Kapitel 80 - 83 Über Bayern nach Wien

Kapitel 80

Trophäen

Zwar fuhren von Genf aus eine ganze Menge Reisender ab, aber die

meisten Dritter Klasse, so dass die Waggons der Zweiten weitgehend

leer blieben und unser Ehepaar allein sitzt.

Glafira schmollte zunächst weiter und antwortete, sich wegdrehend, nichts
auf  vereinzelte Bemerkungen ihres Mannes, aber als dieser anfängt, das
Büschel Haare vom Kopfe des Commisvoyageurs in seiner Hand zu
sortieren und die Strähnen um gerollte Papierstückchen zu wickeln, kann
sie sich eines Lächelns nicht erwehren.

-  „Möchte ich aufbewahren, meine Trophäe...“
-  „Jäger und Sammler... was willst du denn mit dem Kram machen?“ fragt
    sie und verzieht das Gesicht.
-  „Zur Erinnerung an Gottes helfende Hand in der Stadt Genf.  Kann ich zu
    Hause zeigen, wie ich mit dem Verführer abgerechnet  habe... ein Sieg
    sozusagen... nur schade, dass er Franzose war und kein Deutscher.
    Für deutsche Haare hätte ich mir sogar einen Anhänger fertigen lassen,
    den ich an der Uhrkette tragen würde“.
-  „Aber eigentlich war das auch kein Franzose, sondern ein Jude, oder?“
-  „Ganz bestimmt...  so frech, wie er war...“
-  „Ich muss zugeben, dass er ein wenig frech war... stell dir vor, er hat mir
    ein Liebesbriefchen geschrieben und um ein Rendezvous gebeten“.
-  „Echt? Na, so ein Schweinehund... siehst du, siehst du, mit meinem Herzen
    konnte ich das spüren... wo ist denn übrigens dieser Brief?“
-  „Natürlich hab ich den gleich zerrissen, weiß der Teufel, was du in deiner
    Eifersucht alles angerichtet hättest...“
-  „Naja, zu Feuerholz und Spänen hätt’ ich den Kerl verarbeitet...“
-  „Siehst du, dann wärst du verhaftet worden, und wir hätten nicht abreisen
    können... um einen Skandal zu vermeiden, habe ich ihn vernichtet...
    war auf parfümiertem, rosa Papier geschrieben, der Brief... hübsch...“
-  „So ein Schuft... wie hat er es überhaupt geschafft, ihn dir zu übergeben?“
-  „Nicht selber, ich hab ihn von einem Zimmermädchen bekommen“.
-  „Nach der Szene mit der Rose - oder vorher?“
-  „Nachher. Das Zimmermädchen gab ihn mir, als wir aus dem Restaurant
    zurückkamen, aber er muss ihn ihr natürlich schon vorher gegeben
    haben... rosa Papier und ein Seidenumschlag mit einem Schmetterling
    darauf...“
-  „Willst du mich schon wieder ärgern?“ erneut explodiert Nikolai
    Iwanowitsch, „schwärmst vom Papier, vom Umschlag...“
-  „Ich erzähle das doch nur...“
-  „Ist dir das überhaupt nicht peinlich oder unangenehm, dass er dich für
    weiß-der-Teufel eine Schlampe gehalten hat?“
-  „Ach herrjeh, wie kann man auf Narren böse sein?“ entgegnet Glafira
    ganz ruhig.
-  „So etwas Unverschämtes! Ganove! Schurke! Kanaille!  Nein, unverzüglich
    kommen die Locken in die Breloque, dass ich sie zur Erinnerung an
    meinen Sieg immer bei mir trage!“ und Nikolai Iwanowitsch verstaut die
    Haare sofort in seiner Brieftasche: „Und mit deinem Lächeln hast du ihm
    den Vorwand gegeben... ‘Monsieur, Monsieur...merci, merci...’ Da hast
    du dein Merci! Das war doch ein ganz besonderes Lächeln, das du ihm
    während der ganzen Fahrt vorgeführt hast... da ist er doch erst auf den
    Gedanken gekommen... zwei Mal hast du sogar seine Hand genommen...
    keine Ahnung, wer er ist, aber die Hand drücken!“
-  „Für Freundlichkeiten muss man sich bedanken! Hast selber gesehen,
    wie er sich für uns eingesetzt hat, Abendessen hat er uns besorgt,
    Konfekt angeboten, und wie billig er mir die Spitzen abgelassen
    hat, einfach unglaublich!“
-  „Nun halt bitte die Klappe und fang nicht noch an, den Lumpen zu
    loben!“

