Auszüge Kapitel 1

Kriegsbeginn

Moskau-Bykowo

 

 

 

Anfang Juni 1941 legte ich die letzten Prüfungen ab und wurde in das zweite Studienjahr an der Juristischen Fakultät versetzt. Die Noten waren, außer in den Fächern Staatsrecht und Latein, nicht besonders. Ich hatte schon begriffen, dass ich nicht als Jurist arbeiten würde, und das Einzige, das mich noch ins Institut zog, waren die plötzliche, unversehene Liebesgeschichte mit einem Mädchen, dessen Name ich vergessen habe, und die Treffen des literarischen Klubs, geleitet von Osip Maximowitsch Brik. Augenscheinlich zweifelte ich nicht daran, den Rest meines Lebens mit Schreiben zu verbringen. Die Umsetzung dieser Idee erwies sich als nicht ganz so einfach.

 

Am 22., morgens, fahre ich mit dem Fahrrad an der Datscha eines Nachbarn vorüber, schnappe Teile von Molotows Radiorede auf und bin innerhalb fünf Minuten wieder zu Hause. Meine Eltern, der Bruder, die Gäste, alle diskutieren, was passieren wird. Alle sind überzeugt, dass der Krieg sich nicht länger als drei Wochen hinziehen werde und die Kapitulation des faschistischen Deutschlands unausweichlich sei.

 

Von morgens bis abends lauschen wir den Lageberichten des Informbüros* und verwundern uns mehr und mehr über die unerwarteten und erschreckenden Entwicklungen. Im Juli beginnen die Deutschen mit der Bombardierung Moskaus.

 

Tagsüber sitzen wir unter den öffentlichen Lautsprechern herum. Am Abend nach der ersten Bombardierung Moskaus kommt es dort am Eingang zum Kasaner Bahnhof zu einer Stauung, die Leute schieben von hinten, vorne geht es nicht weiter, jemand schreit, dass die Frauen erdrückt würden. Die Bahnsteige der Vorortstationen sind verstopft von flüchtenden Menschen mit Bündeln und Koffern. Die Moskauer strömen weiter auf die Bahnhofsvorplätze und verteilen sich in alle Richtungen. Einer bleibt vor unserem Zaun stehen: „Dürften wir auf Ihrem Grundstück übernachten? Ich habe Frau und zwei Kinder...“

 

Kommen Sie doch herein. Was ist in Moskau los?“

 

Das Presnenski-Viertel soll vollständig zerstört sein, sagt man, der Arbat wird bombardiert. Die Deutschen haben schon Smolensk genommen“.

 

....

 

Im August bombardieren die deutschen Flugzeuge Bykowo jede Nacht. Wir heben eine 2x2 Meter große Grube aus, eineinhalb Meter tief. Auf den Boden legen wir einen Teppich, stellen sechs Stühle darauf. Wir sitzen auf den Stühlen, eng aneinandergeschmiegt, und schauen angespannt in den Himmel.

 

Eins nach dem anderen fliegen die deutschen Flugzeuge über uns hinweg. Nach ungefähr vier Minuten wird im Bezirk Ljuberzy eine Feuerfront errichtet, tausende Linien grüner und orangener Leuchtspurgeschosse, hunderte Leuchtraketen, hunderte Flakscheinwerfer. Ihre Lichtstrahlen, den gesamten Himmel durchkreuzend, bewegen sich in alle Richtungen, und wenn einer von ihnen einmal ein Flugzeug erfasst, ist es für dieses nahezu unmöglich, heil zu entkommen, weil es sofort von weiteren zwanzig Scheinwerfern erleuchtet und geblendet wird und in seiner klar erkennbaren Umgebung sofort hunderte Flakgranaten explodieren. Es fängt Feuer und stürzt ab, aber die Scheinwerfer bemächtigen sich auch der Besatzung am Fallschirm.

 

Das alles ist nicht nur für uns, sondern auch für die deutschen Piloten erkennbar. Sie wenden eilig, sammeln sich über uns und fliegen erneut Richtung Moskau. Und wieder schüchtert sie die Feuerwand ein.

 

Dutzende Male das Ganze, der Himmel dröhnt über uns, sie fliegen weg, kommen zurück, und wir auf den Stühlen, voller Angst, der Nacken schmerzt schon, blicken trotzdem nach oben.

 

Währenddessen wird es Morgen, die Dunkelheit lichtet sich und alle nicht nach Moskau durchgebrochenen Flugzeuge werfen ihre für die Moskauer bestimmten Spreng- und Brandbomben auf Bykowo und drehen ab nach Westen.

 

Wir springen aus unserem Loch. An der Oktoberstraße brennen zwei Häuser. Fünf Brandbomben fielen direkt neben uns, in die Himbeerbüsche zwischen Stall und Haus.

 

Die Himbeeren brennen. Papa löscht mit Sand. Ich pumpe Wasser in einen Eimer und ersticke die Flammen, die ans Dach unserer Datscha züngeln.

 

 

Moskau. September - Oktober 1941

 

 

Am 1. September siedeln wir von Bykowo nach Moskau um. Die Deutschen bombardieren die Stadt weiterhin. Anstatt dort in der Grube zu sitzen, tue ich jetzt jede Nacht Dienst auf dem Dach unseres Hauses.

