Kapitel 10 - 17: 1 Nacht in Berlin

Kapitel 10

Wo sind wir?

Glafira Semjonowna erwacht morgens als erste, öffnet die Augen, rekelt sich
unter der leichten, geknöpften Bettdecke, die hier ihre eigene, warme erset-
zen muss und fragt: „Nikolai Iwanowitsch, schläfst du noch?“

Als Antwort ist ein leichtes Schnarchen und Kratzen des Bettzeugs zu

vernehmen: Nikolai Iwanowitsch hat sich auf die Seite gelegt.
-  „Kolja, steh auf! Es ist Zeit, aufzustehen, guck, wie lange wir geschlafen
    haben, es ist schon nach 10 Uhr. Wann wollen wir denn die Stadt an-
    gucken? Wir müssen uns waschen, anziehen, Tee trinken, nach dem
   Gepäck schicken und uns um unser Bettzeug kümmern. Wir hatten
    beschlossen, hier nur einen Tag zu bleiben“.

Nikolai Iwanowitsch gibt so etwas wie ein Brummen von sich, rührt sich

jedoch keineswegs. Seine Frau gibt nicht auf: „Steh auf, oder meinst du,

uns bliebe noch viel Zeit für die Stadtbesichtigung?“
-  „Gucken wir heute nicht, gucken wir morgen. Wohin sollen wir denn so
    eilig? Über uns tropft doch nichts“, murmelt ihr Mann.
-  „Nein, nein, sag was du willst, auf deutscher Erde bleibe ich nicht einen
   Tag länger! Bloß schnell nach Paris. Was ist das nur für ein Land, Herr
    erbarme dich! Ohne Telegramm kann man nicht auf anständige Art früh-
    stücken oder Mittag essen, ernähren muss man sich von Butterbroten.
    Das bin ich einfach nicht gewohnt“.

Glafira Semjonowna treibt es aus dem Bett, sie zieht sich an, während

Nikolai Iwanowitsch nur die Hand nach dem Nachtschränkchen ausstreckt,

seinem Portefeuille eine Papirossi entnimmt und rauchend und ächzend

liegen bleibt.

-  „Ich möchte dich ferner bitten, dafür zu sorgen, dass wir heute ein
   anständiges Mittagessen bekommen, mit Suppe, Beefsteaks, Koteletts

   und allem, was dazugehört“, fährt Glafira fort, „wenn das hier Sitte ist,

   dass Reisende das telegrafisch bestellen müssen, nun, dann gib eben

   hier im Hotel ein Telegramm auf“.
-  „Im Hotel wird das nicht nötig sein, denke ich, nur auf der Bahn“.
-  „Na, sicher ist sicher...ich weiß schon, was ich schreibe: ‘Dîner in fir Ur’ -
    und unser Nachname... oder nicht Dîner, das ist Französisch, aber Mitag -
    ‘Mitag in fir Ur’, das muss reichen“.
-  „Lass uns doch lieber den Kellner fragen, ich glaube...“
-  „Das gibt wieder nur Durcheinander... sie sagen ‘ja’, und hinterher stellt
    sich heraus, dass doch nicht - und wir sitzen wieder hungrig da. Das ist
    alles nichts ohne Sprache, wenn wir doch nur vernünftig Deutsch
    könnten...“.
-  „Wir können uns ja zu zweit bemühen...“ schlägt Nikolai Iwanowitsch vor.
-  „Da müssen wir uns aber sehr anstrengen, unser Gepäck müssen wir
    auch noch bekommen... was fläzt du dich eigentlich noch im Bett herum?
    Steh auf...ist schon bald elf...“ mahnt Glafira mit erhobener Stimme und
    zieht ihren Mann aus den Federn.

Wenige Minuten später klingelt Nikolai Iwanowitsch, gewaschen und

angekleidet,nach dem Zimmerkellner. Der erscheint, verbeugt sich

und bleibt in dienstbereiter Pose stehen.
-  „Samowar“, bestellt Nikolai Iwanowitsch, „А тэ не надо, тэ у нас есть.
    Цукер также есть“.

Der Kellner schaut ihn ein wenig ratlos an, um dann zu fragen: „Sie
    wünschen Tee?“
-  „Не тэ, а просто самовар без цукер и без тэ. Glascha, как
    самовар  по-немецкий?“
-  „Warte, bestell doch einfach Tee, vielleicht bringen sie den Samowar mit?“
-  „Warum das denn, wenn wir unseren eigenen Tee haben?“
-  „Vergiss es. Wie willst du dich ihm denn verständlich machen? Siehst du
   nicht, dass er von unserem Gespräch überhaupt nichts versteht? -
   Bringensi Te на двоих. Te für zwey“.

Der Tee wird serviert, allerdings ohne Samowar. Heißes, besser gesagt,
warmes Wasser, gereicht in einem großen Milchkännchen.
-  „А самовар? Ferschteensi: Samowar? Samowar mit угли...с углями..
   с огнём...mit Feyer...“ versucht Glafira ihm zu verdeutlichen und fabri-
   ziert sogar Geräusche mit den Lippen „Pff-Pff-Pff“, das Anpusten der
   Kohlen simulierend.
-  „Sie wünschen eine Teemaschine?“, der Kellner lächelt.
-  „Да, да...ja...ja...Temaschine“, greift Glafira das Wort auf, „denk nur an,
   so ein Wort habe ich vergessen. Aber früher wusste ich es. Temaschine“.
-  „Teemaschinen haben wir nicht, Madame, das wird selten nachgefragt
    bei uns“.
-  „Neyn?“
-  „Nein, tut mir leid“, beteuert der Kellner und schüttelt den Kopf.
-  „Das kann doch nicht wahr sein, kein Samowar! Das ist Berlin! In einem
    guten Hotel nicht einmal ein Samowar, den gibts bei uns in jedem Pferde-
    stall. Na, und woher sollen wir jetzt kochendes Wasser nehmen? -
    Xeic Wasser?“
-  „Hier“, der Kellner zeigt auf das Milchkännchen.
-  „Das da? Was kocht denn da? das ist doch nur warmes Wasser, das
    dampft ja nicht mal. Wir brauchen kochendes, ferschteensi - xeic Wasser.
    Ist außerdem viel zu wenig, das reicht ja nicht mal für zwei Tässchen,
    und wir trinken viel, fünf oder sechs Tassen - jeder. Ferschteensi -
    fjünf, sekc Tasse“.
-  „Lass gut sein, Glascha, sollen sie doch zum Teufel gehen, irgendwie
    kriegen wir das schon runter. Hast du gemerkt, hier in Deutschland ist
    alles andersrum, alles verkehrt rum: auf der Daunendecke liegst du nicht,
    damit deckst du dich zu, kochendes Wasser gibts nicht im Tee-, sondern
    im Milchkännchen“.
-  „Und Abendessen nur nach Telegramm“, setzt Glafira, etwas verbittert,
   hinzu. „Geensi“, nickt sie dem Kellner zu, um anzuzeigen, dass er entlas-
   sen sei, als ihr noch etwas einfällt: „Или нет, постойте. Нам нужно
   получить наш багаж со станций. Bagage bekomen. Вот Kwitanzia -
   hir Kwitanez“, und überreicht ihm das Papier, „man kan?“
-  „Aber natürlich, Madame“.
-  „Ну, так bringensi...да вот ещё Kwitanz от телеграмма.....wir xaben..“
    beginnt Glafira, wendet sich aber gleich an ihren Mann: „Ich weiß nicht, wie
    ich ihm erklären soll, dass wir die Tasche und  die Kissen im Zug gelassen
    haben... nun helf mir doch... Xir Telegramma, wir xaben в вагоне наши
    саквояжи и подушки ferloren... то есть не ferloren, a geljassen в Kёnigs-
    berge, они faren in Berlin...“
Der Kellner guckt sie nur an, bis Nikolai Iwanowitsch ein Kopfkissen aus dem
Bett zieht und ihm vor die Nase hält. Er fragt: „Kissen?“
-  „Ну вот, вот... Kissen... в вагоне geljassen. Wir xaben geljassen und
    telegrafiren...“

Der Kellner nimmt Quittung und Telegramm und verschwindet.