Im Gespräch tritt eine Pause ein. Höchlich erbost saugt Nikolai Iwanowitsch
an seiner Papirossi.

-  „Hat er dir wehgetan?“ fragt zögerlich Glafira.
-  „Quatsch, hat mich nur am Kopf gehalten“.
-  „Nein, an den Ohren. Guck, die sind doch jetzt noch ganz rot“.
-  „Das scheint dich ja geradezu zu freuen!“ erhebt Nikolai Iwanowitsch seine
    Stimme, „aber letztlich hat er es doppelt von mir gekriegt, hier ist der
    Beweis...“, er klopft auf seine Manteltasche, „ich habe eine Trophäe, und
    er hat gar nichts...“.
-  „Ist dir klar, dass er dich zum Duell fordern wollte?“
-  „Was lügst du denn da? Wie denn, wann denn?“
-  „Als er zum Waggon kam. Du hast das Französisch nicht verstanden, aber
    ich schon. Deswegen hat er dir auch die Visitenkarte hingehalten“.
-  „So ein Vieh! Dem hätt ich ein Duell gegeben... wenn ich nicht im Waggon
    gewesen wäre, hätt ich den in zwei Hälften gerissen, da hast du dein
    Duell, du dünnbeiniges Schüreisen, du!“
-  „Er hat dich aufgefordert, auszusteigen, und als du nicht gekommen bist,
    hat er dich an den Ohren gezogen...“
-  „Nicht an den Ohren...“
-  „Gut, dann eben nicht an den Ohren...“ gibt Glafira nach.
-  „Natürlich nicht, das hätte ich ja wohl gemerkt, oder?“ leugnet Nikolai
    Iwanowitsch.

Glafira Semjonowna schaut ihren Mann an und muss lächeln.
-  „Ist es nötig, dass du dich noch über mich lustig machst?“ ruft er verärgert
    aus.
-  „Das ist doch amüsant, dass ausgerechnet wir solche Abenteuer auf der
    Reise erleben, ganz genau wie in einem französischen Roman. So etwas
    ähnliches habe ich sogar schon gelesen...“ überlegt Glafira, „natürlich
    gab es da keine Schlägerei und niemand hat irgendjemandem Haare
    ausgerissen, und am Ende ging alles gut aus... so ein Graf hat sich in

    eine verheiratete Marquise verliebt...“
-  „Na, spinn weiter... die Marquise bist natürlich du...“
-  „Sonst war alles wie bei uns. Nur nicht im Waggon, sondern auf einem
    Bahnhof. Der Marquis ist mit seiner Frau da gelandet und erkundigt sich,
    wie sie nach Nizza kommen, der Graf tritt auf, überreicht seine Karte
    ‘Rue LaFayette Nummer soundso...’, später die Erklärung: ‘Die Erde hat
    für uns beide keinen Platz... entweder Sie oder ich... Wählen Sie Ihren
    Sekundanten...’, dann reisen sie nach Italien, und hier, in einem
    Zitronenhain...“
-  „Danke, das reicht, du quatschst doch wieder Unsinn!“ unterbricht sie
    Nikolai Iwanowitsch unsanft.
-  “... hier, in dem Zitronenhain, verliebt sich die Marquise gleichfalls in den
    Grafen. War auch schon reichlich alt, ihr Mann...“ lässt sich Glafira
    keineswegs den Mund verbieten.
-  „Schweig still, hab ich dir gesagt...“
-  „Immer dasselbe, mit dir kann man sich über nichts Vernünftiges
    unterhalten!“
-  „Ich hab keine Lust, mir deine Romane anzuhören, das ist doch alles
    ausgedachter Quatsch und ausgemachter Unsinn...“
-  „Aha, und worüber sollen wir stattdessen sprechen?“
-  „Na, vielleicht darüber, wie sie mich in diesem genfer Restaurant quasi
    über den Tisch gezogen haben: kannst du dir vorstellen, wieviel sie mir
    für ein Gläschen reinen, russischen Wodkas abgenommen haben?
    Zwei Franken, also acht Griwennik nach unserem Geld, wenn man die
    heutigen Wechselkurse zugrundelegt. Fünf winzige Gläschen habe ich
    gekippt und zehn Franken bezahlt, das sind ganze vier Rubel... Ohgotto-
    gott, Räuber, Plünderer,  für einfachen Wodka... Glascha! Hörst du mir
   überhaupt zu?“
-  „Ich verspüre kein Verlangen, mich über Wodka zu unterhalten. Du
    möchtest nicht über Romane reden, ich nicht über Wodka - und was
    anderes hast du ja nicht im Kopf“.

