Kapitel 17

Krieg rechtfertigt alles

 

 

 

Anfang März nahmen die Kämpfe einen besonders erbitterten Charakter an. Die Deutschen ergaben sich nicht, obwohl sie sich nirgendwohin mehr zurück- ziehen konnten. Hinter ihnen die Ostsee, und nur über die schmale Landzunge Pillau - Danzig oder per Schiff gelang es ihnen, Teile der Zivilbevölkerung zu evakuieren sowie Einheiten ihrer Armee - welche und wieviele weiß ich nicht und wußte es auch damals nicht. Ich wußte nur, dass unsere Luftwaffe und Artillerie, unsere Panzer und Katjuschas, der eigenen schweren Verluste nicht achtend, die letzten faschistischen Regimenter und Divisionen vernichteten und in Asche verwandelten.

 

Ich glaube, Ende Februar wurde der letzte Verteidigungsring in Ostpreußen durchbrochen und die Stadt Heiligenbeil eingenommen. Innerhalb weniger Tage wurden die letzten deutschen Einheiten südwestlich Königsbergs eingekesselt und vernichtet.

 

Auf Anordnung des stellvertretenden Artilleriekommandeurs sicherte ich mit der Hälfte meines Zuges die Verbindung zur Flak-Brigade, die auf kürzeste Distanz direkt deutsche Panzer beschoss. Die zweite Hälfte des Zuges, einer Armeedivision zugeteilt, kämpfte schon in Königsberg.

 

Drei Tage später betraten wir den Strand der Frischen Nehrung, vor uns das leblose Meer, am Horizont die menschenleere Landzunge Richtung Danzig. Aber das erwähnte ich bereits.

 

Alles rechtfertigt der Krieg!“.

 

 

...Кризис слов, бесконечность фронта, / за утрату пространства ярость, / надвигающаяся старость, / расширение горизонта / от безмерного и святого / до наивного и простого.

 

 Stillstand der Sprache, Endlosigkeit der Front/Wut über den Verlust des Raumes/

 das Nahen des Alters/Erweiterung des Horizontes/vom Unermesslichen und Heiligen/zum Naiven und Einfachen

 

 

 

Rechtfertigt der Krieg alles?

 

Ich denke an die Szene in Tolstois Roman, in der ein Stabsoffizier hochnäsig auf den Obersten Graf Bolkonskij schaut.

 

Im Januar 1942 hingegen schaute der Sergeant Peganow, im Zivilberuf Friseur, jetzt Generäle rasierend, hochnäsig auf Majore und Leutnants. Dito der Schneider und Gefreite Blagowolin. Er nähte veraltete Mäntel in modische um

und einfache in solche für Offiziere, lackierte die Schirmchen von Offiziersmützen - für Oberste und Generäle alles umsonst, für Leutnants gegen Bezahlung. Der Oberfeldwebel Demidow hingegen, gelernter Fotograf, nahm in der Armee an keiner einzigen Kampfhandlung teil, er trank und frühstückte mit Generälen und Obersten. Auf mich schaute er ein wenig herab, obwohl ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen muss: meine Uhren reparierte er umsonst, obwohl er sich von anderen dafür bezahlen ließ, auch alle meine Fotos aus der Kriegszeit sind seine Geschenke.

 

Das war die soldatische Elite unserer Armee. Im Range kaum niedriger standen die etwa zwei Dutzend Chauffeure der Stabsautos: 1942 leichte Gasik-Jeeps, Anderthalb-Tonner, geschlossene Funkwagen, später Willys-Jeeps und Studebakers. Dank guter Beziehungen zu den Intendanten verfügten sie stets über Wodka und Konservendosen, und Stabskoch Shukow versorgte sie mit den doppelten Portionen der Offiziersration.

 

Auf Befehl Hauptmann Roshizkos errichteten ihm meine Männer bei der Verteidigung von Dorogobusch einen großen Unterstand, ausgestattet mit einer Schwarzen Banja*. Aus einem von den Deutschen abgebrannten, nahegelegenen Dorf holten sie Ziegel, bauten auch Regale und einen Tisch ein.