 

Auf dem Pokrowski-Boulevard, gegenüber unserer Wohnung, zwischen Bäumen und Bänken, ist eine Luftabwehrbatterie stationiert, an einem Ende unseres Daches sind zwei Vierlings-Flakgeschütze aufgebaut. In der Nähe der Batterie, und dann den Boulevard entlang alle 100-150 Meter stehen Winden, an deren Stahltrossen Sperrballons. Tagsüber liegen sie am Boden festgezurrt, wie Wale oder Nilpferde, um nachts in große Höhen aufzusteigen.

 

Im ehemaligen Raum des Hauswarts, im Erdgeschoss, sitzen am Telefon der Reihe nach die jungen Leute meines Alters, Studentinnen und Studenten, und warten auf Anordnungen des Verteidigungsstabes. Falls deutsche Flugzeuge den Luftabwehrring durchbrechen, erfolgt das Alarmsignal und wir rennen, unter dem Geheul von Sirenen, dem Gellen der Fabrik- und Martinshörner und den Hupen der Feuerwehrwagen durch alle Etagen, klingeln an jeder Wohnungstür, wecken die Mieter und helfen dabei, sie alle rechtzeitig in den tiefen Keller des Hauses zu bringen, der zum Luftschutzbunker umgebaut worden ist. Danach steigen wir auf den Dachboden, wo jeder neben einem Dachfenster seinen festen Platz hat, von dem aus er problemlos auf das Hausdach gelangen kann.

 

Das ist eine der schlimmsten Erinnerungen meines Lebens. Am Horizont erscheint ein feindliches Flugzeug. Hunderte Scheinwerfer, Leuchtspurketten und explodierende Granaten konzentrieren sich auf den Luftraum, den es voraussichtlich durchqueren wird. Die ganze Masse dieses brennenden Himmels bewegt sich langsam, unter steigendem Dröhnen, direkt auf uns zu. Das richtige Inferno beginnt, als die gegenüberliegende große Batterie und die bei uns stationierten Vierlings-MGs gleichzeitig zu feuern beginnen.

 

Unmöglich, die Augen vom erleuchteten Himmel abzuwenden, die Ohren werden taub, ich verspüre einen durchdringenden Schmerz in ihnen. Das eiserne Flachdach unseres sechsstöckigen Hauses beginnt zu erzittern und ich beginne unwillkürlich, auf ihm entlangzukriechen, auf dem Rücken liegend und mich krampfhaft an den Leisten zwischen den metallenen Dachplatten festklammernd, während der Krach sich immer weiter steigert. Das ganze Dach ist bedeckt mit vom Himmel gefallenen Patronen und kleinen Metallsplittern von Granaten. Dann die Kulmination.

 

Einige Brandbomben fallen auf unser Dach.

 

Das Pflichtgefühl gewinnt die Oberhand. Ich springe auf, ergreife eine der vorher ausgelegten Schaufeln und ersticke die brennenden Kugeln mit Sand. Ich bin nicht allein, wir sind zu zwölft auf dem Dach, und nach einigen Minuten gelingt es uns, alle Brandherde zu löschen.

 

Die Angst ist für immer vergessen.

 

.....

 

Die erste Vorlesung am 16. September findet unerwarteterweise im Kleinen Saal des Konservatoriums statt. Mir war vorher nicht bewusst, dass ein Korridor die beiden Institute verbindet. Die Überraschung wächst ins Unermessliche als, in Begleitung zweier mit Maschinenpistolen bewaffneter NKWD'ler, der ehemalige Generalstaatsanwalt und stellvertretende Außenminister der UdSSR die Bühne betritt - Wyschinski.

 

Unser Institutsdirektor stellt uns den mächtigen Staatsanwalt vor und erklärt, dass dieser zweimal die Woche für zwei Stunden über die Geschichte der Diplomatie lesen wird. Hundert Hände fliegen in die Luft.

 

Was passiert an der Front?“ „Warum ziehen wir uns so schnell zurück?“ „Wie geht es weiter?“

 

Sie sind nicht schon zufällig Gefangene der gegnerischen Propaganda geworden?“ fragt uns mit einem spöttischen Lächeln unser stellvertretende Außenminister, „Sie haben vielleicht noch nicht verstanden, dass unsere Marschälle die Armeen des Reiches in eine Falle locken? Tatsächlich haben wir sie bis Minsk kommen lassen, aber es vergehen keine zwei Tage mehr, dann werden sie anfangen zu laufen, und sie werden nicht aufhören, zu laufen. Sie können davon ausgehen, dass wir den Sieg schon errungen haben!“.

 

Der ganze Saal erhebt sich, glühende Augen, feuriger Applaus.

 

Nach einer Woche: „Sie sind nicht schon zufällig...“

 

Nur jetzt handelt es sich bereits um Smolensk, und allen ist klar, dass der mächtige Staatsanwalt lügt.

 

Die letzte Vorlesung erfolgt am 15. Oktober.

 

 

* Am 24. Juni 1941 gegründet sollte das sowjetische Informationsbüro über den Kriegsverlauf berichten und Gegenpropaganda betreiben.