Erneut tritt eine Gesprächspause ein, diesmal für längere Zeit. Nikolai
Iwanowitsch drückt sich schließlich in die Ecke der Bank und lässt nur ab
und an einige Schnarchlaute vernehmen.
Der Zug eilt weiter Richtung Bern, durch eine malerische Landschaft und
Berge, an deren Hängen Weinberge liegen. Allmählich beginnt es zu
dämmern, Dunkelheit senkt sich herab.

Kapitel 81

In der deutschen Schweiz

Das schweizerische Eisenbahnnetz wimmelt von Bahnhöfen.

Der Zug fährt mit einer bedeutenden Geschwindigkeit, allein, alle

zehn Minuten hält er für eine Minute an irgendeiner Station, spuckt

Passagiere aus und sammelt neue ein, um wieder loszudampfen.

Alle scheinen jedoch die dritte Klasse zu bevorzugen, und unser

Ehepaar bleibt allein, was Nikolai Iwanowitsch ausnutzt, in Tiefschlaf

und röhrendes Schnarchen zu verfallen.

Glafira hingegen schläft nicht und öffnet bei jedem Halt das Fenster,

um die ein- und aussteigenden Passagiere und das Publikum auf den

Bahnhöfen zu beobachten, vor allem die sich herandrängenden Händler,

Verkäuferinnen und Verkäufer, die in Gläsern Bier anbieten, Sandwiches,

Birnen, Äpfel und Weintrauben, Blumensträuße, Weidenkörbe, feine

Souvenire aus Glas, Fotografien mit schweizer Ansichten, Konfekt,

Gebäck usw.

Anfangs sprechen alle ausschließlich Französisch, bis sich das Deutsche

hineinmischt und schließlich Französisch vollständig verschwunden ist

und die deutsche Schweiz beginnt.

Glafira, die diese Veränderung beim Essenskauf bemerkt hat, beginnt, ihren
Gatten zu wecken: „Stell dir nur vor, Deutschland hat begonnen...“ rüttelt sie
   an ihm, „überall hört man Deutsch und sieht diese ernsten Fressen, so-
   lange das Französisch da war, gabs auch fröhliche Gesichter, und jetzt
   gucken alle so mürrisch“.

Nikolai Iwanowitsch brummt nur und reibt sich die verschlafenen Augen.
Glafira fährt fort: „Ich hab nur Angst, dass wir uns wieder verfahren und
    wer-weiß-wo landen. Deutschland bringt uns kein Glück... Nun wach
    auf, wir müssen uns erkundigen, wohin wir fahren!“