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Im Gegensatz zur weißen verfügt eine schwarze Banja über keinen Abzug,

   der Rauch verbleibt im Saunaraum.

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Seine persönliche Ordonnanz, Gefreiter Mosin, wusch ihm Rücken, Bauch, Beine sowie auf spezielle Anordnung alles, was sich zwischen den Beinen befand, und dieserart wurden auch Roshizkos Gäste eingeseift, Oberste und Generäle. Nach dem Bad wurden sie von unserem Intendanten, Oberleutnant Schtscherbakow bewirtet, mit Lebensmitteln und Wodka, die er aus dem Lager für die Soldatenverpflegung zu klauen pflegte. Uniformen aus diesem Lager tauschte er bei der befreiten Bevölkerung gegen Selbstgebrannten ein.

 

Dem Gefreiten Mosin wurde schlecht, wenn er den Damm des beglückten Roshizko waschen sollte, und er desertierte aus der Armee. Über sein weiteres Schicksal ist mir nichts bekannt. Bei meiner Ordonnanz Grischetschkin hingegen wuchs plötzlich ein beträchtlicher Vorrat an Selbstgebranntem heran.

 

Das Pferd bereitete mir Kummer. Hafer gabs, aber Heu nicht mehr. Auf der Suche nach Heu aus dem letzten Jahr war Grischetschkin in den umliegenden Dörfern ständig auf Tour. Dass er Heu klaute, wusste ich, nur von seinem

 

Neben-Business ahnte ich nichts. Das Wort 'Business' stammt nicht aus der damaligen Zeit, aber merkwürdigerweise fällt mir kein anderes ein.

 

So benutzten Roshizki und Schtscherbakow, Demidow und Peganow, Blagowolin und unsere Chauffeure ihnen anvertrautes Gut für ihre eigenen,  habsüchtigen Zwecke. Meine Telefonisten stahlen Kabel, Heu, Hafer, Schnaps und zerschnitten benachbarte Verbindungsdrähte, ich aber dachte nicht schlecht von ihnen und verachtete sie nicht, sondern mochte sie alle.

 

Wie vereinbarte sich das mit meinem Asketismus, meinem Ideengut, der kreativen Herangehensweise an jegliche Probleme und meinem Optimismus?

 

Warum mochten sie mich alle? Ich glaube, dass bei jedem von ihnen hin und wieder in der Tiefe ihres Herzens eine Erinnerung an den „Moralkodex des sowjetischen Menschen“ erwachte, ein Ausdruck, der ihnen seit der Kindheit eingetrichtert wurde. Ihnen gefiel ebenfalls, dass ich selbst zwar keiner bösen Tat fähig war, gleichzeitig jedoch ihr Komplize, wiewohl entschieden 'nicht von dieser Welt', würde ich nie einen der Unseren verpfeifen.

 

Grischetschkin.

 

Unter dem Vorwand der Heusuche klaute er bei den Bewohnern der umliegenden Dörfer Mühlsteine. Zwei mehr als 50 Kilogramm wiegende, scheinbar granitene, runde Steine, mit denen man Korn in Mehl verwandelt. In einem Dorf geklaut, um sie in einem anderen für literweise Selbstgebrannten wieder zu versetzen. Ich erwischte ihn dabei und war entsetzt. Die Menschen, die er bestahl, mussten hungern, und ich zwang ihn, die Steine seinen ersten Opfern zurückzubringen. Die Hilfe meiner Ordonnanz verweigerte ich und schickte ihm stattdessen Sobolew, einen bemerkenswerten Mann, gutherzig, ehrlich und außerordentlich tapfer.

 

2004. Unsaubere, unmoralische Vorfälle habe ich stets verurteilt, ebenso wie menschenunwürdige Verhältnisse - auch diejenigen, an denen ich beteiligt war, teils unfreiwillig, bisweilen aber auch als bewusster Mittäter. Schaue meine Aufzeichnungen durch und bin von Zweifeln erfüllt.

