sich Nikolai Iwanowitsch im Vorhinein.
Nachdem sie bezahlt und dem Kellner ein großzügiges Trinkgeld gegeben
haben, verlassen sie das Restaurant und treffen ihren Juden wieder, der bei
der Kutsche auf sie gewartet hat.
- „Das ist ja eine Überraschung! Sie sind immer noch hier?“ ruft Nikolai
Iwanowitsch aus, vielleicht mit einem leicht ironischen Unterton, aber
eindeutig wohlgelaunt, ja sogar irgendwie beschwingt, er klopft ihm
jedenfalls freundlich auf die Schulter.
Ihr Commissionär lächelt erfreut, setzt unsere Helden in die Kutsche,
springt auf den Bock und fragt auf Deutsch: „Nach Hause?“
- „Да, да...домой, в отель...“ bestätigt Glafira.
Er wählt für die Rückfahrt einen anderen Weg, um seine Stadtführung zu
vervollständigen, bezahlt den Kutscher selbst, Nikolai Iwanowitsch erneut
mit einem „Nachher“ vertröstend, geleitet unser Ehepaar durch das ganze
Treppenhaus zu ihrem Zimmer und verschwindet erst, nachdem er ihnen
die Tür aufgehalten und eine Gute Nacht gewünscht hat.
Am Morgen des nächsten Tages, unser Ehepaar trinkt gerade Kaffee
und Tee, zwar ohne Samowar, aber immerhin mit einem ausreichenden
Vorrat heißen Wassers in einem Silberkännchen, klopft es an der Zimmertür.
Ihr Jude tritt mit einer Verbeugung herein und fragt auf Deutsch: „Haben
der Gospodin und die Madame vielleicht irgendeinen Auftrag für mich?
Theaterbillets, Modewaren, Zigarren, Wein...?“
Aus der Manteltasche zieht er Plakate, Ankündigungen und Adressen von
Modegeschäften, breitet alles auf dem Tisch vor den Eheleuten aus und
erklärt ununterbrochen, Deutsch mit Französisch und Polnisch vermischend.
- „Wir brauchen nichts, Bruder, nichts... die Reise ist zuende...“ winkt Nikolai
Iwanowitsch ab.
- „Nous partons soir a Peterbourg...“ übersetzt Glafira.
Der Agent schaut fassungslos: „Wie - heute? In einer solchen Stadt wie Wien,
und Sie möchten nicht einmal drei Tage bleiben?“ ruft er aus, „aber damit,
Madame, tun Sie sich keinen Gefallen. Sie könnten hier eine Unmenge
schöner Sachen wirklich günstig kaufen. Ich könnte Ihnen z.B. einen
ungarischen Wein empfehlen, für den Sie in Russland gut das dreifache
bezahlen müssten. Möchten Sie nicht wenigstens probieren, nur zwei
Gulden die Flasche...“
Rasch zieht er ein Miniaturfläschchen aus der einen Manteltasche, einen
Korkenzieher aus der anderen, öffnet, gießt ein und bietet das Glas
Nikolai Iwanowitsch an: „Nun, probieren Sie, probieren Sie...“
- „Ничего мне не надо. Basta. Abend faren...“ schiebt dieser das Glas
entschieden zur Seite.
Der Commissionär wiederholt seine Meinung, dass es völlig unmöglich wäre,
am Abend zu fahren, der Zug sei unbequem und langsam, ohne
Umsteigen gelangten sie mit diesem gar nicht an die russische Grenze,
und resümiert: „Madame, warum wollen Sie sich um Gottes Willen diesen
Unsicherheiten aussetzen? Nehmen Sie doch den Zug morgen früh: der
ist schneller, und tagsüber haben Sie wunderbare Ausblicke auf die
herrliche Landschaft! Madame, il faut rester jusqu’à demain matin...“
Am Gläschen nippend, wehrt Nikolai Iwanowitsch auf russisch ab: „Нет,
нет... wir fahren heute...siehst du, wie anhänglich unser Freund ist?“
bemerkt er zu Glafira hin, und weiter zum Commissionär: „Wirklich
hervorragend, der Wein, da kann man zuhause jemanden guten
Gewissens mit bewirten... vielleicht zwei Flaschen?“ fragt er seine
Frau, und, als kein Widerspruch erfolgt: „Nu, gut, zwey Bouteille“.
