Kapitel 72 - 75 Amoureuse in die Schweiz

Kapitel 72

Abschied von Paris

Unter der Reisetasche und all den Kissen versteckt, biegt unser Ehepaar in
einer geschlossenen Equipage in die Rue Lafayette ein, nimmt die Richtung

zum Lyoner Bahnhof, beobachtet, so gut es ihnen möglich ist, das Straßenleben

und nimmt Abschied von Paris, Glafira Semjonowna sogar laut: “ Leb’
   wohl, Paris, leb’ wohl, es ist mehr als wahrscheinlich, dass wir uns nicht
   wiedersehen. Viele Unannehmlichkeiten musste ich hier erleben, aber auf
   jeden Fall bist du tausend Mal besser als Berlin“.
-  „Was denn für Unannehmlichkeiten? Die müssen doch alle anderen
    auch schlucken!“ versucht Nikolai Iwanowitsch zu widersprechen.
-  „Sei ruhig! Die Ärgernisse waren alle wegen dir!“
-  „Ist ja schon gut, was soll’s, ist alles vorbei, jetzt fahren wir nach Hause...
    Halt, halt, Cocher! Cocher, halten Sie...“ ruft Nikolai Iwanowitsch

    unvermittelt und hämmert gegen die vordere Scheibe.
-  „Was ist denn?“ erkundigt sich Glafira erstaunt.
-  „Unseren Landsmann habe ich gesehen... 300 Francs... meine 300
    Francs...“, und er lehnt sich aus dem Fenster und ruft: „Landsmann!
    Landsmann! Herr Kollegiensekretär!“

An der Ecke einer Seitengasse steht tatsächlich Peredrjagin in seinem
breiträndrigen Pelzhut und studiert die Auslagen in einem beleuchteten

Schaufenster. Auf den Ruf ‘Landsmann’ dreht er sich um, zieht sich aller-
dings, den Kopf Nikolai Iwanowitschs im Kutschenfenster erblickend, die
Krempe seines Hutes ins Gesicht und verschwindet zügig im Gässchen.

Nikolai Iwanowitsch springt aus der Equipage, wirft sich in eine Art Trab,
verliert aber Peredrjagins Spur. Nach links und rechts schauend bleibt er

noch einen Moment auf dem Trottoir stehen, um sich dann wieder in die
Kutsche zu setzen.

-  „Kannst du dir das vorstellen - einfach abgehauen, der Saukerl! ‘Nur für
    einen Tag’, hat er gesagt, ‘sowie ich morgen das Geld für meine
   Übersetzung von der Bank bekomme, bringe ich es Ihnen zurück’. Im Cafe
    hat er es sich von mir geliehen, neben dem Louvre Magasin. Und, willst
    du lachen: der einzige Russe, den wir in Paris kennengelernt haben -
    hat uns betrogen“.
-  „So, und was lernen wir daraus? Glaub nicht jeder Zufallsbekanntschaft!“
    doziert Glafira, „hast herumgegeizt mit jedem halben Franc, wie blöde mit
    allen Kutschern gefeilscht - dein Herz aber vor einem völlig Fremden
    ausgeschüttet - und 300 Francs gleich mit“.

Ohne weiteres Abenteuer erreichen sie den Bahnhof, ein Gepäckträger
nimmt ihre Sachen, möchte aber ihre Kissen und Zudecks zum Gepäck
nehmen, so große Gegenstände seien im Wagon nicht erlaubt, führt er aus,
was bei unseren Reisenden natürlich zu Widerspruch führt: „Das lügen
   Sie doch! Ce n’est pas vrai - mit diesen Kissen sind wir doch auch
   gekommen... partout dans la wagon, avec nous dans la wagon - non, non...
   comment doncs nous pouvons dormir sans coussin? Non, non...“

Der Gepäckträger gibt schließlich nur die Koffer als Gepäck auf und

weigert sich, Reisetasche und Kissen ins Abteil zu tragen, sodass sie

gezwungen sind, sich selbst damit abzuschleppen.
-  „Warum darf man denn sein Bettdeck nicht mitnehmen - was soll das denn
    für einen Grund haben?“ fragt Glafira verwundert.

Der Grund ist bald entdeckt. Auf dem Bahnsteig werden von Gepäckkarren
herab kleine Kopfkissen und gestreifte Flanelldecken angeboten, die man
sich für einen Franc ausleihen kann, und Gepäckträger schieben sie
von Waggon zu Waggon und rufen: „Pour se reposer! Pour se reposer!“

-  „Da schau einer an, was das für ein hinterfotziges Volk ist, diese Gepäck-
    träger... sind nicht erlaubt, Kissen, und wollen selber welche verkaufen...
    aber darauf sind wir nicht reingefallen...“ schüttelt Glafira Semjonowna den
    Kopf.