 

Ich stehe vor einem Paradox.

 

1943, bei Dorogobusch, hatte ich zweifelsohne Mitleid mit meinen Leuten, und im Namen eines Höheren - des Sieges über das faschistische Deutschland - verschloss ich die Augen vor dem alltäglichen Herumtrampeln auf substanziellen ethischen Prinzipien. 1943 waren meine Absichten sauber, der Weg in die Zukunft lichtvoll. Weder belastete mich der Gulag, noch das Trinken geklauten Schnapses oder das Stehlen von Pferden. Heute, 2005, schaue ich sowohl auf meine vergangene Naivität als auch in die Zukunft mit Schrecken, mein Herz blutet. Vielleicht haben wir uns damals nicht mit diesen Fragen beschäftigt, als wir, unser Leben riskierend, unsere Aufgabe als Soldat erfüllten und ein Ziel hatten, das zu erreichen alle Mittel angemessen und gut waren, und dann war da noch dieses: „Egal, was es kostet“.

 

2005. Tschetschenien.

 

Schon vor der Einnahme Borissows hatten wir, ausgerüstet mit Pferdefuhr-

werken, keine Möglichkeit mehr, mit der Geschwindigkeit unseres Angriffs mitzuhalten. Einschließlich des erbeuteten deutschen waren alle unsere prächtigen Pferde bereits alte Mähren mit zerbrochenen Hufeisen, und ihre blutverkrusteten Hufe machten mir Angst. Wagen, überladen mit Kabeln, Patronen, Handgranaten, Rucksäcken und Feldgepäck konnten von ihnen nicht mehr gezogen werden, keine Hänge hinauf und schon gar nicht mit meinen abgehalfterten Kriegern darin, mit ebenfalls blutigen Füßen, die sie sich durch Unachtsamkeit oder unprofessionelles Umwickeln mit Fußlappen zugezogen hatten.

 

Nach einem fünftägigen 200-Kilometer-Marsch blieben wir, für uns selbst unerwartet, stecken. Früher gab's hier in den Dörfern Schmiede, aber entweder waren sie weggegangen, um die Heimat zu verteidigen, oder in Gefangenschaft, oder bei den Partisanen. Zweimal am Tag stellte ich den Funk an, um mir die unterirdischen Flüche und tierischen Verwünschungen meiner Vorgesetzten abzuholen. Als militärische Einheit waren wir eindeutig außer Gefecht.

 

Da entstand gleichzeitig bei mir wie bei meinen Soldaten die Idee, unsere

hervorragenden, aber erschöpften Pferdchen ohne Hufeisen gegen die dörflichen beschlagenen einzutauschen. Allerdings waren in den Ortschaften - Zone 5, acht Kilometer von der Minsker Chaussee - nahezu alle Pferde von den abrückenden Deutschen requiriert worden, und nicht nur zum Ziehen der Fuhrwerke, sondern, angesichts der Versorgungslage, einfach als Proviant.

 

Für die Bauernfamilien stellt das Pferd, wie auch die Kuh, einen Ernährer dar und ist eher Familienmitglied als Hund und Katze. Wie bei ihnen nahm auch mein Pferd, in den drei Kriegsjahren, an meinem Schicksal teil. Nein, das war kein Kavalleriepferd. Im Dezember 1942 wurde es mir, zusammen mit Wagen und Geschirr, ausgehändigt, entweder auf Befehl meines Fernmeldevorgesetzten Moldowanow oder des stellvertretenden Artilleriekommandeurs Stepanzow, einfach angesichts der Tatsache, dass ich nicht zu Fuß gehen konnte. Aus dem Ausbildungslager in Baschkirien war ich mit tiefen Geschwüren an beiden Beinen angekommen.