-  „Ich fürchte, der hat nichts verstanden...“ spricht Nikolai Iwanowitsch hinter
    ihm her.
-  „Wieso das denn? Natürlich...“ widerspricht Glafira, „ich habe ihm doch
   alles ausführlich erklärt. Mir sind schon wieder viele deutsche Wörter ein-
   gefallen und ich spreche viel besser als gestern, wahrscheinlich lerne ich
   es auf der Fahrt noch perfekt. Nur in deinen Kopf geht ja nichts hinein...“

Die Eheleute nehmen den Tee zu sich und vertilgen eine Reihe Butterbrote

mit Käse und Kalbfleisch, als es an der Tür klopft. Der Kellner hält die
Quittungen in der Hand und lächelt.
-  „Wir haben uns unten Ihre Quittungen angeschaut, Ihr Gepäck können sie
   nur in Berlin erhalten, aber nicht hier“, sagt er auf Deutsch und legt die
   Papiere auf den Tisch.
Unser Ehepaar betrachtet ihn verständnislos.
-  „Kolja, hast du verstanden, was er gesagt hat? Ich nicht“.
-  „Wie sollte ich das verstehn, ich habe mein Deutsch im Laden von Esten
    gelernt!“
-  „Idiot“, bricht es aus Glafira Semjonowna heraus, und zum Kellner: „Brin-
    gensi, bringensi Bagage, мы заплатим“.
-  „Das kann ich nicht, Madame, das bekommen Sie in Berlin“.
-  „Natürlich in Berlin, ведь мы в Берлине, wir in Berlin, wir sitzen in Berlin,
    xir Berlin“.
-  „Nein Madame, hier ist Dirschau, Stadt Dirschau...“

Glafira Semjonowna dämmert es allmählich, sie wird knallrot: „Как Dirschau?
   Какой Schtatt Dirschau?...Berlin?“
-  „Nein, Madame, tut mir leid“.

Der Kellner überreicht Glafira eine Karte des Hotels und deutet auf die Über-
schrift „Hotel de Berlin in Dirschau“. Glafira kann Deutsch lesen, und sie
ruft entsetzt: „Nikolai Iwanitsch! Weißt du, dass wir nicht nach Berlin
   gefahren sind, aber zu irgendeiner Stadt Dirschau?“
-  „Ach, tatsächlich?“ Nikolai Iwanowitsch bleibt der Mund offen stehen und
   er kratzt sich am Hinterkopf.

 

Kapitel 11

Dritter Versuch

-  „Was hat das alles zu bedeuten! Jetzt sind wir doch völlig im Arsch! Das
   kann doch alles nicht wahr sein!“ ärgert sich Glafira Semjonowna, fuchtelt
   mit den Armen herum und läuft im Zimmer hin und her, „wie lange fahren
   wir eigentlich schon nach Berlin, kreuz und quer kurven wir herum, aber
   ankommen tun wir nicht. Das zweite Mal schon nicht. Dirschau... was für
   ein Dirschau... wo liegt das?“ bleibt sie in einer herrischen Pose vor
   Nikolai Iwanowitsch stehen.

Der sitzt wie vorher auf seinem Sessel, kratzt sich immer noch

den Hinterkopf und ächzt enttäuscht.
  „Nikolai Iwanowitsch, ich habe Sie etwas gefragt! Was sitzen Sie da wie
   ein Ölgötze! Wo liegt dieses Dirschau? Was ist das für eine Gegend?
   Sind wir wieder eine falsche Strecke gefahren?“
-  „Aber woher soll ich das wissen, Matuschka?“
-  „Immerhin waren Sie auf der Handelsschule!“
-  „Ach, nicht mal ein halbes Jahr, und das einzige, was ich gemacht habe,
   war im Kirchenchor Diskant zu singen und in der Klasse mit den Stahlfe-
   dern zu spielen. Aber du bist vier Jahre in der Pension von Madame mit
   dem Hintern übers Stühlchen hin- und hergerutscht, und gelernt hast du
   nichts“:
-  „Unser Unterricht war fraulicher Art: Tanzen haben wir gelernt, und Beutel-
    chen mit Glasperlen und Glückwünschen zu Weihnachten zu besticken
    und Papachen und Mamachen zum Geburtstag zu schreiben - woher sollte
    ich also irgendetwas über irgendein Dirschau wissen? Erkundige dich
    lieber, wie wir von hier endlich nach Berlin kommen! Wahrscheinlich haben
    wir nur deshalb keinen Samowar gekriegt, weil wir im allerletzten
    kleinen deutschen Kaff gelandet sind!“  
-  „Wie soll ich mich erkundigen? Wie denn? Ich frage - und schon wieder
   gibts Missverständnisse.. ich bin doch überhaupt nur ins Ausland gefahren,
   weil ich mich auf dich verlassen hatte... kannst doch schnattern wie eine
   Elster, und Französisch und Deutsch in der Pension gelernt...“
-  „Hab ich auch, aber was willst du machen, wenn ich alle Vokabeln verges-
    sen habe? Jetzt rechne schnell ab, dann zum Bahnhof und nach Berlin.
    Was sitzt du noch herum?“
-  „Will ich nicht, ich will nicht nach Berlin! Sollen doch krepieren, diese
    Deutschen! Von mir aus können sie einer wie der andere verrecken!
    Am besten fahren wir von hier direkt nach Paris“.
-  „Ach, und unser Gepäck? Die Koffer? Reisetasche und Kissen? Da sind
    alle unsere Sachen drin, ohne kann ich mir ja nicht einmal die Nase
    schneuzen“.   
-  „Ach, hols der Teufel, was ein Quark alles!“, greift sich Nikolai Iwanowitsch
   an den Kopf, „alles durcheinander eben! Herr im Himmel, wenn doch diese
   deutsche Quälerei bald beendet wäre! Ich glaube fest daran, dass es in
   Frankreich besser wird, dass die Leute da menschlicher leben. Trotzdem
   müssen wir irgendwie nach Berlin...“ und fügt nach kurzer Überlegung hin-
   zu: „Naja, sobald wir in Berlin sind, können wir ja unser Gepäck nehmen
   und gleich nach Paris weiterfahren, einverstanden?“
-  „Und ob ich einverstanden bin! Wir sind in Deutschland nur auf der Durch-
   reise, und nirgends anständige Manieren anzutreffen, das steht mir schon
   bis hier... Bloß schnell nach Paris, schnell!“

Nikolai Iwanowitsch klingelt nach dem Kellner.
-  „Сколько Geld за всё происществие? Wi fil?“ fragt er und zeigt auf das
   Zimmer und das servierte Frühstück, „мы едем в Берлин. Скорей
   счёт“.

Der Kellner läuft nach der Rechnung, Nikolai Iwanowitsch bezahlt in Gold
und bekommt noch heraus.
-  „Wieviel haben sie genommen?“ fragt Glafira.
-  „Wer soll sich denn damit auskennen? Vielleicht noch nachrechnen?
   Soviel sie wollten, soviel haben sie genommen, hier ist die Rechnung,
   steck sie ein. Wenn ich im Zug Zeit habe, gucke ich sie an, falls ich sie
   verstehen sollte. Nun beeil dich, Glafira Semjonowna, mach hin,

   zieh den Mantel an und komm“.

Die Eheleute ziehen sich an und verlassen das Zimmer. Draußen wartet der
Kellner schon auf sein Trinkgeld für den Tee, aber Nikolai Iwanowitsch zeigt
ihm nur die Faust.
-  „Entschuldigen Sie, mein Herr, aber was soll das denn...?“
-  „Ничего, meyn Xer! Не заманивай. Мы явственно спрашивали, Берлин
    ли это или не Берлин“.
-  „Aber das war doch nicht ich, das war der Portier“.
-  „Alles eine Bande. Durchreisende gibts hier nicht, na, da muss man die
    Leute beschummeln“.

Glafira Semjonowna hat allerdings Mitleid mit dem Kellner, dreht sich noch
einmal um und drückt ihm zwanzig Pfennige in die Hand. Vor dem Eingang
verbeugt sich der Portier, ebenfalls in Erwartung eines Trinkgeldes.

-  „Gleich kriegst du, Schweinehund!“ nickt Nikolai Iwanowitsch ihm zu,
   „danke Gott, dass ich dir den Hintern nicht verbleue“.
-  „Hör doch auf, was soll das jetzt? Wir müssen ihn doch noch fragen, wie
   wir zum Bahnhof kommen“, hält Glafira ihn zurück, drückt dem Portier
   gleichfalls zwanzig Pfennig in die Hand und fragt ihn: „Wo ist Eysenbahn
   in Berlin?“
-  „Gleich hier, Madame, nicht weit. Sie müssen das gleiche Gleis nehmen,
   auf dem Sie gestern gekommen sind“, antwortet er auf Deutsch und zeigt
   auf ein höheres, graues Gebäude am Ende der Straße.
-  „Der schickt uns doch zum selben Bahnhof zurück!“, ruft Nikolai Iwano-
   witsch empört aus, „der lügt, der lügt, Glascha, hör nicht auf ihn, der
   will uns wieder veräppeln“.
-  „Wir können doch im Bahnhof nachfragen. Mit Sprache kommst du bis
    nach Kiew“.
-  „Uns hat sie bis jetzt noch nirgendwohin geführt. Na gut, beweg dich“.