Sie setzen sich ungehindert in ihren Waggon, nur der Schaffner fragt
lächelnd, mit einem Blick auf ihren Kissenberg: „Vous êtes les russes,
    Monsieur? N’est-ce pas?“
-  „Oui, oui, les russes...“ antwortet Glafira an Stelle ihres Mannes.
-  „Oh, je vois déjà, Madame“, fährt er fort, auf ihr Gepäck deutend, verlangt
    ihre Billets und studiert sie aufmerksam, um auf Französisch hinzuzufügen:
    „Sie fahren direkt nach Genf, und ich möchte Ihnen empfehlen, gleich in
    einen Waggon zu steigen, der durchfährt, sonst müssten sie sich in Dijon
    umsetzen. Kommen Sie mit mir“. Er winkt ihnen mit dem
    Finger, nimmt das gesamte Gepäck und ist ihnen beim Umsteigen
    behilflich: „So, jetzt gehts direkt nach Genf!“
-  „Der ist wie die Unsrigen, der ist nach der Art unserer russischen Schaffner“
     sagt Nikolai Iwanowitsch, bedankt sich und drückt ihm einen Franc in die
    Hand.
-  „Merci, Monsieur“, nickt der Kondukteur und bemerkt beifällig: „Oh, je
    connais les russes et leurs habitudes!“

Der Zug steht noch eine Viertelstunde herum, bis er sich dann, nach drei-
maligem Bimmeln, in Bewegung setzt.

Kapitel 73

Ein Commisvoyageur...

Im Coupe sitzen, außer unserem Ehepaar, zwei Franzosen: ein kleiner,
dicker, dessen gedunsenes Gesicht eine Art Drei-Tage-Bart schmückt,

und ein hagerer mit greller Krawatte und schwarz gefärbtem Schnauzer.

-  „Da bin ich froh, dass wir nachts nicht allein reisen und Angst vor Räubern
   haben müssen...“ seufzt Glafira, „erinnerst du dich noch an die Fahrt von
   Köln nach Paris? Furchtbare Angst hatten wir, ich habe, glaube ich, die
   ganze Nacht kein Auge zugetan... aber jetzt, falls wir eindösen sollten,
   können sie aufpassen“.
-  „Hmm, mag sein, aber mir gefällt unsere Gesellschaft nicht“,
    wendet Nikolai Iwanowitsch ein, „woher willst du denn wissen, dass
    ausgerechnet die beiden Franzosen keine Diebe sind? Wir dösen, und sie
    drücken uns ein Tuch mit Chloroform auf die Nase, betäuben und
    rauben uns aus!“
-  „Sag doch nicht sowas!“ ruft Glafira erschreckt, „wie Räuber sehen sie
    doch eigentlich nicht aus...“
-   „Warum denn nicht? Weil sie gut gekleidet sind? Banditen in Lumpen
    nehmen gewöhnlich nicht die Bahn“.
-  „Na dankeschön, Kolja, dass du mir die Stimmung verdorben hast, jetzt
    liege ich wieder die Nacht über wach und fürchte mich...“
-   „Zu fürchten gibts hier erstmal nichts - wir halten einfach die Ohren
     gespitzt und schlafen abwechselnd, erst du, dann ich“.
-  „Das will ich sehen, dass du wach bleibst, wenn ich eingeschlafen bin...“
-  „Ach, bist doch selber nicht besser... am besten, ich hole den Revolver
    aus der Reisetasche und lege ihn unters Kopfkissen... sollen sie ruhig
    sehen, dass wir bewaffnet sind...“

Mit wichtiger Miene nimmt Nikolai Iwanowitsch den Revolver, betrachtet
sich ausdauernd den Hahn und steckt ihn in die Jackettasche. Der dicke
Franzose schaut sich das alles an und fragt grinsend: „C’est l’ami de
    voyage?“
-  „Oui, berühmte russische Vorspeise, hat sich hinterher noch niemand
   beschwert...“, lautet die Antwort, und selbstbewusst klopft Nikolai Iwano-
   witsch auf seine Tasche.  

Zehn Minuten später fängt der Dicke an zu gähnen, beugt mit einem „Pardon,
Madame“ kurz den Kopf in Glafiras Richtung, zieht sich seine Halbstiefel vom
Fuß und steigt in Segeltuchschuhe, um, den Zylinder mit einem roten Fes
vertauschend, die Füße unterschlagend, sich in sein Eckchen zu drücken
und, ein wenig sabbernd, zu schnarchen anzufangen. Der andere Franzose
ist hingegen noch munter und schiebt sich ab und an ein Konfekt in den
Mund, das er jedes Mal aus einer runden, lackierten Bonbonniere aus der
Jackentasche angelt.