-  „Ist ja schon gut... ach, wie man hier schlafen kann.... na, reicht hin,
    jetzt habe ich Hunger“.
-  „Hier gibts alles, auf jedem Bahnhof, und brauchst nicht auszusteigen, Bier,
    belegte Brote, alles reichen sie dir durchs Fenster... nur fragen müssen wir,
    wohin wir fahren....“
-  „Ja, wohin denn... ich dachte, direkt nach Russland...“
-  „Nein nein, wir haben Aufenthalt in Wien, einen Tag bleiben wir da. Die
    Frage ist nur - fährt der Zug da auch hin? Vielleicht hätten wir schon lange
    umsteigen müssen, und wir habens wieder verpennt... in Deutschland
    ist doch immer alles mit umsteigen....“
-  „Wir sollten unbedingt den Kondukteur befragen“.
-  „Der lässt sich doch hier nicht blicken - hat in Genf  unsere Fahrkarten
    angeguckt und war verschwunden. Mir kommen wirklich langsam Zweifel,
    wo der Zug hinfährt“.
-  „Dann guck doch ins Billetbüchlein und überleg, ob wir an den Bahnhöfen
    schon waren...“ erklärt Nikolai Iwanowitsch und beugt sich gemeinsam
    mit seiner Frau über das Heft, „hier steht Bern... dann Zürich... sind wir
    da schon durchgefahren?“
-  „Wer soll denn da durchsteigen?“

An der nächsten Station beugt sich Glafira aus dem Fenster und ruft nach

dem Kondukteur: „Xerr Konduktor! Kommensi bite! Vin... wo Vin...“
Da dieser aber nichts versteht, antwortet er auch nichts. Schließlich erbarmt
sich der Kellner, der auf einem Tablett Bier herumträgt, von dem auch
Nikolai Iwanowitsch zwei Gläser trinkt, und fragt: „Wie heißt die Station?“
-  „Vin... Stadt Vin“ wiederholt Glafira und zeigt ihm ihr Billetbüchlein.
-  „Wien“, liest der Kellner und lächelt, „das ist noch weit, das ist in Österreich,
    aber wir sind noch in der Schweiz“.

Zwei Stunden später erscheint dann doch der Kondukteur, guckt irgendwie
muffelig in ihr Billetheftchen, reißt einige Zettel heraus, auch das Billett, auf
dem ‘Zürich’ steht und bemerkt: „Zürich zwölf Minuten... in Romanshorn
    müssen Sie umsteigen“.

-  „Так и есть: пересадка!“ rufen unsere Eheleute gleichzeitig aus, als sie
    das ihnen schon unleidlich vertraute „Umsteigen“ vernehmen und
    bestürmen verschreckt ebenfalls gleichzeitig den Schaffner, wo genau
    und wann genau das wäre. Es entspannt sich eine längere Unterhaltung,
    aber da niemand den anderen versteht, bleiben unsere Eheleute unsicher,
    hilflos und voller Zweifel zurück.

Kapitel 82

Schon wieder umsteigen!

Die ganze Nacht verbringen unsere Helden so in nervöser, zitternder
Erwartung des Umsteigens, obwohl ihnen immer wieder die Augen zufallen.
Bei ihrem zwölf-Minuten-Halt in Zürich steckt Glafira Semjonowna vier
herumlaufenden Bahnangestellten zwei oder drei Pjataki zu - so nennt sie
die kupfernen französischen Zehn-Centimes-Münzen - und fragt wiederholt
„Wi vil Ur umschteygen?“, erhält aber auch nach Zeigen des Billettheftchens
keine verwertbare Antwort.
-  „Weiß der Teufel, was das soll, das Geld ist zum Fenster ‘rausge-
    schmissen, niemand weiß, wann dieses verfluchte ‘umschteygen’
    passieren soll - das verschlafen wir, das verschlafen wir ganz bestimmt
    und wer weiß, wo wir dann wieder landen“.
-  „Ach was, das verpassen wir schon nicht, wir müssen nur aufpassen,
    dass wir nicht einschlafen“, schlägt Nikolai Iwanowitsch vor.
-  „Soso, und selbst fallen ihm schon die Augen zu. Warte, vielleicht hilft
    Salmiak, hier, riech mal dran...“ und sie reicht ihrem Mann einen Flakon,
    dessen Geruch ihn niesen lässt.