 

In dieser Zeit war es, in der Nähe des Dorfes Kackowo (heute müsste sich das Subzowckaer Staubecken dort befinden), dass meine Ordonnanz Grischetschkin zusammen mit drei anderen Männern meines Zuges zwei Unterstände aushob: zuerst einen für mich und Grischetschkin selbst, den zweiten für mein Pferd. Ich glaube, in beiden befanden sich Öfen aus Metallfässern, sie waren etwa 20 Meter vom Posten des Sergeanten Demidenko entfernt. Der Winter war kalt und schneereich, jeden Morgen waren unsere Unterstände unter einem halbmeterdicken Schneehaufen verschüttet, und jeden Morgen schaufelten uns die Männer Demidenkos frei, während Grischetschkin das Pferd ausgrub.

 

Laufen konnte ich damals noch nicht, und Grischetschkin schleift mich an den Armen nach draußen und in das Eis. Wir ziehen Armeeblusen und Unterhemden aus und reiben uns, nackt bis zum Gürtel, mit Schnee ab. Waschen können wir uns in einer schwarzen Banja im Dorfe Kackowo.

 

Grischetschkin schichtet Holz unter Steine und begießt sie mit Benzin - sie fangen an zu glühen. Einmal, ich sitze beim Schwitzen auf der Erde, kann ich die unvorstellbare Hitze nicht ertragen und lege mich flach hin. Meine Ordonnanz, auf dem obersten Brett, lacht nur und peitscht sich mit seinen Birkenreisern. Nackt flüchte ich aus der Banja in den Frost - und verliere das Bewusstsein. Ja, ich bin ein Stadtmensch, ein ehemaliger Intellektueller. Auf den Armen trägt mich Grischetschkin zurück in die Hütte, ich komme wieder zu mir und kleide mich an. Eine Ohnmacht aufgrund des Temperaturunter- schiedes. Da war ich nicht der Erste.

 

Aber nicht von der Sauna wollte ich berichten, sondern von den armen, unbeschlagenen Pferden. Ganze Tage versuchten wir, die Bauern zu überreden, in unsere Stellung zu kommen, sich die Tiere anzusehen und ihre beschlagenen gegen unsere unbekleideten einzutauschen.

 

Aber ihre Pferde abzugeben, die sie selbst mühevoll großgezogen, mit denen sie durch dick und dünn gegangen waren, dazu war niemand bereit.

 

Aber wir mussten unserem Krieg nachjagen.

 

In der Nacht verabschiedeten wir uns von unseren Pferdchen, sehr schweren Herzens, im Dorf kletterten wir über die Zäune, um die Tore von innen zu öffnen, vollkommen lautlos, um die Opas und Omas nicht aufzuwecken.

 

Welch ein Irrtum - natürlich schlief niemand von ihnen. Gewaltsam, mit der Waffe in der Hand, mussten wir die Bauern in ihre Katen zurückjagen, bis zum nächsten Morgen dauerte die ganze Operation. Tränen, Drohungen, nackter Betrug.

 

Wir bemühten uns, korrekt zu sein und schrieben Quittungen. Irgendwer hatte etwas Geld, wir zahlten es aus. Allerdings war uns klar, dass niemand die Quittungen anerkennen würde, und das Geld war schon lange wertlos.

 

Morgens waren wir bereits unterwegs.

 

Grischetschkin hatte das deutsche Beutepferd gegen eine trächtige Stute eingetauscht.

 

Nach zwei Tagen aßen wir ihr Fohlen. Die Hufeisen unserer neuen Pferde waren bereits zerbrochen, ihre Hufe blutig, sie hatten Tränen in den Augen.

 

Wieder sahen wir keinen anderen Ausweg, alles wiederholte sich, noch fünf oder sechs Mal, bis wir unsere Armee bei der Stadt Lida eingeholt und wieder zu kämpfen begonnen hatten.

 

Außer Pferden stahlen wir noch, in der letzten Phase unserer Offensive, Schweine, und zwar, weil wir nichts zu essen hatten. In diesem Fall war uns unser Nachschub, weil motorisiert, 200 Kilometer voraus.