Die Nachfragen im Bahnhof erfolgen abermals verbal und pantomimisch,
sie bringen aber irgendwie doch in Erfahrung, dass der nächste Zug in einer
halben Stunde fahren soll.
-  „Ach, alles Lug und Betrug. Die Deutschen sind doch abgefeimte Betrüger“,
   behauptet Nikolai Iwanowitsch, „frag noch mal, Glascha“.

Gleiche Frage, gleiche Antwort.
-  „So, hast du auch alles richtig verstanden?“ zweifelt Nikolai Iwanowitsch.
-  „Wie sollte ich nicht? Drei Leute ziehen ihre Uhr und zeigen auf die Ziffern,
   wann der Zug abfährt. Die Ziffern kenne ich noch“.
-  „Gehts denn auch nach Berlin? Nicht, dass wir uns auf den Weg in irgend-
   ein neues Dirschau machen?“
-  „Wir können im Waggon noch einmal fragen“.

Nachdem unser Ehepaar die halbe Stunde auf dem Bahnhof herumgeisterte
und jeden, der nicht flüchten konnte, nach dem Zug nach Berlin ausfragte,
befindet es sich jetzt endlich im Waggon, hineingesetzt von einem herz-
kranken Bahnangestellten, der dessen Verwirrung und nervöses Herum-
gerenne nicht weiter ertragen konnte.

- „Да in Berlin-ли?“, fragt Nikolai Iwanowitsch zum wiederholten Male, ihm
   zwanzig Pfennige in die Hand drückend, „Wir Berlin?“
-  „Berlin, Berlin, Sie fahren nach Berlin, direktemang“.
-  „Wenn wir in Berlin ankommen - und nirgendwo anders - stifte ich für einen
    Rubel eine Kerze“, verspricht feierlich Nikolai Iwanowitsch.
-  „Ach, lass doch Gott aus dem Spiel“, murmelt Glafira Semjonowitsch
   und bekreuzigt sich heimlich.

Kapitel 12

Man spricht russisch

Die Fahrt von Dierschau nach Berlin verlief problemlos und ohne Umsteigen.

Wie ein Pfeil flog der Zug dahin und hielt an Bahnhöfen in der Art Dierschaus

nur ein oder zwei Minuten, ohne dass sie während der Fahrt hungern mussten.

Auf den Bahnsteigen liefen Jungen mit Tabletts voller Brote und Bier umher

und reichten den Fahrgästen das Verlangte durchs Fenster.

 

Glafira Semjonowna zeichnete sich durch einen hervorragenden Appetit aus,

stürzte sich auf die belegten Brote und stopfte sie sich während der gesamten

Fahrt in den Mund. Nikolai Iwanowitsch kaprizierte sich hingegen mehr auf

das Bier, schluckte, wo immer möglich, ein großes Glas hinunter, manchmal

auch zwei, was seine Laune erheblich aufhellte und er einmal sogar ein

Gespräch mit einem Deutschen anzettelte, und zwar über Soldaten.

Das Ganze begann damit, dass Nikolai Iwanowitsch seine Frau auf eine
Gruppe preußischer Soldaten, die an einer Station herumstanden, aufmerksam

machte und bemerkte: „Schau doch nur, Glascha, wie klein und mager
   die Preußen sind, ganz wie die Kühe aus Limoges... unsere Kosaken erle-
   digen doch fünf von dieser Sorte mit einer Hand“.

Der gegenübersitzende mürrische Deutsche, inbrünstig seine Zigarre

rauchend, vernahm in der russischen Unterhaltung die Worte ‘soldat’ und
‘kasak’ und fragte ihn unvermittelt: „Da hats wohl viele Soldaten und

    Kosaken bei Ihnen in Russland?“
-  „У нас-то? В Russland? Fil, fil - так fil, что просто ужасти. И солдат fil,
   и казаков fil. И наш казак нешто такой, как ваши солдаты - у вас
   солдаты тоненькие, kleyn - а наш казак - во...“ erwiderte Nikolai Iwano-
   witsch, erhob sich von der Sitzbank und streckte den Arm bis zur Decke:
   „Кулачише у него - во, в три пудя весом“.

Die Hand zur Faust geballt, streckte Nikolai Iwanowitsch sie dem Deutschen
entgegen und hält sie ihm fast unter die Nase, was dieser so interpretierte,
dass die Faust zeigen sollte, was im Falle eines Krieges die russischen mit
den deutschen Soldaten machen würden, mit den Schultern zuckte, ein

„Das weiß Gott allein“ murmelte und sich, die Unterhaltung als beendet
betrachtend, wieder seiner Zeitung widmete.

Nikolai Iwanowitsch hingegen hatte sich erhitzt und wollte nicht aufhören, die
Stärke der Kosaken zu beweisen: „Ваш солдат нешто может сколько
   Schnaps trinken, сколько наш казак будет trinken...“ Was für die Russen
   gesund, sei für Deutsche der Tod, ja, Bier würden sie viel trinken, Schnaps
   aber nicht vertragen, den hingegen die Kosaken aus Biergläsern... über-
   haupt seien die Deutschen zu schwach, äßen nur dünne Suppen, Brötchen
   und Wurst, die seinigen dagegen Щи und Kascha, ganz davon zu schweigen,

   dass die Portionen hier, wie sie in Königsberg selber feststellen
   konnten, so klein wie ein Hühnerschnabel seien, während einem bei
   Testow in Moskau Koteletts vorgesetzt würden, dass man glaube, die
   stammten von Elefanten.


   Im weiteren Verlauf seines Vortrages rühmte er die Geschicklich-
   keit der Kosaken zu Pferde, stand auf, um einige Reiterkunststücke zu
   demonstrieren und schloß, sich den Schweiß von der Stirn mit einem
   Taschentuch abwischend, mit den Worten: „А у вас, у deytsch солдат,
    ничего этого нет“.
-  „Was erzählst du ihm denn da alles“, bemerkt Glafira schließlich, „Russisch
   versteht er doch sowieso nicht“.
-  „Das ist doch alles mit deutschen Wörtern, warum sollte er dem nicht
    folgen können? Keine Sorge, das hat er alles begriffen...“ zwinkert Nikolai
    Iwanowitsch seiner Frau zu, „siehst du, hat verstanden und schweigt, weil
    er fühlt, dass ich Recht habe...“.

Am Abend läuft der Zug in Berlin ein, breite Straßen und  gewaltige Gebäude passierend, ehe er in einem mit elektrischem Licht blendend erleuchteten

Bahnhof zum Stehen kommt.

-  „Ja, das ist Berlin“, entfährt es Nikolai Iwanowitsch, „da braucht man nicht
    zu fragen, das ahnt man schon. Guck dir die Menschenmassen an, wie
    bei uns in Nishni-Nowgorod, wenn Jahrmarkt ist“, sagt er zu seiner Frau,
   „aber nun lass uns schnell aussteigen, nicht, dass der Zug mit uns

    irgendwohin weiter fährt“.

Sie steigen aus und machen sich auf die Suche nach der Gepäckausgabe,
aber wem auch immer sie ihre Quittung vorzeigen, sie werden weitergeschickt

und kommen schließlich zum Ausgang. Dort stehen Portiers und Hoteldiener

mit kupfernen Abzeichen an den Schirmmützen aufgereiht und rufen laut

den Namen ihres Hotels, um die Reisenden zu kobern.

Einer von ihnen hört, wie unsere Eheleute sich auf Russisch unterhalten

und wendet sich direkt an sie, in einem etwas gebrochenen Russisch:

   „In unserem Gotel spricht man russisch. In unserem Gotel erstklassige

   Zimmer von zwei bis zwanzig Mark!“
-  „Glascha! Hast du gehört - die quatschen auf russisch!“ freut sich Nikolai
   Iwanowitsch, und es fehlte nicht viel, so ware er dem Portier um den Hals
   gefallen: „Mein Täubchen! Wir müssen noch unser Gepäck bekommen,
   aber Deutsch kommt uns nicht über die Lippen und gelitten haben wir auf
   unserer Reise schon wie Hiob, der Leidgeprüfte. Drei deutsche Poltinnika
   als Trinkgeld, wenn du uns nur irgendwie die Bagage rausholst“.
-  „Kein Problem, Eure Exzellenz, geben Sie nur die Quittung und
    setzen Sie sich in unsere Kutsche“.
-  „Hier, und außerdem fehlen unsere Reisetasche und die Kissen. Da haben
    wir uns verlaufen während der Reise und die in einem Zug vergessen“.
-  „Wird gemacht, aber setzen Sie sich doch erstmal in die Kutsche“.

-  „Aber wir brauchen keine Kutsche, wir bleiben nicht in Berlin, wir fahren
   gleich nach Paris weiter, Ihr Gotel brauchen wir auch nicht“ ruft aufgeregt
   Glafira Semjonowna.
-  „In diesem Fall kann ich Ihren Auftrag nicht erledigen, ich bin Angestellter
   des Hotels“, sagt der Diener und gibt die Quittung zurück.
-  „Ach was, nun machen Sie, holen Sie unser Gepäck, wir fahren zu Ihnen..“
    ruft nun seinerseits Nikolai Iwanowitsch, „ist doch egal, Glascha, bleiben
    wir eine Nacht, ist doch auch schon spät. Wohin willst du mitten in der
    Nacht fahren? Außerdem bin ich froh, endlich jemanden zu treffen, der
    Russisch spricht“, will er seine Frau überreden, und zum Diener gewandt:
    „Na los, Bruder, führ uns zu deiner Kutsche“.

Nach einer Viertelstunde fährt unser Ehepaar durch hellerleuchtete Straßen
zum Hotel.

-  „Wenn wir nicht mit ihm gefahren wären, hätten wir unsere Sachen noch
    immer nicht - und uns wahrscheinlich schon wieder verlaufen. Ohne
    Sprache - nur Ärger“, raisoniert Nikolai Iwanowitsch, unter allen
    Gepäckstücken und Kissen in der Kutsche vergraben.

Kapitel 13

In der Teufelswiege

-  „Also, Nikolai Iwanowitsch, du kannst machen was du willst, aber ich
   bleibe hier in Berlin auf keinen Fall länger als eine Nacht. Morgen will ich
   nach Paris, und zwar mit dem ersten Zug“, äußert sich Glafira Semjonowna
   unmissverständlich, „Deutschland ist für uns entschieden nicht gemacht,
   das ist ein solches Land, zum Gotterbarmen, dass du, wohin du dich auch
   wendest, nie dahin kommst, wohin du willst“.
-  „Gut, gut, einverstanden, fahren wir morgen“, antwortet etwas kleinlaut
   Nikolai Iwanowitsch, „aber das Bier ist gut hier. Allein deswegen lohnte
   schon der Aufenthalt. Na, trinken wir heute abend reichlich, und morgen
   fahren wir“.
-  „Ich frag mich sogar jetzt, ob wir hier richtig sind“.
-  „Ich bitte dich, Glascha, guck dir doch die Straßen hier an, überall

    Gaslampen und elektrisches Licht“.
-  „Trotzdem hast du noch beim Hoteldiener gefragt, ob das hier Berlin sei“.

Nikolai Iwanowitsch schiebt das Fenster der Kutsche hinunter, streckt sich
hinaus und spricht den, auf dem Bock neben dem Kutscher sitzenden Hotel-
angestellten an: „Hören Sie bitte, verstehen Sie, wir sind noch im Zweifel, ob
    das hier auch Berlin ist“.
-  „Berlin, Berlin, wir fahren gerade durch die berühmte Straße ‘Unter den
    Linden’ - под липами“, lautet die Antwort.
-  „Was soll denn daran berühmt sein, dass sie unter Linden liegt? Bei uns,
    Bruder, in Petersburg, gibts an den Boulevards die gleichen Linden
    haufenweise, aber wir machen keinerlei Aufhebens drum. Aber euer
    Bismarck, der ist doch berühmt: in welcher Zeitung man ihn auch sieht,
    immer ragt er über alle hinaus. Zeig mal, wo der seinen Sitz hat bei
    euch, den würde ich gern mal in Natura betrachten“.
-  „Fürst Bismarck weilt zur Zeit nicht in Berlin, mein Herr“.
-  „So, die Hauptsache gibts nicht. Aber sag mal, wo bekommt man

    denn hier das beste Bier?“
-  „Das Bier ist überall gut, besseres als berliner Bier gibts nicht. Da drüben
    ist das berühmte Brandenburger Tor“.
-  „Wir sagen Triumph-Tor dazu, haben wir bei uns auch, Bruder, das kann
    uns nicht beeindrucken. Ihr hier rechnet das zu den Sehenswürdigkeiten,
    das haben wir nicht nötig, einige davon stehen sogar bloß am Stadtrand,
    und man treibt Ochsen zum Schlachthof hindurch. Sind wir bald beim   
    Hotel?“
-  „Gleich, gleich, Eure Exzellenz“.

Die Kutsche hält vor dem hell erleuchteten Eingang des Hotels, der Portier
springt herbei, ist unserem Ehepaar beim Aussteigen behilflich und geleitet
sie durchs Entree, im Foyer nimmt sie ein zweiter Portier in Empfang,
schlägt leicht auf eine voluminöse Glocke, auf deren überraschend zarten

Klang ein Zimmerkellner im Frack erscheint.
-  „Sie wünschen ein Zimmer, mein Herr?“
-  „Ja, ja...“ antwortet Nikolai Iwanowitsch, und auf Russisch: „Aber nicht
    ausplündern, nehmen Sie relle Preise...“
-  „Der Herr spricht kein Deutsch“, bemerkt der Hoteldiener zum Befrackten
   und wendet sich auf Russisch an das Ehepaar: „Für fünf Mark können wir
   Ihnen ein ausgezeichnetes Doppelzimmer anbieten“.
-  „Das heißt, das sind, für fünf Poltinni, oder? Eine Mark sind ein Poltinnik?“
-  „Ein wenig mehr... Entschuldigen Sie, meine Dame, bitteschön, der Herr,
   wenn ich bitten darf...“ und ihr Hoteldiener führt sie in ein kleines Zimmerchen

   und schließt die Glastür. Ein elektrischer Gong ertönt, ein leises
   Quietschen und das Zimmer hebt sich und verschwindet im Dunkeln.

-  „Ay, ay!“ fast winselt Glafira, „Nikolai Iwanowitsch! Was ist das?“ sie
   krallt sich an ihrem Ehemann fest und zittert wie im Fieber.
-  „Das, Madame, ist der Aufzug“, ertönt die Stimme ihres Hoteldieners.
-  „Den brauchen wir nicht, überhaupt nicht...öffnen Sie...lassen Sie...ich habe
     Angst...total finster ist es hier...Gott weiß, was noch passiert...lassen Sie
     mich raus...“
-  „Gern, Madame, sobald es geht... jetzt geht es nicht...jetzt könnten Sie
    sterben“.
-   „Nikolai Iwanowitsch, was stehst du da und schweigst wie ein Buddha!“

Dieser ist selbst ein wenig erschrocken, keucht und schnauft, bis er die
Worte hervorbringt: „Geduld, Glascha....vertrau auf Gott...irgendwo werden
   wir schon ankommen“.

Nach kaum einer Minute hält der Aufzug bereits wieder, der Kellner öffnet die
Tür und „Bitteschön, Madame!“.
-  „Pfui, krepier doch mitsamt deiner verfluchten Maschine“ wütet Nikolai