-  „Na guck, was ein Schleckermaul“, bemerkt Glafira, „nein, das sind
    glaube ich keine Diebe“.
-  „Ach, und warum nicht? Schlafen und Bonbons essen - vielleicht wollen
    sie uns ablenken?“
-  „Warum machst du mir denn Angst? Was zum Teufel bezweckst du denn
    damit... ich bin dabei, mich zu beruhigen, und du...“
-  „Dann beruhig dich, aber halt trotzdem die Augen offen...“

Nach einiger Zeit beginnt der Schnauzbärtige eine Unterhaltung, zieht den
Hut und fragt Glafira: „Madame et Monsieur sont les russes?“
-  „Oui, Monsieur...“
-  „Erlauben Sie mir, mich als Franzosen vorzustellen, der Russland besucht
    hat. Im Auftrage der Firma, für die ich die Ehre habe, auch gegenwärtig
    tätig zu sein, hielt ich mich eine Woche in Petersburg und eine in Moskau
    auf, und von der russischen Lebensart bin ich ehrlich entzückt. Le
    isvostshik, le samovar, le troika, le vodka - habe ich alles gesehen und
    bin begeistert davon...“ schwatzt er und zählt ohne Pause weitere Wörter
    auf, an die er sich erinnert sowie moskauer und petersburger Straßen und
    Gebäude. „Я коммивояжёр...“, bemerkt er mit einer gewissen Betonung
    abschließend.

Glafira sitzt und schweigt.
-   „Je crois, que Madame parle français?“
-  „Un peu, Monsieur...“, und Glafira wendet sich ihrem Mann zu, ihm das
     vom Vortrag Verstandene zu erklären.
-  „Na wunderbar, wunderbar, aber trotzdem, sei mit ihm nicht allzu...
    wir kennen ihn nicht, vielleicht hat er alles erfunden, ist vielleicht gar
    kein Kaufmann, die Fresse ist jedenfalls nicht danach...“ wendet Nikolai
    Iwanowitsch ein.

Kurze Zeit später bekommt Glafira Konfekt angeboten, zögert aber und
schaut auf ihren Mann.
-  „Da nimm ruhig, nimm... isst er doch selber, wird schon nicht vergiftet
    sein“.

Glafira nimmt das Bonbon und steckt es in den Mund, zwanzig Minuten
später greift der Schnauzbärtige bereits nach seinem Köfferchen im Gepäck-
netz, um Glafira Semjonowna die Waren der Firma zu präsentieren, in deren
Auftrage er die verschiedensten Länder bereist. Es handelt sich um große
Stücke Spitzenstoff, Hauben mit Bändern, Pelerinen und Tunikas, die der

Franzose einzeln und mit Preisangaben erläutert.
-  „Ach, wie hübsch!“ begeistert sich Glafira, „und wie billig das alles ist...
    Kolja! Kolja! Hier, der ganze Rüschenvolant für nur 60 Franc, bei uns in
    Peterburg zahlst du 60 Rubel für so einen Besatz - wenn du ihn über-
    haupt findest...“ und, sich wieder an den Commisvoyageur wendend:
    „И on peut acheter chez vous?“  
-  „Eigentlich sind das Muster, Madame, mit denen wir Bestellungen en gros
    einwerben, aber ich habe alle in zwei Exemplaren, und wenn Ihnen
    wirklich etwas gefallen sollte, könnte ich es Ihnen zum Fabrikpreis
    ablassen...“
-  „Kolja, du hast dich gegen mich vergangen, wegen deiner Schweinerei in
    Paris stehst du tief in meiner Schuld, sag was du willst, aber eigentlich
     könntest du mir diesen Volant kaufen, meine ich...
    außerdem hast du mir sogar ein  Geschenk versprochen... sind doch nur
    60 Francs...“ setzt Glafira ihrem Ehemann zu.
-   „Aber verstehst du nicht, mein Geld will ich ihm nicht zeigen...“ wehrt sich
    Nikolai Iwanowitsch, „vielleicht handelt er nur zum Schein, um zu erfahren,
    wo wir unser Geld...“
-   „Jetzt hör aber auf, was du dir wieder denkst, wie ein Gauner sieht er
    nun wirklich nicht aus!“ beendet Glafira Semjonowna die Diskussion.
-   „Gut, dann kauf“.

Vorsichtig fühlt Nikolai Iwanowitsch in der Manteltasche herum, und ohne
das Portemonnaie herauszunehmen, klaubt er drei 20-Francs-Münzen
heraus und überreicht sie dem Franzosen.