 

Hier erinnere ich mich auch unserer Kriegsgefangenen, die aus dem Lager Suwalki befreit wurden. Im Zentrum dieses Städtchens standen zweigeschossige Backsteinhäuser, aber wir positionierten uns in einem Holzhaus und nahmen die Funkanlage direkt an der Straße in Betrieb. Über diese Straße schleppten sich die von unseren Truppen befreiten Lagerin- sassen, ehemalige Rotarmisten, und einer bat um etwas Wasser, ging ins Gebäude, um etwas zu trinken und ließ aus Zerstreutheit ein schwarzes Notizheft auf dem Tisch liegen.

 

An uns vorbei bewegte sich eine endlose Reihe abgezehrter, entkräfteter Menschen, und einer, uns erblickend, zeigte mit dem Finger auf seinen Nachbarn und bemerkte böse: „Das da ist ein Wlassow-Mann. Der muss verhaftet werden“.

 

Der andere antwortete: „Was lügst du da, warst selber bei Wlassow!“

 

Daraufhin stoppte die ganze Menge der befreiten Kriegsgefangenen und jeder begann, auf seinen Nebenmann zeigend, zu krächzen: „Der da, der hat mit den Deutschen zusammengearbeitet!“

 

Wir standen bedrückt daneben und glaubten unseren Augen nicht. Der Anblick erinnerte mich an Pieter Brueghels 'Blinde', die hinter ihrem Führer in den Abgrund stürzen.

 

Also waren sie bei Wlassow - oder nicht?

 

Aber was auch immer sie waren, warum hassten sie einander? Wenn sie in der Wlassow-Armee waren, warum saßen sie dann im Lager, zum Tod verdammt? Welche Rechnungen hatten sie untereinander zu begleichen, wenn sie logen, warum?

 

Ich fand das schrecklich und widerwärtig, und als ich ins Haus gehe, entdecke ich das Notizbuch auf dem Tisch, von einem aus dieser Menge vergessen.

 

Ich schlage es auf und sehe, dass es ein Tagebuch eines unserer Offiziere ist, der 1941 auf dem Rückzug verwundet wurde und zuerst ins Lazarett des Lagers kam. Der Oberleutnant, Ingenieur und Moskauer, beschreibt, wie bereits Ende der ersten Woche die SS alle Kommunisten und Juden erschoss - nach Denunziationen von deren Barackengenossen, es folgt ein Satz in Großbuchstaben: „WENN IHR KOMMT, GLAUBT NIEMANDEM! ALLE, DIE TREU ZUR HEIMAT GESTANDEN HABEN, WURDEN ERSCHOSSEN. Am Leben geblieben sind nur diejenigen, die auf die eine oder andere Art mit der Lagerverwaltung zusammengearbeitet haben“. Und erneut, wie ein Schrei:

 

GLAUBT NIEMANDEM!

 

Dann folgen die Namen der Verräter und ihre Verbrechen.

 

Er liegt im Lagerlazarett und beginnt langsam zu sterben, und doch noch ein Trost! Er trifft einen Menschen, dem er vertrauen kann, welcher mit seinen 19 Jahren fast noch ein Junge, aber kein Verräter ist, und dies ist sein Vermächtnis: „Wenn ich sterbe, schickt dieses Tagebuch an meine moskauer Adresse, mögen meine Verwandten die Wahrheit über die Verräter, die sich als Kämpfer ausgeben werden, an die nötigen Stellen weiterleiten“.

 

Dann beschreibt bereits der 19-Jährige, wie sein Freund starb und bittet denjenigen, der das Buch findet, es nicht zu vernichten, sondern an seine Eltern, ebenfalls aus Moskau, zu senden.

 

Unverzüglich schreibe ich zwei Briefe mit allen Details nach Moskau. Die Verwandten des Offiziers antworten nicht, aber die des Soldaten, ach, was war das für ein Brief, ein Freudenschrei. „Bestätigen Sie, um Himmelswillen, dass er lebt!“ Ich bestätige, erhalte aber bereits nach einigen Tagen einen zweiten.

 

Wir danken Ihnen sehr, gestern haben wir von ihm selbst eine Nachricht erhalten!“

 

Gott sei Dank!

 

Das fürchterliche Tagebuch verstaue ich sicher in meinem Rucksack.

 

Bei der Überquerung irgendeines ostpreußischen Flüsschens bricht allerdings das Eis, die Hinterräder unseres überladenen Anderthalbtonners geraten in den Riss und der Wagen beginnt, tiefer und tiefer in das entstandene Eisloch zu sinken. Die Nacht ist sternenlos, man erkennt nahezu nichts, aber Kameraden gelingt es schließlich, eine Stahltrosse am Kühlerhaken zu befestigen.

 

Irgendwer kommt auf den Gedanken, ein zweigeschossiges Gutsschlösschen am Flussufer anzustecken, und die Flammengarben beleuchten unsere improvisierte Flussquerung und unseren versinkenden Funkwagen.

 

Als unser LKW vorwärts gezogen wird, bricht auch das Eis unter den Vorderrädern, wir sind gezwungen, dieTrosse schnell wieder zu lösen. Die uns folgenden Wagen verlegen die Spur auf dem schneebedeckten Eis 30 Meter nach links.

 

Bei dem Tohuwabohu um den untergehenden Funkwagen verliere ich leider im Eisloch meinen Rucksack: mit Briefen von Eltern und Freunden, mit dem Tagebuch des Oberleutnants aus dem Kriegsgefangenenlager.

 

Hatte er die Wahrheit gesagt? Ich weiß es nicht.

 

Auf jeden Fall beschritten die sich einander Beschuldigenden den qualvollen Weg von einem deutschen Lager in ein russisches Gulag. Sie waren keine Henker und standen nicht in deutschem Sold. War es ihre Schuld, dass ihr Heimatland sie verraten hat und sie Kompromisse mit den Mördern eingehen mussten, um zu überleben?

 

Zerdrückt zwischen zwei unmenschlichen, totalitären Systemen haben sie, wenn keine Absolution, zumindest Mitgefühl verdient.

 

Den Untergang des Tagebuches empfand ich als großen Verlust, besonders schmerzte mich, nicht die Namen der Überläufer und Verräter notiert zu haben.

 

1945 stimmten die Ansichten des verstorbenen Offizieres mit meinen völlig überein. Mein erster Gedanke beim Lesen seines Tagebuches war, es an die Lubjanka zu senden. Nur worin hätte sich das von der 'Heldentat' Pawlik Morosows* unterschieden? Im Feindbild, in der Furcht vor Rache?

 

Wenn ich recht hätte und alle wären tatsächlich Wlassow-Leute gewesen, wie furchtbar war ihre Angst vor Rache, die sie dazu trieb, sich gegenseitig des Verrats zu beschuldigen, nur um das eigene Leben zu retten. Unterschieden sie sich darin von den Angehörigen unserer Strafbataillone oder den Parteifunktionären in der Zeit der Säuberungen und einmütigen Abstimmungen? Ist das nicht die Mentalität der Menschen von 1937? Wie nur vereinbarte sich in mir die Geisteshaltung eines Intellektuellen, Volkstümlers, Aufklärers und Verehrers Herzens und der Dekabristen mit diesem Verlangen nach Entlarvung und Bestrafung? Aber so war es, zweifelsohne. Du lieber Himmel! Gottseidank ließ ich dieses handgeschriebene Büchlein während dieser fürchterlichen nächtlichen Überfahrt versinken, blieb, zufällig, ehrenhaft, und bin, gleichfalls eher zufällig, auch nicht in die bolschewistische Partei eingetreten.

 

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* P.Morosow war ein 14-jähriger Bauernjunge, der seinen Vater als Kulaken denunzierte