Nach dem Wein folgt die Präsentation der Zigarren, und nachdem sich
Nikolai Iwanowitsch die erste angezündet hat, lässt der Agent nicht
locker, bis er hundert verkauft hat. Nach den Zigarren zieht er noch
einige Möbelprospekte aus der Manteltasche, aber nun wird es
Nikolai Iwanowitsch zu viel: „Es reicht, es reicht, Marsch...“ ruft er
verärgert aus und weist zur Tür, in der jener dann auch verschwindet.
Allerdings klopft es erneut, es erscheint ein würdevoller, beleibter
älterer Herr mit einem Brilliantring am Finger, dessen Kleidung einen
leichten Stich ins geckenhafte auszeichnet, verbeugt sich
altväterlich: „Das Handelshaus Isaak Mauthner beehrt sich, Ihnen
Damen-Confections zu präsentieren...“
und beginnt, seinen luxuriösen Lederkoffer zu öffnen.
- „Glascha! Was will er denn?“ fragt Nikolai Iwanowitsch verständnislos.
- „Na Damenwäsche will er vorstellen...“
- „Raus... raus“
Der Händler gerät keine Sekunde in Verlegenheit: „Bitte, meine Herrschaften,
schauen Sie selbst... das alles ist in Russland doppelt so teuer...“. Er
zieht aus dem Köfferchen eine mit Glasperlen und Glasanhängern
verzierte Stola und breitet sie vor Glafiras Augen aus: „Nur dreißig Gulden,
Madame, dreißig...“
- „Ach, wie hübsch! Und eigentlich total günstig...“ ruft diese und streckt
auch schon die Hände danach aus.
Letztlich erwerben sie beim Händler zwei Umhänge, und dieser hinterlässt
noch verschiedene Visitenkärtchen und illustrierte Warenkataloge mit der
Aufforderung, die Geschäfte doch einmal aufzusuchen.
- „Hat sich was mit der slawischen Stadt Wien, überall Juden...“ stellt Niko-
lai Iwanowitsch nach dessen Weggang fest.
Indem es wiederum klopft, erscheint der Zimmerkellner. Er räumt das
Geschirr ab und bittet um die Pässe.
- „Warum zum Teufel die Pässe, wenn wir heute fahren?“ ruft aufgebracht
Nikolai Iwanowitsch, „gib uns doch die Rechnung, Rexnung, севодня faren
в Peterburg...“
Der Kellner besteht aber darauf, die Pässe mitzunehmen, wenn auch nur für
fünf Minuten.
- „Da gib sie ihm doch“, versucht Glafira ihn zu überreden, “... für fünf
Minuten, er sagt, er brauche sie, ist wahrscheinlich Vorschrift hier“.
Nikolai Iwanowitsch gibt nach, merkt allerdings an: „Also irgendwie
merkwürdig, füttern und tränken tun sie einen hier so reichlich wie bei uns,
und nach russischer Art verlangen sie auch den Pass... das ist doch das
erste Mal im Ausland, dass sie unsere Pässe sehen wollen... nur in Wien,
sonst nirgends....“
Als der Kellner die Dokumente wiederbringt, unterrichtet er unsere Eheleute
davon, dass der Zug nicht wie angenommen abends fährt, sondern bereits
um 15 Uhr. Sofort werden die Sachen zusammengesammelt und mit Hilfe
ihres Commissionärs gepackt. Als sie reisefertig sind, präsentiert dieser
dann seine Rechnung, für die Kutschen, die Dienstleistungen, Billette, Wein
und Zigarren.
Unter der Gesamtsumme steht die Zeile ‘Commission“, und statt einer
Ziffer befindet sich dort nur ein Fragezeichen. Ihr Agent erklärt ihnen auf
Deutsch: „Was der gnädige Herr und die gnädige Dame auch geben
wollen, ich werde es zufrieden sein und hoffe nur, dass Sie einen
armen Commissionär nicht beleidigen“.
Der Satz wird noch einmal auf Französisch wiederholt und Glafira übersetzt
ihn auf Russisch. Der Jude verbeugt sich, hilft Nikolai Iwanowitsch in den
Mantel, erhält für die Commission zwei Gulden und verbeugt sich tief.
Dann begleitet er sie zum Bahnhof, setzt sie in ihre Waggons, reicht ihnen
zum Abschied noch Visitenkarten von sich selbst und einigen Hotels mit der
Bitte, ihn nach Wien reisenden Landsleuten zu empfehlen, und verlässt den
Waggon unter Verbeugungen.
Eine Minute später setzt sich der Zug in Bewegung.
Der Weg von Wien zur russischen Grenze verläuft für unser Ehepaar
ohne bemerkenswerte Vorkommnisse. Nach wie vor sind auf den Bahnhöfen
viele Juden zu sehen, und das gesamte Publikum ist weniger farbenfroh
gekleidet und erscheint immer grauer, ärmlicher und rückständiger.
Je weiter sie fahren, desto dünner die Jacken, bis schließlich überhaupt
keine Unterwäsche mehr getragen wird und unser Ehepaar meint,
dass alles schon recht slawisch aussieht.
Auf den Stationen sind jetzt auch slawische Sprachen zu vernehmen,
tschechisch, polnisch, serbokroatisch, vermischt mit deutschen
Einsprengseln, kaum verständlich für russische Ohren, aber dennoch
irgendwie verwandt klingend.
In ihrem eigenen Zug findet unser Ehepaar gar eine russische
Errungenschaft vor, die eigentlich von allen ausländischen Eisenbahn-
gesellschaften kopiert werden sollte: eine Toilette in jedem Waggon.
Die Nacht verbringen sie ruhig im Coupe und schlafen sogar
einigermaßen zufriedenstellend, und morgens, bei Sonnenaufgang
erwachend, erfahren sie zu ihrer großen Freude, dass es bis zur
russischen Grenze nicht mehr weit sei.
Es ist ein bedeckter Morgen, kalt, oktoberlich, unschön und normalerweise
dazu angetan, eine kleine Depression heraufzubeschwören,
aber die Gesichter unserer Eheleute strahlen geradezu vor Behagen,
ja Vergnügen - im Bewusstsein der sich nahenden Grenze.
Nikolai Iwanowitsch, der statt seines Morgentees einen Krug Bier auf
nüchternen Magen zu sich nahm, singt munter vor sich hin:
„Beendet ist der lange Weg - die Heimat seh ich wieder...
(Кончен, кончен дальний путь, Вижу край родимый!)
Na Glascha, bist du froh, bald wieder in der Heimat zu sein?“
- „Allerdings. Sogar so sehr, ob du’s glaubst oder nicht, dass ich es gar
nicht sagen kann“, spricht sie mit einem Lächeln, „ich habe wirklich die
Nase voll. Diese ausländischen Einrichtungen gehen mir völlig gegen den
Strich“.
- „Aha - kannst du dich noch erinnern, wie du mich angebettelt hast, ins
Ausland zu fahren? Keine Ruhe hast du gegeben mit deinem: Los, lass
uns fahren!“
- „Na und? Jetzt sind wir gefahren, haben alles angeguckt und etwas, an
das wir uns erinnern können, aber trotzdem ist’s zu Hause natürlich
besser - ‘Wir reisen durch die Welt und kehren heim aufs neue,/ und süß
ist uns der Rauch des Vaterlands und teuer’“.
