Kapitel 69 - 71 Abreise

Kapitel 69

Der Morgen danach

Während Glafira heult, steht Nikolai Iwanowitsch auf und bringt schweigend
seinen Anzug in Ordnung, allerdings unter großen Anstrengungen. Nach dem
gestrigen Trunk schwankt er noch immer, sein Kopf ist schwer wie eine
gusseiserne Kasserolle, seine Augen vertragen die Helligkeit nicht und tränen
und die Zunge im Mund fühlt sich an wie gegerbtes Leder. Er wäscht sich
sorgfältig, allein, das hilft auch nicht. Er versucht, eine Papirossi zu rauchen,
aber er muss würgen. Er hustet, drückt die Kippe aus und setzt sich neben
Glafira.

-  „Weg!“ schreit sie, mit den Händen nach ihm schlagend, „komm mir nicht
   näher. Geh doch zu deinen Schlampen“.
-  „Welche Schlampen denn, was du nur erzählst...“
-  „Zu denen, von denen du diese Souvenirs mitgebracht hast...“
 
Glafira Semjonowna begibt sich zu seinem Mantel, der an einem Nagel neben

der Tür hängt, holt aus dessen Innentasche einen Puderschwamm und eine

Visitenkarte mit der Aufschrift ‘Blanche Barbier’ sowie Adresse und verkündet

diese laut, nämlich Italienischer Boulevard Nummer soundso.

Desweiteren fördert sie noch einen Stöpsel eines Kristallflakons zutage

sowie einen zerdrückten Schmetterling aus Tüll und Samt.
-  „Gefällt dir, was? Was ist das? Wo hast du das her?“

Nikolai Iwanowitsch reißt überrascht die Augen auf und hebt abwehrend die
Hände: „Absolut keine Ahnung, wo das herkommt...“, aber sofort fällt ihm
   etwas ein, was er erfinden könnte und murmelt etwas kleinlaut: „Ach ja, den
   Schmetterling hatte ich für dich gekauft, nur ist er in der Tasche zerknittert..
   war hübsch...“
-  „Dankeschön, dankeschön... und den Flakonstöpsel hast du wahrscheinlich
   auch für mich gekauft, und das Kärtchen dieser Blanche mit Adresse ist
   ebenfalls für mich gedacht?“
-  „Liebling, das ist wahrscheinlich irgendeine Schneiderin, Schneiderin, ja..
    jetzt erinnere ich mich, ich war betrunken, offen gesagt, ein wenig betrun-
    ken, aber das muss die Adresse dieser günstigen Schneiderin sein, die
    mir Madame Bavolet für dich empfohlen hat“.
-  ‘Fuu, gerade noch so davongekommen’, denkt sich Nikolai Iwanowitsch,
    aber Glafira Semjonowna lächelt nur giftig: „Lüg nicht, du Lump, lüg nicht!“
    zieht aus der anderen Manteltasche einen dünnen, schwarzen Handschuh
    mit sieben Knöpfen, eindeutig benutzt und sogar schon gestopft, und fragt:
   „Diesen alten Handschuh hast du sicher auch für mich gekauft?“
-  „Da staune ich nur, das kann ich überhaupt nicht fassen, wie der da hinein-
    geraten ist... also höchstens, also dass dieser Franzose, mit dem wir
    gestern getrunken haben, den da reingesteckt hat, irrtümlich oder so...“
-  „Na wunderbar. Um sich schick zu machen, hat der Franzose sich einen
    Damenhandschuh angezogen, der bis über den Ellenbogen reicht. Du
    hättest wenigstens etwas Vernünftiges zusammenlügen können - aber
    das war doch wohl einfach nur Unsinn. Also, es ist klar, dass du gleich
    mit verschiedenen Schlampen rumgebumst hast, und diesen Krims-Kram
    hast du als Andenken eingesteckt. Mein Herr Ehemann, ich kenne Sie,
    ganz genau kenne ich Sie. Und wenn ich fragen dürfte: wo ist denn Ihr
    Geld abgeblieben?“ spricht sie und geht auf ihren Mann zu, der vor ihr
    zurückweicht. „Am dritten Tag waren abends in Ihrer Börse 40 Goldmün-
    zen, jetzt sind noch zwei übrig. 38 fehlen. Das heißt, dass Sie an einem
    Abend 760 Francs auf den Kopf gehauen haben. Sie wollen doch nicht
    erzählen, dass Sie in dieser billigen, schmutzigen Kaschemme 38 Gold-
    stücke versoffen haben?“
-  „Sind wirklich nur noch zwei übrig?“
-  „Zwei... bitteschön, und viel Spaß damit...“. Glafira zieht unter ihrem
   Kopfkissen sein Portemonnaie hervor und reicht ihm die beiden Münzen.
-  „Versteh’ ich nicht, versteh’ ich absolut nicht...“ wieder hebt er abwehrend
    die Hände, „muss ich verloren haben....das ist ja eine Strafe... der Cham-
    pagner war doch gar nicht so teuer, nur fünf oder sechs Francs pro
    Flasche... keine Ahnung wofür das alles... betrunken war ich, das ist
    richtig, und das tut mit auch leid...“
-  „Aber ich weiß, wofür... diese 700 Francs sind in die Hände oder die Muschi
    von Blanche und den anderen Flittchen gewandert!“ ruft Glafira streng und
    schnippt ihm die Visitenkarte gegen die Nase, „jawohl, tz tz... und was die-
    se Schneiderin betrifft... tja, da hab ich schon alles in Erfahrung gebracht.
    Während du es vorzogst, bis 2 Uhr zu schnorcheln, bin ich schon zum
    Italienischen Boulevard, und deine Schneiderin ist niemand anders als
    diese Blanche Barbier...“
-  „Aber Liebling, ich kann mich an nichts, rein gar nichts erinnern - voll
    gewesen bin ich wie eine Haubitze. Das Kärtchen kann mir der Franzose
    zugesteckt haben, und genausogut hätte er mein Geld klauen können,
    weiß der Teufel, was das für ein Franzose war! Dich muss doch gestern
    der Teufel geritten haben, in diese Kneipe zu gehen!“
-  „Na dankeschön, jetzt bin ich schuld! Du hast mich doch wohl angefleht,
    da hineinzugucken!“
-  „Das stimmt nicht ganz, ich habe lediglich deinem Plan zugestimmt. Du
    wolltest doch im Quartier Latin irgendeine ‘Füllhorn’-Taverne ausfindig
    machen“.
-  „Aber nicht, um sich darin zu besaufen, sondern um mir den Ort anzu-
    gucken, an dem, wie es im Roman beschrieben ist, der Graveur seine
    Frau verspielt hat. Ich bin einzig und allein hineingegangen, um ein Ver-
    ständnis für die kleinen Tavernen dieses Viertel zu gewinnen, und du
    hast dich dem Trunke hingegeben!“