Wieder erscheint der Kondukteur und wird abermals in ein Gespräch
verwickelt.
-  „Warte mal, ich gebe ihm jetzt zwei Franken, vielleicht kann das die Sache
    klarer machen“, sagt Nikolai Iwanowitsch, „und du, Glascha, sagst ihm
    auf Französisch oder Deutsch, dass er uns zeigt, wo wir umsteigen sollen“.
Nikolai Iwanowitsch winkt dem Schaffner geheimnisvoll mit dem Finger und
drückt ihm zwei Franken in die Hand. Während dieser noch staunt, fragt ihn
Glafira: „Montrez-nous il faut umschteygen“.
-  „Ja, das ist in Romanshorn, Bahnhof Romanshorn...“.
-  „Да, да, но ведь мы не знаем в котором часу... Um wi vil Ur
    umschteygen?“
-  „Um fünf Uhr morgens“.
-  „В пять часов. Так... le matin? Утром?“
-  „Le matin, le matin...“
-  „Так вы вот что... Kommensi in wagon и sagensi, когда будет
     Романсгорн. Sagensi: xir вот Романсгорн!“
-  „Ja, legen Sie sich beruhigt hin und schlafen Sie, ich komme dann und
    sage Bescheid....“ verspricht der Kondukteur endlich.

Trotz seines Versprechens wagt unser Ehepaar nicht, zu schlafen und

bleibt die ganze Nacht wach: immer, wenn ihnen der Kopf auf die Brust sinkt,
schnüffeln sie am Salmiakgeist, bis zu guter Letzt der Bahnhof erreicht ist.
-  „Seien Sie beruhigt, sowie der Zug hält, besorge ich Ihnen einen
    Gepäckträger“, sagt der Schaffner, und Nikolai Iwanowitsch drückt ihm
    mit einem ‘Merci’ freudig die Hand.
-  „Vin, Vin, wir fahren Vin. В Вену едем, в венский вагон надо пересесть“,
    spricht Glafira aufgeregt auf den Gepäckträger ein.
-  „Ja, ja... Bitte schneller, Madame...“ , er beeilt sich, ihre Sachen aus
    dem Abteil zu ziehen und führt die beiden an mehreren leeren Waggons
    auf verschiedenen Gleisen vorbei über den Bahnsteig zu einer Art Garten,
    in dem es allerdings völlig dunkel ist.

-  „Oh Gott! Wohin führt er uns denn?“ Glafira wird nervös: „Wir müssen in
   den wiener Waggon und in keinen Park! Glaubt er vielleicht, wir wollten
   in diesem verfluchten Romansgorn bleiben? Послушайте! Woxin? Нам
   нужно в вагон... вагон in Vin...“
-  „Ja, ja...“ antwortet ihr Führer sowie noch einiges auf Deutsch, das
    unverstanden bleibt.

Nach zwei Minuten befinden sie sich an einem Ufer und hören Wasser
plätschern. Es wird schon hell, ein See ist zu erkennen, ein Anleger und,

an ihm festgemacht, ein Dampfer, zischende Wolken ausstoßend.

Ihr Gepäckträger nimmt direkt Kurs auf ihn.  

-  „Aber, Verehrtester, wohin bringen Sie uns denn?“ fragt mit erhobener
    Stimme auch Nikolai Iwanowitsch auf Russisch, „Glascha! Da guck doch...
    auf den Dampfer will er uns schleppen.... das kann doch nur ein Irrtum
    sein...“
-  „Xer! Xerensi! Нам не туда! Нам in Vin...“ ruft Glafira ganz aufgeregt.
-  „Ja, ja... aber zuerst mit dem Schiff...“ bekommt sie zu hören, „und etwas
    schneller bitte...“.