(Когда ж постранствуешь, воротишься домой, И дым отечества
нам сладок и приятен...)
- „Na, die Verse kenne ich ja sogar, ‘Verstand schafft Leiden’, Gribojedow...
also... sowie wir nur an der Grenze sind, werde ich ein großes,
aber richtig großes Glas Wodka kippen...“
- „Schon wieder.... also du hast nichts weiter im Kopf als Wodka!“
- „Ach Liebling, denk doch daran, wie lange ich den schon nicht mehr
gesehen habe! Nur in Genf, nur ein einziges Mal, und erinner dich, was
wir bezahlt haben dafür...“
- „Aber ich werde mir auf dem Bahnhof sofort einen Tee bestellen...“ sagt
Glafira, und fügt hinzu: „Weißt du, wonach ich mich am meisten gesehnt
habe? Die trockenen Bagel zum Tee - du Wodka, und ich Bagel.
Immer beim Tee musste ich an sie denken - in Genf habe ich sogar
von ihnen geträumt“.
Ein feiner, dichter Regen schlägt gegen die Scheiben, die beschlagen und
immer unklarer und undurchsichtiger werden. Stück für Stück verschwindet
das bebaute Land, Äcker und Weiden gibt es kaum noch, man sieht nur
noch feuchten Lehm und Sand, eine wüstenähnliche Landschaft.
Je näher der Zug der russischen Grenze kommt, desto mehr Passagiere
steigen aus, bis sich vor der letzten österreichischen Station nur noch ein
gutes Dutzend im ganzen Zug befindet. Um acht Uhr morgens reißt der
Schaffner ihr letztes Billet aus dem Heft.
- „Cкоро приедем?“ fragt ihn Nikolai Iwanowitsch.
- „In zwölf Minuten“.
- „Na Gottseidank. Hier, nehmen Sie das, weil Sie Russisch verstanden
haben...“ freudig reicht ihm Nikolai Iwanowitsch seine letzten Pfennige -
in Form von Münzen.
Nun aber verlangsamt der Zug seine Fahrt und rollt geräuschlos zwischen
ganzen Reihen anderer Waggons auf Abstellgleisen, zwischen denen
Arbeiter herumlaufen. Ungeachtet des Regens öffnet Nikolai Iwanowitsch
das Fenster und lehnt sich hinaus, ungeduldig in Richtung russischer Grenze
schauend. Plötzlich ertönt ein lauter Fluch eines Bahnarbeiters auf
Russisch - „Ёб твою мать“ - und Nikolai Iwanowitsch zuckt zusammen:
- „Glascha! Schon Russen! Russische Männer, fluchen auf russisch...“ ruft
er aus und setzt feierlich hinzu: „Здесь русский дух, здесь Русью
пахнет“.
(Es riecht nach Russland, Alt-Russlands Geist kann
man erspüren - Puschkin)
Eine Minute vergeht, dann ertönt das Kreischen und Schlagen der Bremsen,
und der Zug kommt zum Stehen.
- „Sind wir jetzt an der Grenze? Na Gott sei Dank“ spricht Glafira und
bekreuzigt sich, ihr Mann tut es ihr nach.
Von verschiedenen Seiten hört man bereits Russisch, und die beiden
Grenzpfähle sind sichtbar: einer mit österreichischem, der andere mit
russischem Wappen. Ein Gepäckträger kommt herbeigelaufen und
sammelt ihr Gepäck ein, unsere Eheleute steigen auf den Bahnsteig
und begeben sich zum Stationsgebäude, an dessen Tür ein
braver Gendarm steht und die Pässe einsammelt.
- „Ein russischer Mensch! Ein richtiger Russe! Täubchen!“ kräht Nikolai
Iwanowitsch und, im Vollgefühl seines Herzens, umarmt er den Beamten.