Nikolai Iwanowitsch guckt etwas jämmerlich drein, hebt hilflos die Hände und
spricht leise: „Da hat mich ein Teufelchen verführt, Glascha! Verzeih mir
   doch, um Christi Willen, Glascha! So etwas wird sich nicht wiederholen...“
-  „Nein, das werde ich dir niemals verzeihen“ spricht, mit einer energischen
   Handbewegung, Glafira Semjonowna, „das zahl ich dir in gleicher Münze
   zurück...“
-  „Wie, was soll das heißen?“ fragt Nikolai Iwanowitsch erschrocken.
-  „Du hast dir einen lustigen Abend gemacht, und das werde ich auch tun.
    Ich suche mir auch irgendeinen Kavalier. Du hast Blanche gefunden, und
    ich werde einen Alphonse finden...“
-  „Ach, nun erzähl doch keinen Unsinn, Glascha, hör doch auf...“ Nikolai
    Iwanowitsch droht seiner Frau mit dem Zeigefinger.
-  „Dann sag jetzt sofort, wo du dich bis um sechs Uhr morgens herum-
    getrieben hast!“
-  „Weiß ich nicht, absolut keine Ahnung. Wir waren in dieser Kneipe, dann
    ist die ganze Gesellschaft zu einer Party  irgendwohin gefahren, aber
    wohin - keine Ahnung“.
-  „Na gut. Das war die erste und letzte deiner Parties in Paris. Pack deine
    Sachen, heute abend reisen wir ab“.
-  „Aber Glascha, wieso das denn... und die Abteilung für Seile und Reeps
    auf der Ausstellung... die habe ich noch nicht gesehen, das ist mein
    Spezialgebiet.... und die Bilder haben wir auch noch nicht...“
-  „Möchte ich nichts von wissen. Nur weg hier. Hast du überhaupt noch
    genug Geld, um im Hotel abzurechnen und die Fahrt zu bezahlen?“
-  „Hab ich. Nur entschuldige, abreisen können wir heute nicht, ich habe noch    
    Geld zu bekommen“.
-  „Von wem denn? Was für Geld?“
-  „Na, vom Landsmann, den wir im ‘Eden’ kennengelernt haben. Ich hab ver-
    gessen, dir zu erzählen, dass er sich von mir 300 Francs geliehen hat, für
    einen Tag. Hat versprochen, sie gestern zurückzugeben... naja“.

Nikolai Iwanowitsch erzählte mit gesenkter Stimme, Glafira Semjonowna
hingegen ruft laut: „Was für ein Idiot! Gucken Sie sich diesen Idioten an!
    Gibt dem ersten Besten 300 Francs! Na, warum ist er wohl gestern
    nicht erschienen? Warum wird er heute nicht erscheinen?“.
-  „Das konnte ich nicht machen, Glascha, nichts geben, den ganzen Tag
    haben wir miteinander verbracht...“
-  „Egal, heute fahren wir. Weg ist weg“.
-  „Und deine Sachen, die wir im Louvre Magasin bestellt haben?“
-  „Liegen da“, Glafira zeigt auf einen Karton, „während du schliefst, habe ich
    sie abgeholt. Nun mach dich fertig, und gib dem Hoteldiener, der dich
    heute morgen auf seinen Händen ins Zimmer geschleppt hat, noch Trink-
    geld. Den Franzosen, der dich hergefahren hat, habe ich bezahlt: für die
    Kutsche und für seinen Hut, den du ihm vom Kopf gerissen und in die
    Seine geworfen hast“.
-  „Oha, das is ja ein Ding - war ich wirklich so betrunken?“ seufzt Nikolai
    Iwanowitsch auf.
-  „Nicht mal das Wörtchen ‘Mama’ konntest du noch sagen. Unten hast du
    dann noch irgendeinen Spiegel mit einer Flasche zerschlagen, den müs-
    sen wir auch noch ersetzen“.
-  „Mein lieber Schwan“, erschreckt sich Nikolai Iwanowitsch, verdreht den
    Kopf,  hat plötzlich eine ganz trockene Kehle und gießt sich kaltes Wasser
    aus der Karaffe ein.

Kapitel 70

Lisa Patrikeewna und anderes altes Federvieh

-  „Was stehst du denn noch wie ein Pfosten und schluckst Wasser, wie
    eine Gans!“, schreit ihn Glafira Semjonowna an, „Nun klingel, verlang
    die Rechnung und bezahl! Das war kein Scherz, dass wir heute abreisen“.
-  „Sofort, mein Engel, sofort...“ entgegnet er zaghaft, „ich bin doch gerade
    erst aufgestanden, ich muss erst einen Schluck Tee trinken und mich
    sammeln... außerdem, ich glaube, vielleicht möchtest du auch eine
    Kleinigkeit frühstücken?“

Nikolai Iwanowitsch ist es außerordentlich unangenehm, seine Frau

anzuschauen, am liebsten würde er sich irgendwo verstecken, aber

leider Gottes haben sie nur ein Zimmer, und die einzige Möglichkeit,

zu entschwinden, wäre das Bett im Alkoven, aber sich jetzt hinzulegen,

hält er nicht für ratsam.
Er steckt sich erst einmal eine Papirossi an und sinkt auf den Diwan,

aber sofort schrillt wieder Glafiras Stimme: „Jetzt setzt er sich auch noch hin!
    Da koch dir doch Wasser und brüh dir deinen Tee selbst, wenn du welchen
    trinken willst! Aber zügig. Kocher und Teekanne müssen noch in den
    Koffer, das sind unsere Sachen, die lassen wir nicht hier“.
-  „Aber Täubchen - wie soll ich mir denn Tee machen? Das kann ich doch
    gar nicht, das ist doch keine Männersache!“
-  „Soso. Männersache ist wohl eher, sich nachts in Spelunken herumzu-
    treiben und alle möglichen Schlampen zu umarmen, na gut,
    dann packe ich, und den Tee koche ich auch“.
-  „Nun lass doch gut sein. Für dein Verständnis und deine Nachsicht, na, da
    mache ich dir ein Geschenk... auf der Rückfahrt können wir irgendwo
    anhalten und du darfst dir etwas aussuchen...“

Auf Glafiras Lippen erscheint ein leises Lächeln.
-   „Bei der Gelegenheit kannst du mir auch erklären, wer eigentlich Lisa
      Patrikeewna ist... und noch etwas: wir nehmen nicht den gleichen
      Rückweg, das widert mich an, wieder in diese Dirschaus und Königs-
      bergs zu fahren, nirgends kommen wir an und zu essen gibts auch
      nichts. Dieses deutsche Durcheinander habe ich satt, wir können auch
     eine andere Route nehmen. Im Louvre-Magasin habe ich eine russische
     Dame getroffen, die hat mir das erklärt und sogar aufgeschrieben. Wir
     fahren durch die Schweiz nach Wien und von dort direkt nach Peterburg.
     Hier ist der Zettel, wir fahren mit der Lyoner Bahn nach Genf, dann nach
     Wien und weiter“.
-  „Natürlich, meine Liebe, wie du willst, ganz wie du willst...“ nickt Nikolai
    Iwanowitsch und ergreift die Hand seiner Frau, um sie zu küssen, „wenn
    du allerdings den Deutschen aus dem Wege gehen willst, muss ich dich
    darauf aufmerksam machen, dass die auch in Wien sind...“
-   „Egal, Hauptsache, ein anderer Weg. Die russische Dame meinte, dass
     die Route unvergleichlich besser und angenehmer sei, weil die Schaffner
    aus unseren slawischen Brüdervölkern stammten und sogar Russisch
    verstünden. Außerdem, meinte die Dame, sähe man die schweizer und
    die tiroler Berge, das habe ich mir schon lange gewünscht, da habe ich so
    viel drüber gelesen...“
-  „Gut, gut“.

Glafira Semjonowna macht sich daran, den Tee zu brühen und treibt ihren

Mann währenddessen an: „Und ruf den Garcon, dass wir irgendwas zu essen
    kriegen, wir müssen uns beeilen. Ich habe mich erkundigt, der Zug geht
    um Sieben, und jetzt ist schon nach Drei“.

Trotzdem überkommt Nikolai Iwanowitsch das Gefühl, dass das Schlimmste
jetzt überstanden, dass der Zorn der Gattin Barmherzigkeit gewichen sei, er
lebt ein Weniges auf, seine Miene verliert Düsternis und Verzagtheit und er
klingelt nach dem Korridordiener.

Dieser, in seinem bekannten Aufzuge, erscheint unverzüglich und schaut,
in der Tür stehend, grinsend auf Nikolai Iwanowitsch: „Sa va bien,
   Monsieur?“, zwinkert ihm zu und zeigt auf seine zerschundene Hand:
  „C’est votre travail d’hier“.
-  „Glascha! Was hat er gesagt?“
-  „Seine Hand hättest du ihm zerkratzt, als er dich nach oben getragen hat“.

Nikolai Iwanowitsch krümmt sich: „Ach was... guck, selber bin ich auch
    gegen irgendetwas gestoßen... nun sag ihm schon, was du möchtest“.
-  „Nous voulons manger...“.
-  „Ab 18 Uhr haben wir Table d’hôte, Madame, Frühstück gibt es jetzt nicht
    mehr“.

Nach einigem Hin und Her ist klar, das unsere Eheleute nichts zu essen
bekommen würden. Nach Karte wurde nicht gekocht, es gab nur zu festge-
setzten Zeiten Frühstück und Mittag.

-  „Sowas nennt sich Hotel!“, ereifert sich Glafira, „nichts zu machen, müssen
    wir uns von dem trockenem Braten ernähren, wir haben ja noch die Reste
    der Gans von vorgestern“.

Sie erbittet vom Diener nur etwas Brot und Käse sowie die Rechnung. Mit
dem Essen auch Teller und Besteck bringend, fragt dieser, als er sieht, wie
Nikolai Iwanowitsch seinen Kopf in Händen hält: „Mal à la tête? C’est
   toujours comme ça, quand on prend beaucoup de vin le soir“.
-  „Nun schau, wie weit du’s gebracht hat mit deiner Sauferei: jetzt macht
    sich schon der Hoteldiener über dich lustig und fragt, ob du vielleicht
    Kopfschmerzen hättest“, bemerkt Glafira vorwurfsvoll.
-  „Der? Wie kann er das wagen! Raus!“ Nikolai Iwanowitsch quält sich vom
    Diwan, schaut den Jungen mit finsteren Augen an und zeigt ihm die Faust,
    dass er zügig verschwände.

Sie setzen sich zum Essen, aber Nikolai Iwanowitsch verfügt über keinerlei
Appetit, kaut auf ein wenig Käse herum und konzentriert sich auf den Tee,
sodass sich Glafira allein um das alte Geflügel kümmert.
-  „Warum isst du denn nichts?“, fragt sie verwundert.
-  „Keine Lust“.
-  „Aha. Mach man so weiter mit der Sauferei!“
-  „Nun hör auf mit den Vorwürfen, hast ja Recht...“

Die Rechnung wird vom Hauswirt selbst gebracht und vor unserem Helden

auf den Tisch gelegt. Der Alte betrachtet Nikolai Iwanowitsch ebenfalls
neugierig, offensichtlich hatte er sich letzte Nacht über den Grad von
dessen Trunkenheit verwundert. Er kann sich sogar nicht zurückhalten und
erkundigt sich mit einem feinen Lächeln: „Votre santé, Monsieur?“

Nikolai Iwanowitsch versteht durchaus und winkt ärgerlich ab: „Ну, ну, ну...
    das tut nichts zur Sache... hau ab, ist dir altem Teufel sowas noch nicht
    passiert? Bestimmt schon tausendmal...“

Der Alte tritt von einem Bein aufs andere und schließt die Tür hinter sich,
unser Ehepaar beginnt, die Rechnung zu begutachten.

Kapitel 71

Die Rechnung

Alle Posten in einer langen Liste mit winzigen Anmerkungen aufgeführt -
ist die Hotelrechnung gewaltig.
-  „Herr im Himmel! Was ist denn da alles zusammengekommen? Wofür
    denn bloß? Wir haben hier doch nur geschlafen und so gut wie nichts
    gegessen!“ regt sich Nikolai Iwanowitsch auf.
Er nimmt die Rechnung, dreht sie in der Hand hin und her, schaut auf die
einzelnen Zeilen und sagt: „Das ist nicht für mich geschrieben, wirf du

   doch mal einen Blick darauf, Glascha...“

Glafira Semjonowna beginnt, die Liste aufmerksam zu betrachten und

stellt als erstes fest:  „Diese Krakelei verwundert einen...“
-   „Na, das machen sie bestimmt absichtlich, dass man nicht alles

     nachrechnen kann... kannst du irgendwas verstehen?“
-  „Ja, das Zimmer... das hier, für 12 Francs...“
-  „Jaja, war vereinbart, oder...“
-  „Moment, abgemacht waren 10 für ein Zimmer mit Doppelbett, und hier
    haben sie für das zweite Einzelbett 2 Francs pro Tag berechnet, also nur
    für das Bett...“
-  „Das ist ganz schön frech, die Schurken... ach, schade, dass ich auf
    Französisch nicht schimpfen kann...“
-  „Warte, warte... zwei Mal Kerzen. Bougie de service und einfach bougie.
    Für erste 2, für die zweite 5... wir haben doch überhaupt nur zwei Kerzen
    angezündet!“
-  „Geschickt!“ Nikolai Iwanowitsch schnalzt mit der Zunge.
-  „Ich kann nur nicht fassen, dass sie uns für den Stummel in dem vergam-
    melten Kerzenhalter, den sie uns unten für das unbeleuchtete Treppen-
    haus gegeben haben, zwei Francs nehmen. Und hat man sowas schon
    gehört - батюшки! Die Bettwäsche sollen wir extra zahlen!“
-  „Das ist doch nicht möglich!“
-  „Doch, doch - extra. Halsabschneider! Zwei Kaffee für drei Francs... dann
    haben wir für jede Tasse anderthalb bezahlt, das sind sechs Groschen in
    unserem Geld...“
-  „Das ist doch Diebstahl!“ empört sich Nikolai Iwanowitsch.
-  „Schlimmer. Eine Art Raubüberfall. So, jetzt haben wir das Teeservice.
    Nun stell dir vor, jedesmal, wenn wir unseren Tee getrunken und
    unsere Brötchen gegessen haben, haben sie uns zwei Francs in
    Rechnung gestellt“.
-  „Nicht zu glauben! Was ein Volk! Und gleichzeitig, sowie sie hören, dass
    wir Russen sind - gleich „Vive la Russie!“
-  „Na sicher, freuen sich, dass sie den Russen gleich das Fell über die
    Ohren ziehen werden... na, guck hier, das Stückchen Käse von heute
    morgen steht hier für vier Franc...“
-   „Was für Halunken...“
-  „Sogar Briefmarken, die beiden Briefmarken für 50 Centimes das Stück
    sind aufgeführt“, fährt Glafira fort, „mit anderthalb Franc, das ist ja mehr
    als das Doppelte. Dann wieder: Service, Service, alle für 2 Francs.
    Das soll für den Hoteldiener sein, was?“
-  „Für unseren Korridor-Dummkopf mit der Papiermütze, oder?“
-  „Ja, wahrscheinlich...Батюшки! Die Streichhölzer... des allumettes ...
    extra berechnet!“
-  „Und die Papiermütze steht nicht drauf?“
-  „Nein“.
-  „Und seine Filzpantoffeln?“
-  „Nein, nein... aber dafür 2 Francs für etwas, was ich überhaupt nicht ver-
    stehe... es sei denn, dafür, dass er dich gestern die Treppe hinaufge-
    schleppt hat...“

Nikolai Iwanowitsch wird verlegen: „Na gut, na gut“, winkt er  ab, „und mit
    deinen Sticheleien reicht es auch...“
-  „Ach, gefällt ihm nicht! Will er wohl nicht hören: für den zerschlagenen
   Spiegel muss er 50 Francs bezahlen. Hier stehts....“
-  „Wann soll ich das denn gemacht haben? Nein, die Rechnung lass ich
    so nicht stehen, die bezahle ich im Guten nicht... was da alles aufge-
    führt wurde...“ erzürnt sich Nikolai Iwanowitsch.
-  „Nun hör auf, mach keinen Skandal!“, widerspricht Glafira, „für ein
    beliebiges Gelage ist’s ihm um 100 Francs nicht schade, wie gestern
    mit den liederlichen Weibern, und hier: will er wegen irgendwelchen
    10 oder 15 Francs einen Skandal vom Zaun brechen. Hast dem Alten
    nicht wenig Ärger gemacht, gestern Nacht, das ganze Hotel hast du
    geweckt, alle mussten aufstehen und dich die Treppe hochführen!“

Nikolai Iwanowitsch seufzt auf und tastet stumm nach seinem Geldvorrat,
der in der verschlossenen Reisetasche aufbewahrt wird. Glafira schaut ihm
zu und bemerkt: „Du kannst deinem Gott noch dankbar sein, dass du gestern
    nicht alles Geld bei dir hattest -  deine warmherzigen Freunde und
    Freundinnen hätten davon auch nur 2 Goldstücke übrig gelassen.
    Ein schamloser Säufer bist du!“
-  „Ach, Glascha, nun reite nicht darauf herum“.

Zwei Stunden später verläßt unser Ehepaar reisefertig das Zimmer, um mit
einer Kutsche zum Bahnhof zu fahren. Ihr junger Hoteldiener schleppt ihre
sämtlichen Kissen, Koffer und die Reisetasche das Treppenhaus hinunter,

in dem in jeder Etage  verschiedene männliche und weibliche Diener aufgereiht

stehen, vom Ehepaar während ihres Aufenthaltes nicht einmal zu Gesicht

bekommen, sich verbeugend und die Hand aufhaltend, ihr Trinkgeld zu
empfangen.   

Schweigend drückt Glafira allen ein halbes Franc-Stück in die Hand. Der
Patron unten erhebt sich liebenswürdig aus seinem Sesel: „Bon voyage,
    Monsieur et Madame, bon voyage...“
-  „Alter Halsabschneider, von mir aus kannst du verrecken...“ antwortet ihm
    Nikolai Iwanowitsch auf Russisch.
-  „Merci, Monsieur, merci...“ bedankt sich der Wirt für den russischen Gruß
    und drückt ihm, mit der Bitte um Weiterempfehlung seines Hotels, einen
    ganzen Stapel Visitenkarten in die Hand.