Unsere Eheleute glauben ihm nicht, vermuten nach wie vor ein Missver-
ständnis und wenden sich in ihrer Verzweiflung an einen vertrauenswürdig
dicken Deutschen, der gerade vorbeigeht: „Wir fahren in Vin, sagensi wo
   ict Wagon?“
-  „Nach Wien? - Na, da kommen Sie mal mit...“ und der Mann winkt
    einladend.
-  „Er sagt das gleiche...“ wendet sich Glafira zu ihrem Mann, „fahren wir
    nach Wien mit dem Dampfer?“
-  „Weiß der Teufel, das kann doch kein Mensch begreifen...“ antwortet
    bedrückt Nikolai Iwanowitsch und wendet sich mit einem tiefen Seufzer
    zum Schiff.
Glafira folgt ihm und murmelt: „Na, wir können ja auf dem Dampfer
   noch einmal fragen...“
 
-  „Fahrkarten bitte!“ ruft ein Skipper in einer Mütze mit allerlei goldenem
    Schnickschnack, wirft einen Blick ins Billettbüchlein und sagt Richtung
    Glafira: „Zweite Klasse nach rechts“.
-  „Wir in Vin...“ stammelt diese.
-  „Ja, ja... nach rechts, bitte“.
-  „Vielleicht ist das doch kein Irrtum...“ schaut Glafira ihren Mann an.
-  „Frag mich nicht, Matuschka, ich hab keine Ahnung...“ knurrt der gereizt,
    „mag kommen, was kommt, ich kann nur allen, die’s hören wollen, und
    denen, die’s nicht hören wollen, sagen: fahrt  nicht ohne Sprache ins
    Ausland!“

Unser Ehepaar findet sich in einer von Glühlampen elektrisch beleuchteten
und luxuriösen Kajüte wieder, die eher einem Saal mit vielen Sitzplätzen
gleicht. Der Gepäckträger legt Kissen und Reisetasche ab und wünscht
ihnen, nach Erhalt des Trinkgeldes „Glückliche Reise“.
Während der Dampfer losfährt, sitzen beide schicksalsergeben da und
schauen einander schweigend an, bis Nikolai Iwanowitsch plötzlich auffährt:
   „Батюшки!  Unser Gepäck ist noch im Zug - ich habe ganz vergessen,
   dem Gepäckträger die Quittung zu geben... du lieber Himmel, was machen
   wir denn jetzt?“
-  „Na toll, erst verfahren und jetzt das Gepäck auch noch weg.
    Glückwunsch!“  kommentiert Glafira, setzt aber hinzu: „Einfach furchtbar
    ist das, eine Strafe, was machen wir denn nur?“

Beide verfallen in eine tiefe Niedergeschlagenheit.
-  „А вы куда изволите ехать?“ äußert unversehens ein grauhaariger Alter,
    der in ihrer Nähe sitzt und offensichtlich das Gespräch mitangehört hat.
    Mit seinem großen Schnauzbart, dem grauen Hut und einem umhang-
    ähnlichen Mantel sieht er aus wie ein alter Militär.
-  „Ein russischer Mensch!“  frohlockt Nikolai Iwanowitsch, sich gleich zu
    ihm wendend, „den hat uns der Himmel geschickt... dies ist meine
    Frau...“

Ohne sich vorzustellen berichtet er ausführlich alle Misshelligkeiten und Miss-
verständnisse, denen sie sich ausgesetzt sehen. Der Alte wirft einen Blick
in ihr Billetbüchlein und behauptet, das alles seine Ordnung habe, sie
führen jetzt über den Bodensee nach Lindau, in zwei Stunden setzten sie
sich in einen Zug direkt nach Wien und das Gepäck sei selbstverständlich

mitgereist und auf den Dampfer verladen.

-  „Ach, welche Last fällt von meinen Schultern...“ seufzt Nikolai Iwanowitsch,
   „Голубчик... wie heißen Sie denn, machen wir uns doch bekannt...“

Sie stellen sich vor und Nikolai Iwanowitsch hat gleich einen Vorschlag:
   „Michail Matwejitsch, erlauben Sie mir, Sie auf unsere Bekanntschaft
    zu einem Fläschchen einzuladen? Hier an Bord gibt es doch bestimmt
    so etwas wie ein Buffet...“
-  „Das gibts, aber um sechs Uhr morgens kann ich keinen Wein trinken.
    Das scheint mir nicht die richtige Uhrzeit dafür zu sein, aber trotzdem
    schönen Dank für die Einladung“.
-  „Was heißt hier Uhrzeit - Hunger und Durst fragen nicht danach, Haupt-
    sache, nicht ans Geschäft denken!“
-  „Nein, bitte erlauben Sie“.
-  „Schade, schade. Aber wohin fahren denn Sie? Auch nach Wien?“
-  „Nein, ich wollte in Lindau bleiben, der See bietet reizende Ansichten,
    und ich würde gern ein wenig auf ihm herumfahren. Ich bin Hobbymaler,
    kommen Sie doch mit auf Deck, es wird schon hell, ich verspreche
    Ihnen einen wundervollen Ausblick“.

Kapitel 83

Über den Bodensee

Als sie das Deck betreten, ist eben die Sonne aufgegangen. Das Schiff
hält sich nah am Ufer und das Panorama ist in der Tat eindrucksvoll. Auf
der spiegelglatten See erkennen sie Fischerboote, die bergigen Hänge, an
denen wie hingeworfen kleine Dörfchen liegen, schimmern im Licht in
allen Schattierungen von rot, goldgelb und violett. Ihr Begleiter greift
sogleich zum Fernglas, die Bilder näher zu betrachten, aber an Bildern
sind unsere Helden nicht interessiert. Sie warten ungeduldig auf die Ankunft,
um sich in ihren Zug zu setzen, denn entgegen allen Beteuerungen des
Alten  hegen sie immer noch Zweifel, ob alles seine Richtigkeit habe, vor
allem die Schiffsreise, für die sie glauben, gar keine Billets gelöst zu haben,
scheint ihnen völlig absurd. Immerhin konnte Nikolai Iwanowitsch zwei
Cognacs zu sich nehmen und ist etwas besserer Laune.

-  „Und wenn wir im Waggon sitzen, fährt der ohne Umsteigen nach Wien?“
-  „Fährt direkt durch“, bestätigt ihr Begleiter.
-  „Sind Sie die Strecke schon selbst gefahren?“
-  „Und ob, letzten Monat nach Lausanne und zurück. Übrigens liegt München
    auf Ihrem Weg, und wenn Sie dort halten, müssen Sie unbedingt das
    dortige Bier probieren, man hält es für das beste der Welt“.
-  „Ja, selbstverständlich... da habe ich schon von gehört... aber ist es denn
    wirklich besser als das berliner?“
-  „Also mit Bier kenne ich mich nicht aus, aber man sagt so...“
-  „Glascha! Hast du das gehört?“
-  „Ach, zum Teufel mit deinem Bier... ich will nur nach Hause, ich hab jetzt
    sogar keine Lust mehr, in Wien zu bleiben...“
-  „Glascha! Ist doch nur für einen Tag, dann sitzen wir wieder in der Eisen-
    bahn. Immerhin Wien, immerhin können wir in Peterburg erzählen, dass
    wir in Wien gewesen sind...“
-  „Och, und wieder diese Deutschen! Muss ich mich wieder mit der Sprache
    quälen! Ja, wenn die Französisch sprächen, aber so kann man sich nur
    pantomimisch unterhalten...“
-  „In Wien versteht man schon ein wenig russisch. Sprechen nicht, aber
    verstehen, Wien ist quasi eine slawische Stadt. Die Diener und vor allem
    das einfache Volk sind größtenteils Slawen“, erklärt ihr wohlinformierter
    Begleiter.
-  „Na so was! Wirklich?“ ruft erstaunt unser Ehepaar.
-  „Wirklich...Tschechen, Kroaten, Polen, Serben und Ruthenen, die
    verstehen Sie... das werden Sie schon auf der Fahrt bemerken, die
    Kondukteure auf dieser Strecke können meist Russisch“.
-  „Nun, dann sieht das natürlich anders aus... ansonsten, das können Sie
    uns glauben, ist es schon sehr mühselig...“

Endlich ist der Anleger erreicht, unser Ehepaar verabschiedet sich von
seinem neuen Bekannten, lässt sich  seine Kissen vorwegtragen und
besteigt den Zug, nicht ohne sich vom Kondukteur mehrfach bestätigen zu
lassen, direkt und ohne Umsteigen nach Wien zu fahren. Da es weiter nichts
Raisonnables in Bayern gibt, träumen sie während der Fahrt  nur von ihrem

Bier, und Nikolai Iwanowitsch sucht jeden Bahnhof nach dem Schild
‘München’ ab.

Ausgerufen werden fünf Minuten Halt, aber sie stehen zehn Minuten.
Unseren Eheleuten gelingt es, heiße Würstchen zu erstehen, die direkt
auf dem Bahnsteig aus dem Kochtopf verkauft werden. Das münchner Bier
macht ihnen hingegen keinen Eindruck.
-  „Das ist doch nichts Besonderes“, meint Glafira Semjonowna, „also nach
    meiner Meinung ist das berliner doppelt so gut“.

Eingedenk der Hinweise ihres Landsmannes testet Glafira hinter München
den Schaffner auf Russischkenntnisse, aber erfolglos. Nikolai Iwanowitsch
versucht das gleiche bei den Verkäufern, die auf den Bahnhöfen Speisen
und Getränke anbieten und erzielt zu guter Letzt einen Treffer: „Эй! Пиво!
    Сюда!“ krakeelt er wie gewohnt, und ein Kellner, ihn anblickend und
    verstehend, bringt das Glas ans Fenster.
-  „Glascha! Glascha! Nun schau - endlich versteht man uns!“ ruft er erfreut
    und fragt sofort den Kellner, ihm das Bier aus den Händen nehmend:
   „Bruder, bist du auch Slawe?“
-  „Nicht direkt, gnädiger Herr“ erfolgt die Antwort.

Nikolai Iwanowitsch schaut den Sprecher an und erkennt sofort die Über-
flüssigkeit seiner Frage. Am Gesicht mit der scharfgeschnittenen Nase, den
Lippen und den krausen Haaren glaubt er zu erkennen, wer vor ihm steht.
-  „Ein jerusalemer Edelmann, ein jerusalemer Edelmann, und ich habe ihn
    für einen slawischen Bruder gehalten...“ murmelt er vor sich hin.

Bayern ist durchfahren, aber an der österreichischen Grenze kommt der
Zoll und sie müssen nahezu eine Stunde warten, bis die Beamten die
Waggons begutachtet haben. Wenigstens gibt es auf der Station ein
Buffet, an dem unser Ehepaar an einem Table d’hôte speisen kann.

-  „Hier gibts Mittagessen ohne Telegramm, obwohl das auch Deutsche
    sind...“ bemerkt Glafira, die den Vorfall im preußischen Königsberg nicht
    vergessen mag.
-  „Das wäre ja auch noch schöner... hier herrscht eine ganz andere
    Ordnung...“ glaubt Nikolai Iwanowitsch.

Ihr Kellner stellt sich zudem als Pole heraus und versteht wirklich ein wenig
Russisch, auch wenn er es nicht sprechen kann. Kassieren tut er in
Deutscher Mark, gibt aber Gulden heraus. Mit Hilfe polnischer Brocken
versucht er unserem Ehepaar zu erklären, sich besser hier mit

österreichischem Geld einzudecken und führt sie zu diesem Zweck

zu der jüdischen Wechselstube.

Es kostet unseren beiden beträchtliche Mühe, ihn zu verstehen,

aber zu guter Letzt halten sie das erste Mal Gulden in Papier in
Händen. Nikolai Iwanowitsch betrachtet sie lange und fragt zweifelnd seine
Frau: „Haben schon Assignaten nach russischer Art... wenn die uns man
   nicht betrügen... Sind die gut? Sind die echt?“ wendet er sich an den
   Kellner.
-  „Dobro, dobro, Pan...“

Am Abend erreichen sie Wien.