Dieser hat seine Warenpräsentation allerdings noch nicht beendet. Nach
den Rüschen und Spitzen gelangt er zur Abteilung Seidendekor, von dieser

zu den Bändern und  Glafira kauft noch für mehr als 110 Francs bei ihm.

-   „Diesen Verführer hat doch der Teufel geschickt!“ murmelt Nikolai
    Iwanowitsch ärgerlich vor sich hin.

Kapitel 74

... und Kavalier

Von ihren Einkäufen beim Handelsreisenden ist Glafira Semjonowna
buchstäblich begeistert. Während der Vertreter, seinen Schnauzer
zwirbelnd, nicht aufhört, seine Waren zu preisen, unternimmt sie es
mehrfach, diese von allen Seiten zu betrachten und hält sie ins Licht

der Deckenlampe im Waggon.

-  „Diese Spitze ist die berühmte aus Chantilly, keine Fälschung,

    richtige Chantilly-Spitze...“
-  „Ja, das ist Chantilly... das erkennt man... die kenne ich... ich verstehe...“
    antwortet Glafira versonnen auf Russisch, „Merci, Monsieur, beaucoup
    merci...“ und sie reicht ihm die Hand.

Der Commisvoyageur drückt diese kräftig und zwinkert ihr kokett zu: „Sehr
    erfreut, dass ich einer russischen Dame behilflich sein konnte. Die Russen
    sind mir überhaupt sympathisch, aber von russischen Damen bin ich
    vollends begeistert“.
-   „Ach, was für ein liebenswerter Mann!“ konstatiert Glafira, ihrem Mann
    zugewandt, „das heißt, ich meine liebenswert auf einer höheren Ebene...
    und wir haben ihn für einen Gauner gehalten...“
-  „Mag ja alles sein, aber, Glascha, du solltest mit ihm nicht zu...“ bemerkt
    Nikolai Iwanowitsch bloß.

Der Vertreter schwatzt ununterbrochen weiter, geizt nicht mit

Komplimenten, unbekümmert darum, was Glafira davon verstehen mag,

und wandelt sich Stück für Stück in einen dienstbaren und werbenden

Kavalier. Stützt Glafira Semjonowna sich nur einmal mit dem Ellenbogen

auf ihr Kissen, beeilt er sich sofort, es ihr zu richten, nimmt seinen

Musterkoffer aus dem Gepäcknetz und stellt ihn ihr unter die Füße.

Auf einer Station kauft er saftige Birnen und bietet sie ihr an.

Auf einem der folgenden Bahnhöfe wird ein Körbchen Weintrauben

präsentiert und unserer Heldin offeriert. Quasi minütlich ist sie
gezwungen, ihm für seine Liebenswürdigkeiten zu danken.

 

Nikolai Iwanowitsch sitzt da und hört nur immer wieder ihr „Merci, Monsieur“.

Den Gesichtsausdruck betrachtend, mit dem Glafira den Franzosen anstrahlt,
beginnt er allmählich, diesem unfreundliche Seitenblicke zuzuwerfen.

Gegen Mitternacht fragt Glafira ihren Mann: „Werden wir denn wirklich nicht
   zu Abend speisen? Ich bekomme langsam Hunger!“
-  „Keine Ahnung, Matuschka, keine Ahnung. Frag doch deinen Franzosen!“
    erfolgt die gereizte Antwort.
-  „Ach, ist schon meiner?“ entgegnet sie beleidigt, „Warum denn meiner?“
-  „Natürlich, hast ihn dir doch geködert. Das ist mir schon peinlich, mitanzu-
    schauen, wie du hier die Zärtliche spielst... irgendsoein französisches
    Verkäuferchen, aber sie wirft mit Lächeln nur so um sich...“
-   “ Ach, soll ich ihm die Zunge herausstrecken, oder was? Ich muss mich
     doch irgendwie bedanken, für seine Freundlichkeiten!“
-   „Aber in Maßen, in Maßen muss man das tun...“ belehrt sie Nikolai
     Iwanowitsch.
-   „Will ich aber nicht, in Maßen. So, jetzt werde ich extra liebenswürdig zu
     ihm sein, um dich zu ärgern... pass auf, jetzt frage ich ihn wegen des
     Abendessens... Dites-moi, Monsieur, vous ne savez pas, sur quelle
     station on peut souper aujourd’hui?“ wendet sie sich an den Franzosen.
-   „Das, Madame, wird nicht einfach, der Zug fährt durch und hält fast
     nirgendwo länger, aber ich werde mich für Sie bemühen und versuchen,
     den Schaffner zu bewegen, