Kapitel 26 - 29: A l'exposition

Kapitel 26

Cocher oder Cochon?

-   „Батюшки! Hier gibts überhaupt keine Kutscher... in was für eine Gegend
    sind wir geraten?“ stellt Nikolai Iwanowitsch fest, als sie vor dem Hotel
    stehen, „wie kommen wir jetzt zur Ausstellung?“
-  „Язык до Киева доведёт“, antwortet tapfer Glafira.
                    (Mit Sprache kommst du bis nach Kiew)
-  „Kennst du im Französischen auch nur Haushaltswörter oder noch

    andere?“     
-  „Ja, noch andere“.
-  „Vielleicht Straßenwörter? Jetzt befinden wir uns auf der Straße, da
    könnten die hilfreich sein“.
-  „Wie soll ich die nicht kennen! Uns hat doch eine richtige Französin
    unterrichtet!“
-  „Glascha, hör mal zu, vielleicht gehts in dieser Richtung gar nicht zur
   Ausstellung....vom Hotel aus sind wir nach rechts gegangen, aber es
   könnte ja sein, dass wir nach links hätten gehen müssen...“
-  „Aber wir brauchen doch bloß einen Kutscher zu finden, der führt

   uns dann hin“.
-  „Lass uns zur Sicherheit lieber fragen... geh doch drüben zu dem Laden,
    über dem der rote Eisenhandschuh hängt, im Eingang das ist bestimmt
    der Besitzer, mit der Pfeife im Maul, frag ihn einfach...“

Die Eheleute überqueren die Straße und gehen zu dem älteren Mann, der
in Weste, blauer Kappe und wollenen Hausschuhen neben der Ladentür in
Ruhe seine Pfeife raucht.
-  „Pardon, Monsieur,“ wendet sich Glafira an ihn, „ à l’exposition -

    à droite ou à gauche?“

Äußerst liebenswürdig beginnt der Franzose eine detaillierte Wegbeschrei-
bung, gestenreich begleitet, und in der Tat stellt sich heraus, dass unser

Ehepaar die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Es kehrt um, bleibt an

der nächsten Kreuzung aber wieder stehen.
-  „Ich glaube, der Handschuhmacher hat gesagt, nach rechts...“ murmelt
   Glafira.
-  „Das weiß Gott allein“, bemerkt ihr Mann, „ich habe nichts verstanden, er
   hat gerattert wie eine Nähmaschine... Frag doch!“

An der Ecke ist ein Geschäft für Haushaltswaren mit Schnapsgläsern in der
Auslage, auf einem Stuhl daneben sitzt eine Alte in roter Wollmütze und
strickt Socken, die auf ihre Frage nach links zeigt und anmerkt: „C’est bien
   loin d’ici, Madame, il faut prendre l’omnibus“.

Sie gehen nach links und gelangen am Ende der Straße auf eine größere,
belebtere. Viele Fußgänger sind unterwegs, Equipagen, Fuhrwerke und
von Reihen von Pferden gezogene Omnibusse, voll besetzt mit einem bunten
Publikum, die Peitschen der Kutscher knallen wie Feuerwerkskörper, auch
die Geschäfte haben größere und blank geputzte Schaufenster.

-  „Rue La Fayette...“ liest Glafira aufgeregt, „die kenne ich  aus Romanen...
   an die Rue La Fayette kann ich mich gut erinnern... aber wir  brauchen eine
   Kutsche, dort, der mit dem weißen Hut und der roten Weste, ruf ihn doch,
   Nikolai Iwanitsch, mir ist es peinlich zu schreien, ich bin eine Dame“.
-  „Извозчик!“
-  „Was rufst du denn auf Russisch?“
-  „Weg ist er... habe ich völlig vergessen, dass die hier kein Russisch

    verstehen... wie heißt denn Kutscher auf Französisch?“
-  „Cocher“.
-  „Wirklich? Ich dachte, das sei ein Schimpfwort?“
-  „Schwein heißt cochon...“
-  „Was eine Sprache... cochon - Schwein, cocher - Kutscher, hoffentlich
   verwechsel ich das nicht...“
-  „Da, ruf doch, Nikolai Iwanitsch!“
-  „Эй, cocher! Monsieur Cocher!“
-  „Also bist du soweit bist, ist er schon besetzt... siehst du, da ist schon
   jemand eingestiegen“.
-  „Cocher!“ ruft Nikolai Iwanitsch erneut und schwenkt den Regenschirm,
    aber der Kutscher winkt mit der Peitsche ab. „Fährt uns nicht,

    wahrscheinlich besetzt“.

Wieder eine Kreuzung.
-  „Rue Lafitte“, liest Glafira Semjonowna, „die kenne ich auch aus Romanen
    ... Батюшки!  In die Rue Lafitte kam Angélique, um Gaston zu treffen, und
    hier hat  Gaston Gerome mit einem Dolch verwundet...“ ruft sie aus.
-  „Angelique? Welche Angelique? Und wer ist dieser Gaston?“
-  „Ach, kennst du nicht... das ist im Roman... das weiß ich noch gut...sogar
   ein Gässchen haben sie nach Jacques Vidal benannt, nach diesem Hinter-
   halt im Treppenhaus... Da, ein Kutscher! Ruf ihn! Ruf doch!“
-  „Cocher! Cocher!“

Der Angerufene schüttelt aber den Kopf und fährt weiter.
-  „Was zum Teufel?!  Der will uns nicht fahren! Wir können doch nicht,
    bitteschön, den ganzen Weg zu Fuß machen...“ ruft aufgebracht
    Nikolai Iwanowitsch.
-  „Zu Fuß ist unmöglich, die Französin eben meinte, das wäre zu weit...
   aber da ist noch einer...Cocher!“ ruft Glafira jetzt selber, „à l’exposition?“

Mit einer Geste wird unser Ehepaar in die Kutsche eingeladen.
-  „Nicht einfach so reinsetzen!“ hält Nikolai Iwanowitsch seine Frau zurück,
   die schon dabei ist, auf den Sitz zu krabbeln, „erst verhandeln! Sonst neh-
   men die wieder weiß der Teufel wieviel. Cocher! Combien à l’exposition?“

Der Kutscher lächelt, kramt in seiner Westentasche, überreicht Nikolai
Iwanowitsch eine gedruckte Liste und verbeugt sich: „Prenez place seule-
   ment!“
-  „Was steckst du mir so ein Blatt zu? Du sollst mir sagen combien à l’expo-
    sition!“
-  „Vous verrez là, Monsieur, c’est écrit“.
-  „Glascha! Was sagt er?“
-  „Er hat gesagt, die Preise stehen auf der Liste... nun setz dich doch.. das
   sind bestimmt die Tarife“.
-  „Ich möchte mich aber nicht einfach so setzen! Warum hat uns denn der
   erste Kutscher keine Tarife gezeigt? A l’exposition - un Franc?
   Четвертак?“
-  „Oh non, Monsieur“, verneint der Kutscher und wendet sich ab.
-  „Nun setz dich doch endlich, Nikolai Iwanitsch, sonst bleiben wir noch

    ohne Kutsche hier stehen!“ widerspricht Glafira und steigt einfach ein.
-  „Glascha, nie willst du feilschen. Abziehen werden die uns“.
-  „Setz dich hin“.

Nikolai Iwanowitsch, vor sich hin knurrend, bequemt sich ebenfalls in die
Equipage. Der Kutscher fährt aber noch nicht los, sondern dreht sich zu
ihnen um: „Un Franc et cinquante Centimes et encore pour boire...“.
-  „Allez, allez...“ winkt ihm Glafira, „Anderthalb Francs will er noch als
   Trinkgeld“, erklärt sie ihrem Mann, „allez, allez cocher... à l’exposition“.
-  „Quelle porte, Madame?“
-  „Also davon habe ich nicht die geringste Ahnung... Pour boire oui, allez,
   allez...“.
Der Kutscher lächelt, tippt sein Pferd leicht mit der Peitsche an und langsam
trottet dieses los.

Kapitel 27

Monsieur Nikolja

Kurze Zeit später dreht der Kutscher sich zu ihnen: „Vous êtes étrangers,
   Monsieur? N’est-ce pas?“
-  „Glascha! Was hat er gesagt?“
-  „Woher soll ich das wissen... habe nichts verstanden..“
-  „Aber das sind doch Straßenwörter, und vorhin hast du geprahlt...“
-  „Ach, davon gibts viele... sind vielleicht aber auch keine Straßenwörter...“
-  „Êtes-vous russe, Monsieur, anglais, espagnol?“
-  „Russes, russes“ ruft Glafira und übersetzt ihrem Mann.
-  „Russes, брат, russes“, bestätigt auch Nikolai Iwanowitsch und fährt auf
    Russisch fort: „Na, treib die Pferdchen an, schwierig, was, hier durch den
    Verkehr zu kommen - oder warum fährst du so langsam? Nun mach hin,
    kriegst auch für чай, oder, wie ihr hier sagt, für Kaffee... wir Russen lieben
    einfach, zu feilschen, aber  wenn alles klappt, gucken wir nicht aufs Geld...“
-  „Was erzählst du denn da alles, russisch versteht er doch nicht!“
-  „Dann übersetz doch!“
-  „Allez... allez vite...nous donons pour boire, bien donons...“
-  „Oh, à présent je sais... je connais les russes. Si vous êtes les russes, vous
    donnez bien poure boire... alors il faut vous montrer quelque chose remar-
    quable, voilà, c’est l’Opéra...“ der Kutscher deutet mit der Peitsche auf ein
    riesiges Gebäude.
-  „Ach, das ist die Oper! Nikolai Iwanitsch, das ist die Oper... na schau an,
    was für ein liebenswürdiger Kutscher, erzählt, während wir fahren...“
    erklärt Glafira ihrem Mann, „aha, die Oper, dann müsste sich in der Nähe
    das Cafe Riche befinden, in dem Graf Clermont die Bekanntschaft von
    Klementine gemacht hat, sie war Tänzerin an der Oper“.
-  „Welcher Graf? Welche Klementine?“ fragt Nikolai Iwanowitsch erstaunt.
-  „Ach, kennst du nicht, aus einem Roman... diese Klementine hat den
   Grafen letztlich völlig ruiniert, und zwar besaß sie ein goldenes Medaillon
   von ihrer Mutter, und dieses Medaillon...“
-  „Du quatschst doch einen unglaublichen Unsinn daher...“
-  „Nur für mich, hör doch nicht hin... das ist aufregend, die Orte zu sehen, an
    denen die Bücher spielen...“

Ganz offensichtlich nimmt der Kutscher nicht den direkten Weg zur Ausstel-
lung, sondern fährt kreuz und quer, zeigt mit der Peitsche überall hin und
kommentiert alles:  „Notre-Dame... Palais de Justice... Boulevard des
    Italiens...“
-  „Ach, das ist er... „ruft Glafira andächtig aus, „dem begegnet man in fast
    jedem Roman...Guck, Kolja, wieviele Menschen... alle sitzen an Tischchen
    an der Straße, trinken, essen, lesen ... wie die Polizei das zulassen kann?
    Trinken auf der Straße!...Батюшки! Die Kutscher lesen Zeitungen! Sitzen
    auf dem Bock und lesen! Das müssen ja alles gebildete Leute sein, was
    sagst du dazu, Nikolai Iwanitsch?“
-  „Naja, die kannst du natürlich nicht vergleichen mit unseren rjasansker
    Dorftrotteln... aber was ich dir noch sagen wollte, Glascha, nenn mich
    doch jetzt nicht mehr Nikolai Iwanitsch, sondern lieber Monsieur Nikoljá,
    sind in Paris jetzt, da müssen wir uns anpassen... ein wenig französisieren,
    mit den Wölfen heulen...jetzt machen wir alles auf französische Manier, ich
    glaube, ich werde nachher im Restaurant auch mal diese Frösche
    verspeisen...“
-  „Pfui, dann suchst du dir aber einen anderen Tisch...“
-  „Ach was, mitgegangen - mitgefangen... wie heißen denn Frösche auf
   Französisch?“
-  „Verrat ich nicht!“
-  „Weißt du wohl nicht!“
-  „Weiß ich wohl, sag ich aber nicht!“
-  „Na egal, kann selber im Wörterbuch nachgucken... meinst du vielleicht,
    ich würde die Frösche gern essen? Nee, widert mich auch an, aber ich
    bin gezwungen... muss doch nachher davon erzählen..“
-  „Hör mit dem Thema bitte auf... also, diese Boulevards...so hatte ich sie
    mir überhaupt nicht vorgestellt. Boulevard de Capucines... hier hat sich
    Guilleaume versteckt, als Arbeiter verkleidet und mit angeklebtem Bart,
    und mit dem Komissar Absinth getrunken, ohne dass der ihn erkannt
    hätte...“
-  „Alles aus deinen Romanen? Nun hör aber auf...“
-  „Ach, Nikolai Iwanitsch...“
-  „Nikoljá!“
-  „Ach, Nikoljá, das ist doch zu schön... ich wundere mich nur, wie
    Guilleaume sich bei diesen vielen Menschen hier verstecken konnte...
    Und Notre-Dame-de-Lorette...  Fancietta in ihrem Dachkämmerchen...“
-  „Herr-im-Himmel, jetzt ist aber gut mit deiner Schwärmerei...“

Nachdem der Kutscher sie durch die verschiedensten Straßen chauffiert hat,
gelangen sie zum Seine-Ufer. Glafira erblickt den Eiffelturm und ruft:
   „Die Weltausstellung!“
 Sofort springen Straßenjungen auf das Trittbrett und bieten Eintrittskarten
an, was Nikolai Iwanowitsch aber ablehnt: „Nein, die kaufen wir an Ort und
   Stelle, nachher sind die noch gefälscht“, und scheucht die Jungen weg.

Der Kutscher lässt unser Ehepaar am Trocadero aussteigen.

Kapitel 28

Aber nicht heute!

Am Trocadero, gegenüber dem Ausstellungseingang, hat sich

bereits ein großer Auflauf von Besuchern gebildet, die, mit Kutschen

und Omnibussen gekommen, alle zum Eingang rennen, um möglichst

schnell an das Schwanzende der Schlange vor den Kassenhäuschen

zu gelangen. An den Kassen werden die Billets aber nur eingesammelt,

kaufen muß man die vorher bei privaten Verkäufern oder Schwarzhändlern,

oft Kindern, die haufenweise das Publikum belagern und jedem

Vorbeigehenden Karten anbieten.

Ursache dafür ist die Tatsache, dass jeder, der die Anleihe für die

Weltausstellung zeichnete, 25 Freikarten erhielt und Paris nun

mit Eintrittskarten überschwemmt war, was natürlich deren Preise

fallen ließ, von 1 Francs auf jetzt 30 Centimes oder weniger.

So sehen sich auch unsere Eheleute, kaum aus der Kutsche gestiegen,
umlagert von Verkäufern. Einer bietet die Billets für 40 Centimes an, der
nächste für 30 und der dritte für 25, unaufhörlich einander unterbietend.

-  „Brauchen wir nicht, brauchen wir nicht“, versucht Nikolai Iwanowitsch sie
   zu verscheuchen, der mit dem Kutscher abrechnen möchte. „Wieviel geben
   wir ihm, Glascha? Auf anderthalb четвертaк haben wir uns geeinigt“.
-  „Dann gib ihm drei. Ist zwar nur ein Kutscher, aber ein liebenswürdiger
   Mensch, hat uns durch verschiedene Straßen geführt und alles gezeigt

   und erklärt“.
Nikolai Iwanowitsch tut, wie ihm geheißen, und der Kutscher scheint sehr
zufrieden, nimmt den Hut ab und erklärt: „Oh merci, Monsieur, a présent je
   vois, que vous êtes les vrais russes...“.

-  „Батюшки! Was für eine Schlange am Eingang! Komm schnell, wir stellen
    uns an...das ist ja unglaublich, wie viele Besucher... und Schwarzhändler
    auch, vor der Nase der Polizei... so viele Polizisten, und keiner jagt sie
    fort...“, verwundert sich Glafira.

Sie stellen sich an, genau neben einen Gendarmen, der das Publikum vor
Taschendieben warnt und ständig ausruft: „Gardez vos poches, Mesdames,
   Gardez vos poches, Messieurs...“
-  „Glascha! Was sagt er?“
-  „Weiß ich doch nicht...“
-  „Soso, scheinen mir aber ebenfalls Straßenwörter zu sein...“

Nach einer Viertelstunde steht unser Ehepaar am Kassenhäuschen: „Vos
   billets, Monsieur...“
-  „Il faut acheter, nous n’avons pas les billets...“ antwortet Glafira, „Combien
   d’argent?“
-  „Wir verkaufen hier keine Billets, wir kontrollieren nur... Kaufen müssen Sie
   die draußen, gehen Sie bitte zurück“. Der Kontrolleur läßt unser Ehepaar
   ein, nur um sie gleich wieder durch die Ausgangspforte zu schieben.
-  „Glascha! Was soll das denn bedeuten?“
-  „Ohne Billet lassen sie uns nicht durch“.
-  „Dann hättest du doch welche gekauft!“
-  „Sie verkaufen nicht“.
-  „Verkaufen nicht? Was soll das denn heißen? Sind wir der Abschaum der
    Erde? Ist unser Geld schlechter, oder was? Was ist das denn für eine
    Schikane?“
-  „Ich weiß es nicht...“ antwortet Glafira und ruft einfach laut in die Menge:
   „Écoutez! Что же это такое? Nous voulons acheter billets - и нам не
    продают! Billets, billets... где же купить? Où acheter?“

Sie wedelt sogar mit dem Schirm und einige Menschen versammeln sich

um sie, darunter auch ein Gendarm: „Bei den Jungen können Sie Billets

kaufen,  dann lässt man Sie sofort hinein, ohne Billets geht es nicht“.

Er winkt einen Jungen heran: „Deux billets pour Monsieur et Madame“.
-  „Da guck dir das an, hier unterstützen die Gendarmen den Schwarzmarkt.
    Bei uns werden die festgenommen, hier wird man von der Polizei zu den
    Schwarzhändlern geschickt“.

Sie sind gezwungen, bei dem Jungen Karten zu kaufen, für 60 Centimes das
Stück, und sich erneut in die Schlange einzureihen, wieder für eine Viertelstunde.
-  „Nee, was für eine Ordnung“, kann Nikolai Iwanowitsch nur den Kopf
    schütteln, als sie endlich eingelassen werden.

Hinter dem Publikum her ersteigt unser Ehepaar die Stufen zum

Anthropologischen Museum, durchquert die Korridore und findet sich

plötzlich in dem Vorbau wieder, der sich zum Park hin öffnet.

Das Gebäude liegt auf einer Erhöhung und es eröffnet sich ein herrlicher

Blick auf das gesamte Ausstellungsgelände auf beiden Seiten der Seine.

Direkt vor ihren Augen breitet sich ein weiter, üppiger Blumengarten aus,

leuchtende Rabatten abgeteilt vom smaragdgrünen Rasen, durchzogen

von gelben Wegen, übersät mit Kiosken in den wunderlichsten Formen.

Es gibt Wasserspiele, Schlösser erheben sich in der Ferne und zwischen

ihnen, wie ein Gigant, ragt der rötliche Eiffelturm hervor. Unwillkürlich

bleibt unser Ehepaar stehen, um das eindrucksvolle Panorama der

Weltausstellung zu betrachten.

-  „Wie schön...“ hebt Glafira nach einigem Schweigen an.
-  „Lange waren wir unterwegs, viele Leiden hatten wir auf dem Wege auszu-
    stehen, aber endlich sind wir angekommen...“ fügt Nikolai Iwanowitsch
    hinzu, „nun, was soll’s, jetzt müssen wir auch alles besichtigen. Komm mit
    zum Eiffelturm“.
-  „Ja, gehen wir...aber, Nikolai Iwanitsch, das ist so...ich habe ein wenig
    Angst, auf den Turm selbst zu klettern...“.
-  „Na, so eine blöde Kuh! Das kann doch nicht wahr sein! Ja, wofür sind wir
    denn hierhergefahren? Wir sind doch deswegen zur Ausstellung gereist,
    um auf den Eiffelturm zu steigen!“
-  „Das ist doch Unsinn. Wir sind hergekommen, um uns die Ausstellung
    anzugucken“.
-  „Aber auf der Ausstellung sein und nicht auf den Turm klettern, das ist
    wie..... in Rom sein und den Papst nicht sehen. Und hatten wir nicht
    bitteschön vor, dort auf dem Turm die Postkarten an unsere Bekannten
    zu schreiben und direkt von dort abzuschicken? Iwan Danilitsch hat uns
    eine von dort geschrieben, dem müssen wir auch von dort eine schicken.
    Und anderen Bekannten... hab ichs versprochen“.
-  „Die Briefe kannst du auch unterm Turm schreiben“.
-  „Das ist nicht das Gleiche, oben haben sie einen extra Stempel. Oben
    haben sie einen Stempel, da ist der Eiffelturm abgebildet, aber wenn du
    nicht raufkletterst und die Karte unten einwirfst, gibts sowas nicht“.
-  „Was willst du denn mit deinem Stempel?“
-  „Damit alle sehen, dass ich auf dem Eiffelturm war, sonst glauben die das
   nicht. Nein, da kannst du sagen was du willst, wir steigen da rauf und
   schreiben von da oben unseren Bekannten Postkarten“.
-  „Aber der wackelt doch, sagen sie“.
-  „Na, und weiter? Wackelt, aber fällt nicht um. Wenn du wirklich viel Angst
   bekommen solltest, halt dich an mir fest“.
-  „Das ist doch völlig egal, wenn er einstürzt. Dann sterben wir beide“.
-  „Jetzt steht er schon so lange, und ausgerechnet jetzt soll er umkippen!
    Was erzählst du denn, Matuschka!“
-  „Ein Unglück kann immer passieren. Aber gibst du auf dich selber acht,
    beschützt dich auch der gütige Herrgott...“
-  „Aber nicht doch, Glascha, ich bitte dich... du nimmst dich ein bisschen
   zusammen, und dann steigen wir hinauf. Oben schreiben wir dann sofort
   die Briefe. Die sollen uns kennenlernen! Nikolai Iwanowitsch und Glafira
   Semjonowna auf dem Eiffelturm, umgeben von Nebelschwaden stehen
    sie auf der Spitze... Täubchen, Glascha, sei doch nicht so starrsinnig...“
    bittet Nikolai Iwanowitsch seine Frau inständig, „komm, wir gehen...“
-  „Na gut“, gibt Glafira nach, „aber nicht heute... so plötzlich ohne Vorberei-
    tung kann ich das nicht...gib mir Zeit, mich an die Ausstellung zu gewöh-
    nen und alles anzugucken. Morgen und übermorgen sind wir doch auch
    hier, dann können wir immer noch irgendwie raufklettern...“.
Sie dreht sich um und begibt sich zur Treppe, die in den Park führt, Nikolai
Iwanowitsch hinterher: „Wunderbar, schönen Dank, du kletterst also mit mir
    auf den Eiffelturm und ich kaufe ein hübsches Seidenkleid für dich...600
   Francs bin ich bereit, zu opfern, vielleicht sogar 700, aber du musst dir
   auch ein Kleid aussuchen, das der Hammer ist, ich will, dass sich die
   Damen in Piter vor Neid die Fresse blutig kratzen!“

Kapitel 29

Pariser Schönheiten

Unser Ehepaar streift durch den Garten der Ausstellung, bewundert die
Wasserfontänen, bleibt vor den Kiosken stehen und guckt hinein, ohne durch
etwas im Einzelnen besonders verblüfft zu sein, spaziert durchs Anthropolo-
gische Museum und beschaut sich die Puppen, die die verschiedenen Völker
darstellen sollen, bis schließlich Glafira ausruft: „Das soll Paris sein? Da
   spricht man von pariser Mode, pariser Eleganz, und wir latschen und lat-
   schen und sehen nichts Besonderes. Feine Garderoben habe ich keine
   einzige gesehen. Die Damen tragen die einfachsten Kleider, die simpelsten
   Hüte  und ganz gewöhnliche Regenmäntel. Bei uns ziehen sich die Zim-
   mermädchen zum Spaziergang besser an, und hier ist die Weltausstel-
   lung, das ist doch wohl ein Spaziergang. Ich bin besser als alle angezogen,
   und er prahlt herum mit seinem modischen Paris“.
-  „Hast ja Recht, mein Herzchen, hast ja Recht, ich hab das auch schon
   festgestellt. Aber kann ja sein, wir sind an einen merkwürdigen Eingang
   geraten, wo sie nur das einfache Volk einlassen? Vielleicht sind die besse-
   ren Leute da drüben?“ und er zeigt Richtung Seine.
-  „Als wir hierhergefahren sind, hast du vielleicht auf den Straßen von Paris
   modisch gekleidete Menschen gesehen? Alles Lumpen, Alltagskleider,
   grobe Hüte. Ich dachte, irgendwer läuft vorne oder hinten oder an der Seite
   mit Blümchen oder Federn oder Vögelchen, aber nichts dergleichen. Nicht
   mal Equipagen mit guten Pferden haben wir gesehen. Wenn das die pariser
   Mode sein soll...Schande, eine Blamage...“
-  „Aber wenn wir abends ins Theater gehen, vielleicht sehen wir sie dort?
   Ich bin überzeugt, auf der anderen Seite der Seine gibt es elegantes
   Publikum. Wir sind bloß nicht an dem Eingang gelandet, an dem die Aris-
   tokratie hineingeht“.
Glafira Semjonowna ist noch nicht fertig: „Das ist ja nicht nur die Mode...
   schau dir mal die Schönheiten hier an... Bei uns in Petersburg hört man
   immerzu: Ach, die Französinnen! Ach, welcher Schick! Wie graziös!
   Pikant seien sie, zum Anbeißen hübsch - und! Guck dich um - wo sind
   denn unsere Pikanten, unsere Schönheiten? Zwei Stunden treiben wir
   uns hier schon herum - ich hab noch keine entdeckt. Nicht mal eine
   Hübsche. Alle so la-la, ganz gewöhnliche Frauen und Mädchen. Siehst
   du die dicke Kuh da hinten? Hat sogar irgendwie schiefe Beine - noch
   gar nicht alt - und sieht aus wie ein Mörser“.
-  „Naja, ist vielleicht eine Deutsche?“ überlegt Nikolai Iwanowitsch.
-  „Was hat denn eine Deutsche in Paris zu suchen?“
-  „Und was wir, Russen?“
-  „Ach, du willst nur wieder streiten. Nein, hier gibts keine hübschen und
   niedlichen Frauen. Zeig mir doch eine einzige!“
-  „Die haben die Ausstellung vielleicht schon alle gesehen, die läuft doch
    seit dem Frühjahr. Aber ich bin sicher, auf der anderen Seine-Seite werden
    wir alles finden... außerdem, Glascha, es ist schon fünf Uhr, ich habe
   Hunger. Wir sollten mal gucken, wo man essen kann - in den Zeitungen
    stand, dass es eine Menge Restaurants geben soll, aber gesehen habe
   ich noch keines. Bestimmt auf der anderen Seite, komm, hier ist die Brücke,
   hier kann man auch um den Eiffelturm herumgehen, den müssen wir uns
   unbedingt aus der Nähe anschauen, nicht wahr? - gucken und suchen
   gleichzeitig ein Restaurant“.

Glafira Semjonowna betrachtet ihren Ehemann skeptisch und sagt: „Mit dir
   gehe ich in kein Restaurant“.
-  „Weswegen das denn? Ich bin so ausgehungert, mir rutscht schon die
    Hose!“
-  „Soll sie rutschen, ich komme nicht mit“.
-  „Was soll das denn? Du hast doch auch Hunger?“
-  „Wenn ich hungrig bin, fahre ich nach Hause und bestelle Brötchen und
   Schinken. Aber ins Restaurant gehe ich nicht mit“.
-  „Aus welchem Grund?“
-  „Ganz einfach. Erinnerst du dich noch, was du vorhin gesagt hast? Was
    du im Restaurant bestellen würdest? Deswegen“.
-  „Ach, wegen der Froschschenkel? Die werde ich heute nicht bestellen.
    Vor der Abfahrt aus Paris werde ich versuchen, die zu essen, aber dann
    kann ich allein gehen, ohne dich“.
-  „Das lügst du alles. Trinkst wieder zuviel, und dann bestellst du sie, ich
   kenne dich. Wenn du betrunken bist, frisst du alles Mögliche. Ich habe
   doch selbst gesehen, wie du beim Tataren in Petersburg besoffen mit
   deinem Bekannten gewettet hast und von einem lebenden Aal abgebissen
   hast...“
-  „Ja, da haben sich damals alle gewundert. Pentjukow trank Wodka mit
    Essig, Olivenöl und Senf, und ich hab eben den Aal bestellt. Nein,
    Glascha , das war ein Scherz, ich nehme heute keine Frösche.
    Irgendwann allein vielleicht, ohne dich“.
-  „Schwörst du mir das?“

Nach den notwendigen Schritten überquert unser Ehepaar die Brücke, steht eine Viertelstunde später vor dem Eiffelturm und kann, den Kopf in den
Nacken gelegt, beobachten, wie der Aufzug das Publikum in die erste, zweite
und dritte Etage befördert, wie sich auf jeder Etage die Leute ans Geländer
drängen und so klein erscheinen wie Fliegen oder Ameisen.

-  „Müssen wir denn wirklich in diese Maschine einsteigen?“ fragt Glafira mit
   einem bedrückten Herz und muss sich auf einen der herumstehenden
   Gartenstühle sinken lassen.
-  „Was ist denn daran so Beängstigendes? Setzt dich hin, wie in eine Kut-
   sche, die Maschine pfeift - und ab...“ antwortet Nikolai Iwanowitsch und
    setzt sich neben seine Frau.
-  „Aber diese Höhe macht mir Angst!“ seufzt Glafira.
-  „Dafür kannst du die Briefe von dort schreiben und vor deinen Bekannten
    angeben, dass du bis ins Firmament gekraxelt bist“.
-  „Nikoljá! Der wackelt, der Turm. Ich kann sehen, wie der wackelt“.
-  „Aber nicht doch, nicht doch..“
-  „Und ich sage dir, dass er wackelt... siehst du, siehst du... du guckst gar
    nicht hin!“

Die Eheleute beginnen ein wenig zu streiten, als eine ältere Dame sich vor
ihnen aufbaut. Sie trägt ein abgenutztes Wollkleid, Samthaube und
Handtasche und hält ihnen zwei gelbe Zettelchen hin: „Pour les chaises,
   Monsieur, vingt Centimes... pour le repos..“
Nikolai Iwanowitsch glotzt sie nur an: „Чего вам, Мадам? Weswegen?
   Was wollen Sie?“ spricht er überrascht.
Die Frau wiederholt ihre Worte.
-   „Muss das jetzt sein? Wir führen gerade ein kleines Gespräch unter uns.
   Ce ma femme - и больше ничего...“ er zeigt auf seine Frau und winkt ab:
   „Allez ... oder ich rufe die Wache“.
-  „Mais, Monsieur, vous devez payer pour les chaises!“ und hält wieder die
   Billets hin.
-  „Billette? Was für Billette? Wir brauchen keine. Glascha! Sag es ihr doch
   auf Französisch und jag sie fort“.
-  „Monsieur doit payer pour les chaises, pour le repos...“ beharrt die Dame
   und zeigt auf die Stühle.
-  „Sie sagt, wir müssen für die Stühle bezahlen“.
-  „Für welche Stühle?“
-  „Na hier, auf denen wir sitzen“.
-  „Weiß der Teufel, was das soll!“ ruft Nikolai Iwanowitsch, springt auf und
    greift mit der Hand nach dem Portemonnaie, „was für ein Mist, dass ich
    kein einziges Schimpfwort auf Französisch weiß, für diese Alte“.
Er reicht ihr das Geld.