    Iwanowitsch, tritt schnell ins Treppenhaus hinaus und zieht seine Frau mit

    sich: „Hast du dich schlimm erschreckt?“
-  „Fürchterlich! Hände und Beine zittern noch! Da steht man und hat keine
    Ahnung, wohin man gezogen wird...der fremde, unbekannte Ort und inmit-
    ten von Deutschen...ich habe gedacht, es greift mir an die Kehle...“.
-  „Madame, dies ist ein Hotel erster Kategorie“, glaubt der Zimmerkellner
   konstatieren zu müssen, als sei er beleidigt.
-  „Da ist drauf gespuckt, auf die Kategorie! Sie sollten vorher fragen, ob die
   Leute in Ihrer Teufelswiege geschaukelt werden wollen! Mit Ihrem Hokus-
   Pokus wollen Sie Durchreisenden doch nur das Geld aus der Tasche
   ziehen! Gib ihm kein Geld, Nikolai Iwanowitsch, für diesen diabolischen
   Käfig zahlen wir nichts...“
-  „Madame, für den Aufzug berechnen wir auch nichts“.
-  „Sie nicht, aber wir sollten für den Schrecken und die Unruhe! Was wäre
    denn, wenn meine Nerven nicht mitgemacht hätten und ich in Ohnmacht
    gefallen wäre?“
-  „Pardon, Madame....Das war nicht unsere Absicht....“
-  „Das hoffen wir... und aus Entschuldigungen kann man keinen
     Pelzmantel nähen....“ wirft Nikolai Iwanowitsch bissig ein, „Beruhig dich
     jetzt, Glascha, beruhig dich...“.
-   „Ist denn mein Schmuck noch vollständig? Ist die Brilliantbrosche noch
     da?“  fühlt Glafira ihre Brust ab.
-  „Aber Madame, was meinen Sie...außer mir und Ihnen war doch niemand
     im Lift...“ stottert etwas konfus der Hoteldiener, während er sie über den
     Flur zu ihrem Zimmer führt und die Tür öffnet:
    „Bitteschön! Von Ihrem Fenster haben Sie den allerbesten Blick auf den
    Pariser Platz“.
-   „Der Preis ist ja auch räuberisch“,  bemerkt Nikolai Iwanowitsch und schaut
     im Zimmer umher, in dem der Kellner die Gasröhren entzündet, „komm
     doch herein, Glascha“.
Glafira zögert: „Und hier wirds nicht dunkel und das Zimmer fährt nach
     oben... noch einmal machen meine Nerven das nicht mit...“
-  „Aber nicht doch, Glascha, das ist ein ganz normales Zimmer...“
-  „Wer weiß... hier in Deutschland ist doch alles verkehrt rum..“ und langsam
    betritt sie den Raum. „O Gott, sowie die Nacht  vorbei ist, schnell weg aus
    diesem Land!“, murmelt sie.
-  „Nun, vorerst bleiben wir hier“, sagt Nikolai Iwanowitsch und lässt sich in
   einen Sessel sinken, „ordnen Sie doch an, unser Gepäck zu holen. Wie
   heißen Sie?“
-  „Franz“.
-  „Also, Xerr Franz, Sie sind jetzt bei uns und bleiben das auch wegen Ihrer
   Russischkenntnisse. Drei Mark hatte ich Ihnen versprochen, wenn Sie
   unser Gepäck auf der Bahn finden, aber falls Sie den heutigen Abend in
   unseren Diensten verbringen und es schaffen, uns morgen in den
   richtigen Waggon zu setzen, der uns, ohne Irrwege, direkt  nach Paris
   bringt, gebe ich Ihnen sechs Mark. Sind Sie einverstanden?“  
-  „Mit Vergnügen, Eure Exzellenz! Möchten Sie jetzt vielleicht etwas
    vom Buffet?“
-  „Tee, zuallererst Tee“.
-  „Wir können Ihnen sogar einen russischen Samowar anbieten“.
-  „Glascha! Hast du gehört! Einen Samowar kriegen wir“, ruft Nikolai Iwano-
   witsch seiner Frau zu, die immer noch grimmig dreinschaut, „was ist denn,
   mein Dummerchen, brauchst keine Angst zu haben, das Zimmer bewegt
   sich schon nicht“.
-  „Entschuldige bitte, aber bei den Deutschen gibt es dafür keine Gewähr,
    das sind doch Wilde. Nachher sollst du wieder das Abendessen per

    Telegramm bestellen, und was sagst du dann?“
-  „Ach so...sagen Sie, kann man hier warm Abendessen?“
-  „Natürlich, unsere Küche ist ausgezeichnet“.
-  „Und ein Telegramm muss man nicht schicken?“
-  „Das ist, denke ich, nicht nötig“, antwortet ihr Zimmerkellner erstaunt.

Kapitel 14

Wer dirigiert?

Kurz nachdem der Kellner gegangen ist, erscheint ein Hoteldiener mit Tee
und dem versprochenen Samowar. Glafira, die nach dem Schreck mit dem
Aufzug noch immer etwas zittrig dagesessen war, fängt bei seinem Anblick
an zu lachen: „Guck dir das an, sowas nennen die russischen Samowar!
   Keinen Rauchabzug, die Kohlen kann man nicht anpusten - bloß ein
   silbernes Ei mit Hahn und Spritkocher“.
-  „Ist doch egal, du hast doch gesehen, dass die Leute hier keine Ahnung   
    vom Leben in Russland haben“, sagt Nikolai Iwanowitsch verächtlich,
   „Deutsche bleiben eben Deutsche, und wenn du ihnen auf den Kopf haust,
    nichts zu machen. Also ich geh mich erstmal waschen, und du bereitest
    den Tee. Dann trinken wir ein, zwei Täßchen, essen ein paar Brötchen
    dazu und heute abend gibts dann ein komplettes Menü“.

Nach dem Tee klingelt Nikolai Iwanowitsch erneut nach ihrem Zimmerkellner:
    „Nun, Xerr Franz, jetzt müssen wir uns ein wenig Berlin anschauen -
     führen Sie uns!“
-  „Nein, nein, ich komme nirgendwohin mit“, kreischt Glafira Semjonowna
    auf, „noch einmal in eine solche Maschine in der Art dieses Aufzuges und
    ich sterbe!“
-  „Aber nicht doch, Dummchen, Xerr Franz wird uns jetzt doch warnen,
    falls uns eine begegnen sollte“.
-  „Aber natürlich, Madame, seien Sie beruhigt, so etwas wird sich nicht
    wiederholen“, versichert der Zimmerkellner.
-  „Nun komm doch mit“, bittet Nikolai Iwanowitsch seine Frau inständig.
-  „Na gut. Aber auf keinen Fall besteige ich Ihren Aufzug!“
-  „Ich auch nicht, ergebensten Dank“, unterstützt Nikolai Iwanowitsch seine
    Frau, “ aber, Xerr Franz, wo haben Sie denn übrigens, wenn ich fragen
    darf, so gut Russisch gelernt, auf welcher Universität haben Sie denn
    studiert?“ möchte Nikolai Iwanowitsch wissen.
-  „In Warschau, Monsieur, habe ich ein großes Hotel verwaltet, da konnte
    ich das erlernen“.
-  „Aber selber sind Sie Deutscher?“
-  „Eigentlich mehr Pole, als Deutscher“.
-  „Wahrscheinlich Jude?“
-  „Ich bitte Sie, Eure Exzellenz", ruft er entsetzt, " ich bin Pole,

   in Königsberg geboren...“
-  „Ach herrje“ ruft Glafira aus, „das Kaff kannst du doch vergessen, ich
   könnte sterben, wenn ich daran denke... in dieser Stadt wollten sie uns
   kein Abendessen ohne Telegramm geben, dort sind wir in den falschen Zug
   nach Hamburg gestiegen und irgendwo ganz anders hingekommen...“
-  „Nach Dirschau?“, fragt ihr Zimmerkellner, „von Königsberg aus fahren
    beide Züge über Dirschau“.
-  „Über Dirschau erzählen Sie lieber nichts“, erregt sich nun seinerseits
    Nikolai Iwanowitsch, „das ist einfach furchtbar... Heimstätte irgendwelcher
    Räuber... unter Vorspiegelung falscher Tatsachen haben sie uns da ins
    Hotel gelockt, um ihre Zimmer loszuwerden...“

Der Zimmerkellner zuckt nur mit den Schultern: „Da hätten Sie doch von
    Dirschau nach Berlin fahren können..“
-  „Aber nein“, widerspricht aufgeregt Nikolai Iwanowitsch, „uns hat man
    zurück nach Königsberg geschickt...“
-  „Das muss ein Scherz gewesen sein, da muss sich jemand einen Scherz
    für Sie ausgedacht haben“.
-  „Was für ein Scherz? Der Schaffner hat uns fast mit Gewalt hinausge-
     worfen, und ein Bahnhofsvorsteher hat uns dahin geschickt, sogar eine
    Strafe sollten wir zahlen“.
-  „Da sind Sie betrogen wurden, oder man hat Sie nicht verstanden“.

Bedrückt kratzt sich Nikolai Iwanowitsch den Hinterkopf und bemerkt nur:
   „Ohne Sprache - ohne Sprache... nur Ärger... Aber nun sagen Sie mal,
    Xerr Franz, was wir uns heute Abend in Berlin anschauen sollen?“
-   „Für die Theater ist es schon zu spät, das schaffen wir nicht zu Vorstel-
     lungsbeginn, aber wir können ins Aquarium“.
-  „Ach, hier gibts ein Aquarium?- Bei uns in St.Petersburg auch!
                               (Um die Jahrhundertwende bekanntes Restaurant in Petersburg

                                in einer Eisenkonstruktion mit Glasfenstern, später 

                                auch Varietetheater)
    Glascha,  hast du gehört, sie haben ein Aquarium!“
-  „Unser Berliner ist das berühmteste, das erste in Europa“.
-  „Bravo! Und wer spielt bei Ihnen?“

Der Kellner schaut verdutzt: „Fische...äh...Fische und Amphibien...“.
-  „Aber keine richtigen Fische?“
-  „Aber sicher, jede Menge...Süßwasserfische... und aus den Meeren...“.
-  „So, und die spielen?“
-  „Na, sicher, ...die spielen“.
-  „Glascha, hast du das gehört? In Ihrem Aquarium spielen Fische. Das
    müssen wir uns unbedingt anhören“.  
-  „Echt?“ wundert sich Glafira.
-  „Erzählt er doch gerade. Muss 'ne andere Art sein, hab ich noch nie was
    von gehört. Und wer dirigiert da? Wie sagen Sie?“
-  „Wie... ich habe nichts gesagt“.
-  „Doch, doch...haben Sie, so ein deutscher Name, Anti...Antibi...“
-  „Ich habe nur gesagt, da gibts Fische und Amphibien“.
-  „Sag ich doch, Bruder, Xerr Franz, diesen Amfibien, hab ich doch richtig
    gehört. Führen Sie uns hin. Glascha, zieh dich an! Ist das weit weg?“
-  „Fast gegenüber, Unter den Linden“.
-  „Ja ja, erinnere mich. Glascha, nun beweg dich mal, sonst kommen wir zu
    spät. Und, Xerr Franz, können Sie uns nicht für 22 Uhr hier im Hotel ein
    Abendessen bestellen, nicht, dass wir hungrig bleiben müssen“.
-  „Muss das denn hier sein?“ zwinkert der Kellner Nikolai Iwanowitsch zu,
   ermuntert durch dessen Vertraulichkeit, „wir finden bestimmt etwas

   Besseres, Lustigeres“.
-  „Na denn los, je eher, desto besser, bin gespannt. Glascha!“
-  „Bin schon fertig“.

Aus dem Alkoven kommt Glafira Semjonowna in Regenmantel und Hut,
und zusammen verlässt unser Ehepaar das Zimmer, Herr Franz hinterher.

Kapitel 15

Aquarium ohne Musik

Sie benutzen die Treppe und gehen Richtung Unter den Linden. Es ist
bereits nach 20 Uhr, einige Geschäfte haben bereits geschlossen und sind
dunkel, aber der Verkehr hat noch nicht nachgelassen. Räder von Kutschen

und Omnibussen poltern, Peitschen knallen durchdringend und in langen
Reihen rollen enorme Lastfuhrwerke vorbei, mit Fracht überladen, die
beinahe bis in die Höhe der dritten Etage der Häuser aufgestapelt ist, und
gezogen von Zügen von zwei, drei oder gar vier Paaren von Pferden.

Die leichten Equipagen werden von diesen Ungeheuern an die Seite

gedrängt und müssen ihnen die Vorfahrt lassen.

-  „Das ist unsere berühmte Straße ‘Unter den Linden’, unser Newski-
    Prospekt“,  rühmt Herr Franz.
-  „Wenn das nach der Art des Newski-Prospektes ist, warum wird dann
    erlaubt, dass die Lastfuhrwerke die Strasse verstopfen?“ fragt Nikolai
    Iwanowitsch, „schauen Sie sich die Fuhren an, so groß wie ein Haus!“
-  Ja, wo sollten die denn bleiben? Das ist doch eine Straße, die haben
   doch zu tun“.
-  „Die kann man doch durch Nebenstraßen umleiten - hier flaniert das
    feine Publikum und soll durch die Frachtwagen hindurchkrabbeln? Nein,
    bei uns in Petersburg dürfen die auf den Hauptstraßen nicht fahren. Das
    gefällt mir nicht, Bruder Franz, diese Einrichtung, das gefällt mir in Berlin
    überhaupt nicht“.
-  „Aber wenn sie müssen? Sie haben doch einen Auftrag!“ widerspricht der
    Hoteldiener.
-  „Was heißt das schon, müssen, interessiert doch keinen, ihr Auftrag.
    Einfach umleiten, die haben doch Zeit! Die müssen sich doch nicht
    beeilen, um rechtzeitig ins Theater zu kommen!“
-  „Dann werden die Waren aber teurer“.
-  „Wieso das denn?“
-  „Nun, die Route wird länger und der Transport kostet mehr - das ist doch
    eine Frage der Sparsamkeit, der Ökonomie“.
-  „Glascha, hast du gehört, wie sie hier denken? Das heißt doch Sparen an

     der falschen Stelle und das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen!“
-  „Ach, das kennen wir doch schon von den Deutschen, die urteilen immer
    so verkehrt“, bemerkt Glascha nur.
-  „Und warum sind die überhaupt so riesig, dass sie von zwei, drei Reihen
    von Pferden gezogen werden müssen“, wundert sich Nikolai Iwanowitsch
    weiter, „bei uns wird immer nur ein Pferdchen vorgespannt“.
-  „Größere Fuhrwerke sind ebenfalls ökonomischer“, antwortet Herr
    Franz, „egal, wie groß eines ist, es braucht einen Kutscher, und mit großen
    spart man einfach Kutscher ein“.
-  „Was für Ansichten, Glascha, hast du das gehört?“
-  „Sicher, sicher, aber lass mich lieber mal die Damenhüte hier angucken“.

Endlich deutet Herr Franz auf einen hellen, elektrisch beleuchteten Eingang:
   „Hier ist unser berühmtes Aquarium, folgen Sie mir bitte nach oben“.
-  „Wie: nach oben? Ist das Aquarium nicht im Garten? Bei uns ist das im
   Garten“.
-  „Wie das denn? Die haben doch auch Fische und Amphibien, die Sonne
    brauchen, ich meine, ein warmes Klima...Ziehen Sie doch die Mäntel aus,
    das ist warm hier...“
-  „Machen wir, machen wir...komm, Glascha...bei uns im Aquarium war
    immer, mir fällt der Name nicht ein, Franz,...so ein... Strauß, genau,
    Strauß hat gespielt...“
-  „Strauße gibts im Zoologischen Garten...“

Die Eheleute nehmen Billette und betreten in Franz Begleitung das Aquarium.
Links und rechts schwimmen in Bassins Fische. Nikolai Iwanowitsch betrach-
tet sie flüchtig und bemerkt: „Na, weiter. Was sollen wir hier Fische angucken,
   die es bei uns in jedem Restaurant gibt, Sie wollten uns doch welche zei-
   gen, die Musik machen?“

Herr Franz deutet auf eine Schildkröte und sagt: „Hier fangen jetzt die
Amphibien an, ich weiß nicht, viele Damen sind recht empfindlich...“
-  „Nur weiter“, sagt Nikolai Iwanowitsch.

Herr Franz führt sie an Krokodilen und verschiedenen anderen Tieren
vorbei, bei der Schlange allerdings verliert Glafira Semjonowna die Nerven
und möchte sofort raus, so dass sich Nikolai Iwanowitsch genötigt sieht,

einzugreifen: „Xerr Franz, ich frage Sie jetzt zum hundertsten Male, wann die
    Schweinerei hier ein Ende hat? Wann kommen wir zu dem Amphibien?
    Wann kommt die Musik?“
-  „Welche Musik? Hier gibts doch keine Musik!“
-  „Wie das? Ein Aquarium ohne Musik? Überall gibts Aquarien mit Musik.
     Auf der ganzen Welt gibts Aquarien mit Musik. Bei uns in Petersburg

     gibts ein Aquarium mit Musik...“
-  „Hier in Berlin nicht!“
-  „Aber Sie haben doch vorhin das Gegenteil...“
-  „So etwas habe ich nie behauptet, Eure Exzellenz...“
-  „Glascha! Der lügt mir ins Gesicht! Der Strauß, sagten Sie, der würde im
    Zoologischen Garten dirigieren, und hier Amphibien...“
-  „Strauß ist nicht in Berlin, sondern in Wien...hier gibts nur Tiere...“
-  „Keine Musik?“
-  „Nein, keine“.

Stille. Nikolai Iwanowitsch murmelt, mehr für sich selbst: „Nein, mit den
   Deutschen kommen wir nicht klar. Jetzt sprechen wir schon russisch, aber
   einander verstehen tun wir nicht. Alles durcheinander. Drei deutsche Pol-
   tinniki hat der Eintritt gekostet, und das Abendessen muss auch noch be-
   zahlt werden...“, und etwas lauter: „Führen Sie uns bitte zurück... Glascha,
   gehts dir wieder besser?“
-  „Ich weiß nicht, immer wenn ich Schlangen sehe, beginnt bei mir so ein
    inwendiges Zittern, ganz schwach fühle ich mich...“.

Herr Franz zuckt die Schultern und geht voran Richtung Ausgang.

 

Kapitel 16

Schweine-Ökonomie

„Wohin jetzt?“ fragt Nikolai Iwanowitsch seine Frau, als sie endlich auf der
Straße stehen. Herr Franz möchte etwas einwerfen, aber Glafira fährt
dazwischen: „Nirgendwohin! Überhaupt nirgendwo! Für mich war das Vergnü-
   gen hinreichend. Jetzt möchte ich direkt nach Hause, direkt ins Hotel, und
   morgen mit dem ersten Zug nach Paris. Ich habe keine Lust, weiter durch
   Berlin zu latschen, wer weiß, welche Schlangen hier noch herumlaufen...
   Führen Sie uns doch ins Hotel zurück“, sagt sie entschlossen zu Herrn
   Franz.

-  „Ich möchte Madame vorschlagen...“
-  „Ich brauche keine Vorschläge...“
-  „Aber Glascha! Vielleicht liegt noch eine kleine Biergalle auf dem Weg...
    da könnten wir...“ wagt Nikolai Iwanowitsch einzuwerfen.
-  „Du kannst auch im Hotel Bier trinken!“ entschlossen geht Glafira vorwärts.
-  „Äh, Madame, nicht da lang, hier rechts, bitte..“ ruft der Zimmerkellner.

Sie dreht sich herum und ändert die Richtung, ohne ihre Geschwindigkeit zu
vermindern. Hinter ihr her zockeln die beiden Herren.
-  „Schade“, flüstert Herr Franz, ich hatte da so ein lustiges Lokal ausge-
    guckt, da gibts Gesang, da wird gespielt....Abendessen kann man auch
    und das Bier ist hervorragend...“
-  „Mit Schlangen? Ergebensten Dank!“ versucht Nikolai Iwanowitsch
    abzulehnen.
-  „Aber nicht doch. Chansonetten haben sie, sie spielen Lieder und Opern-
    stücke, tanzen kann man, sehr gute Küche...“ Herr Franz gibt noch nicht
    auf.
-  „Wahrscheinlich Schlangenfraß! Ha, erst lebende Schlangen, dann
    gekochte...“ Nikolai Iwanowitsch lacht etwas gekünstelt.
-  „Versuchen Sie doch, Ihre Frau zu überreden, Monsieur, es ist wirklich
    lustig da... und hübsche Frauen gibts...!“
-  „Tja, mein Lieber, ich glaube, da ist nichts zu machen, wenn sie erst mal
    Fahrt aufgenommen hat, bremst die keiner mehr..... besser, Sie führen uns
    nach Hause und bestellen uns da etwas...“ sieht sich, zu seiner Ent-
    täuschung, Nikolai Iwanowitsch gezwungen, das Gespräch zu beenden.
 
Innerhalb von fünfzehn Minuten sind sie wieder im Hotelzimmer.

Glafira wirft Mantel und Hut von sich und setzt sich finster in eine Ecke,

Nikolai Iwanowitsch wirft Seitenblicke auf sie und schüttelt den Kopf,

Herr Franz überreicht die Karte und verbleibt im Hintergrund.

Nikolai Iwanowitsch blättert sie durch und stöhnt: „Bruder, ich kann

    doch Deutsch kaum schreiben, sag uns doch, was wir am besten

    bestellen. Glascha? Was möchtest du denn essen?“
-  „Gar nichts. Ich habe Kopfschmerzen“.
-  „Gar nichts ist kein Abendbrot, ohne Essen geht es nicht. Der Zug fährt früh
    morgen, wir werden uns beeilen müssen... Franz, wann ging der Zug nach
    Paris?“
-  „Um acht. Sie müssen nach Köln und dort umsteigen. Ankunft dort ist erst
    abends, und bis Köln hält der Zug nirgends länger als zwei oder drei
    Minuten“.
-  „Na, siehst du, Glascha, da wirst du bis morgen abend durchhalten müs-
    sen, sag doch, was du essen möchtest“ versucht Nikolai Iwanowitsch
    seine Frau sanft zu überreden, „sag, was du möchtest, und Herr Franz hier
    bestellt es für uns“.
-  „Ach, die setzen uns doch nur ihre deutschen Scheußlichkeiten vor, wenn’s
    wenigstens Щи gäbe...“ seufzt Glafira.
- „Gibts Щи, Franz?“
-  „Nein, den gibts nur in Russland“.
-  „Was ist denn mit Piroggen mit Reis und Soße? Da sehe ich doch wenig-
    stens, was ich esse“.
-  „Piroggen, Madame, sind ebenfalls eine russische Mahlzeit, die finden Sie
    in Berlin nicht“.
-  „Nichts, aber auch gar nichts gibts hier“.
-  „Glascha, was ist denn mit Würstchen und Sauerkraut? Das würde ich
    probieren, die berliner Würste sollen gut sein, ein richtiges deutsches
    Essen...“
-  „Und woher willst du wissen, aus was sie die machen, die Würste?
    Vielleicht aus Hunden?“
-  „Madame, ich kann Ihnen unsere Fischmayonnaise empfehlen“.
-  „Nein, bloß kein Gehacktes oder Püriertes, da sind nachher Schlangen
    untergemischt“.
-  „Nun, und Ferkel in Aspik mit Sahnemeerrettich, geht das, Xerr Franz?“
    schlägt Nikolai Iwanowitsch vor.
-  „Ebenfalls ein russisches Gericht“.
-  „Schon wieder nicht, nicht mal Ferkel, dabei macht ihr Deutschen doch
    alle Würste aus Schwein!“
-  „Das ist richtig, aber Ferkel isst man hier nur sehr selten“.
-  „Warum denn?“
-  „Ökonomie. Das Ferkel kann ja noch zu einem großen Schwein heran-
    wachsen“.
-  „Glascha! Hast du das gehört? Schon wieder die Ökonomie! Diese
    Deutschen... hör mal, Franz, warum sterbt ihr eigentlich? Aus Sparsam-
    keit solltet ihr einfach weiterleben, Beerdigungen sind doch zu teuer“.

Der Hoteldiener muss lächeln.
-  „Also“, hat sich Glafira überlegt, „könnte ich wenigstens Schinken mit
    Erbsen bekommen?“
-  „Aber selbstverständlich, Madame, mit Kartoffeln, mit russischem Weiß-
    kohl oder mit Sauerkraut“.
-  „Na endlich“, freut sich Nikolai Iwanowitsch, „und Bouillon und zwei Mal
    Kalbskotelett und Beefsteak, geht das?“
-  „Jawohl, allerdings nur Lammkotelett, Kalb steht nicht auf der Karte“.
-  „Aus Gründen der Ökonomie?“
-  „Genau“, lächelt Herr Franz.
-  „Küken hätten wir noch gerne, und Bier, reichlich Bier. Vielleicht habt ihr
    so große Krüge? Und Würstchen, deutsche Würstchen, die möchte ich
    probieren, meinetwegen auch mit Hund... nur schade, dass es keinen
    Wodka gibt...“
-   „Kümmel können wir anbieten“.
-   „Süßes deutsches Zeug, naja, dann bring, lässt sich ja nicht ändern“.

Nach einer Stunde wird das Essen aufs Zimmer gebracht.  Nikolai
Iwanowitsch ist schon ganz ausgehungert, schlägt sich bis über beide Ohren

voll und widmet sich daraufhin dem Bier. Auch Glafira Semjonowna isst mit

gesundem Appetit. Zwei Stunden später legt sich Nikolai Iwanowitsch,
hinreichend betrunken, ins Bett und kann noch murmeln: „Gott sei gedankt,
   morgen sind wir in Paris. Dieses Deutschland habe ich sowas von satt“.

Kapitel 17

Nicht 7:51 -: 7:53!

Bei Tagesanbruch werden unsere Eheleute geweckt. Sofort erscheint Kaffee,
sofort erscheint auch Herr Franz mit der Rechnung und bemerkt: „Wenn
   Eure Exzellenz den ersten Zug noch schaffen möchten, sollten
   Sie sich beeilen, sieben Minuten vor acht fährt er ab“.

-  „Nun mach schnell, Glascha“, hektisch möchte  Nikolai Iwanowitsch gleich
     zahlen, wird aber noch nervöser, als er die Ziffer 38 auf der Rechnung
     sieht: „Oi, oi, was ist denn da alles zusammengekommen?“
-  „Sehr geehrter Herr, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass es
    sich um Mark handelt, nicht um Rubel“, merkt Herr Franz an.
-  „38 Rubel für eine Nacht wäre ja noch schöner! Haben uns nicht dem
    Trunke und nicht dem Krakeel hingegeben, keinen Wein getrunken und
     nur beim Bier gesessen und Euren deutschen Fraß runtergewürgt. Die
     Beefsteaks, Bruder, die waren doch vom Pferdchen, mit denen konntest
     du Nägel in die Wand hämmern“.
-  „Aber mein Herr, ich bitte Sie...unsere Küche ist tadellos, wir verwenden
     nur Lebensmittel erster Güte...“.
-  „Mir egal welcher Güte, aber 33 Poltinniki für Essen und Bier ist doch
    unglaublich teuer, das Zimmer kann doch nicht mehr als fünf Poltin
    gekostet haben...“
-  „Nein Monsieur, das Essen war nicht so teuer. Wir haben hier 5 Mark für
    das Zimmer, 2 Mark für Service...“
-  „Wie, für das Service nehmen Sie Geld?“
-  „Nehmen wir“.
-  „Glascha, guck dir an, was sie für das Essensservice genommen haben!“
-  „Nein“,  präzisiert Herr Franz, „Service meint die Bedienung. Weiter haben
   wir vier Mark für meine Begleitung gestern abend, das sind jetzt 11, dazu
   je eine Mark für Strom und das nicht benötigte Bett für Ihre Gemahlin...“
-  „Wie, nicht benötigt? Wird meine Frau etwa nicht benötigt? Glascha, hast
    du gehört, für die bist du überflüssig...“
-  „Entschuldigen Sie, mein Herr, der Zimmerpreis umfasst das Doppelbett,
    steht aber noch ein zweites Bett da, kostet das zusätzlich eine Mark.
    Also, das sind insgesamt 13, plus Fahrt zum Bahnhof und zurück 4 macht
    17, bleiben fürs Souper 21“.
-  „Fffff“, Nikolai Iwanowitsch pfeift zwischen den Zähnen, „38 Poltinni für
    eine Nacht, Glascha, nicht schlecht, auf die Weise werden unsere 1000
    Rubel, mit denen wir nach Paris und zurück fahren wollten, bei weitem
    nicht reichen“.
-  „Nun bezahl doch schon, bezahl doch, was willst du denn immer feilschen.
    die gehen doch sowieso nicht runter. Ich hetz mich ab, und der Herr
    zählt Erbsen und hält alle auf“, mischt sich Glafira Semjonowna energisch
    ein.
-  „Das ist doch immer noch mein Geld, um das ich mich hier streite“, kann
    sich Nikolai Iwanowitsch nicht zurückhalten, anzumerken, und zu Franz
    gewandt: „Ach, Räuber seid ihr. Und dann wird immer gesagt, dass das
    Leben in Deutschland so billig sei, nee, wirklich, den einzigen Vorteil von
    eurer berühmten „Sparsamkeit“ habt ihr selber, einfach Räuber seid ihr,
    Franz. Naja, gut, nimm die 38 Poltinni und bring uns zur Bahn“, schließt
    Nikolai Iwanowitsch etwas versöhnlicher und klimpert mit den Goldmün-
    zen.
-  „Entschuldigen Sie, Eure Exzellenz, aber hatten Sie mir nicht
    noch 6 Mark Trinkgeld versprochen, wenn alles klappt?“
-  „Wofür denn noch? Sie haben doch selbst gesagt, dass Ihre Dienste mit
    vier Mark auf der Rechnung stehen“.
-  „Die vier Mark erhält das Hotel, aber mir haben Sie drei versprochen, wenn
    ich Sie in den Zug setze und Sie sich nicht verirren, am Anfang drei, und
    dann noch mal drei“.

Nikolai Iwanowitsch seufzt: „Gut, sollst du kriegen. Aber nur, wenn du uns um
   Himmelswillen in unseren Zug setzt, dass wir ohne Umsteigen bis nach
   Paris durchfahren“.
-  „So einen Zug gibt es nicht, Monsieur. In Köln müssen Sie auf jeden Fall
   umsteigen und sich in einen französischen Waggon setzen. Sie kommen
   da abends an und haben zwei Stunden Aufenthalt“.
-  „Na, das heißt wieder kein Essen und eine neue Chance, sich zu verlau-
    fen, dankeschön“, ironisch verbeugt sich Nikolai Iwanowitsch, „Glascha,
    hast du gehört, in diesem Köln da müssen wir wieder umsteigen“:
-  „In einen französischen Waggon, das macht nichts. Französisch kann ich,
    da weiß ich mehr Worte als im Deutschen, außerdem habe ich ein
    Wörterbuch mit“.

Um halb acht Uhr morgens schreitet unser Ehepaar, begleitet

von Herrn Franz, im Bahnhof Friedrichstraße die Treppen

zum Bahnsteig hinab.

-  „Ist das wirklich hier, Franz, wohin führst du uns?“ fragt zweifelnd Nikolai
     Iwanowitsch, „das ist doch der gleiche  Bahnsteig, auf dem wir gekommen
     sind, oder? Pass auf, dass wir uns nicht verlaufen, wir müssen nach
     Paris!“
-  „Aber sicher, mein Herr, in Berlin können Sie von jedem Bahnhof in alle
     Richtungen fahren. Um 7:53 Uhr sitzen Sie in Ihrem Zug nach Köln“.
-  „Wirklich?“
-  „Ach, Sie sind schon einer, mein Herr. Glauben Sie mir doch, ich begleite
    jeden Tag Gäste“.
-  „Nee, das hätte ich am liebsten schriftlich“.
-  „Dazu ist es zu spät....ich sage Ihnen, Sie machen sich völlig umsonst
     Sorgen... Haben Sie übrigens schon französisches Geld? In der Nacht
    fahren Sie über die deutsche Grenze, und dann brauchen Sie franzö-
    sisches Geld, wechseln Sie doch hier beim Juden Francs ein“ zeigt Franz
    auf die Wechselbude.
-  „Ja, müssen wir wohl, meinen Sie, 100 Rubel in Papier werden akzeptiert?“
-  „Natürlich, aber in Köln könnte Ihr Jude Sie betrügen, weil Sie kein Deutsch
    sprechen, wenn ich hier hingehe, nicht. Geben Sie ruhig her, ich wechsel
    sofort für Sie und verlange eine Quittung“.

Nikolai Iwanowitsch gibt ihm das Geld und der Hoteldiener geht in die
Wechselbude und kommt mit französischen Gold- und Silbermünzen sowie
der Quittung zurück. Beim Betrachten derselben fängt Nikolai Iwanowitsch
an zu jammern: „Für 39 Kopeken einen französischen четвертак (1 Franc)

   gekauft! Das ist ja schon frech, das ist ja schon Plünderung!

   Ausgenommen wird man im Ausland, oi oi, ausgenommen wie

   eine Weihnachtsgans“, Nikolai Iwanowitsch erhebt flehend seine

   Hände, setzt aber hinzu: „Na, schon egal, wenn wir nur glücklich

   nach Paris kommen“.
Er wird erst ruhiger, als er sieht, dass auf der Gepäckquittung ‘Paris’ steht
und zeigt sie sofort seiner Frau: „Siehst du, Glascha, das Gepäck fährt nach
   Paris, dann sollten wir wohl auch hinkommen. Ach, da fällt mir ein Stein
   vom Herzen...“, seufzt er und stößt beim Gehen andauernd an andere
   Reisende an. Links und rechts fahren minütlich Züge ein, spucken ihre
   Passagiere aus, nehmen neue auf und dampfen wieder ab.
-  „Wohin fahren die denn alle?“ wundert sich Nikolai Iwanowitsch.
-  „In alle deutschen Städte und ins Ausland, von diesem Bahnhof fahren
    täglich bis zu 400 Züge“.
-  „400? Das lügst du doch, Franz!“
-  „Lesen Sie doch die Fahrpläne, die hängen hier irgendwo“.
-  „Glascha! Hast du gehört? 400 Züge... das ist ja die Hölle, der Stations-
   vorsteher muss doch einen Herzinfarkt kriegen....“
-  „Ach, hier gibts viele Vorsteher und Diensthabende...“
-  „Also diese Deutschen... da sagt man, dass sie den Affen erfunden haben,
    aber so ein Bahnhof... kommt denn unser Zug bald?
-  „7:53, in drei Minuten“.

Ein Zug fährt ein. „Ist das unser?“ fragt Nikolai Iwanowitsch.
-  „Nein, nein, der fährt woanders hin, es ist doch erst 7:51. Ihr Zug kommt in
    zwei Minuten“.

Ein Pfiff, und der Zug setzt sich in Bewegung, doch direkt hinter ihm hört
man die ratternden Räder des nächsten.
-  „Das ist er“, sagt Herr Franz, „schnell einsteigen. Trödeln Sie nicht.
     Gute Reise“.
Eine Minute später ist unser Ehepaar bereits unterwegs.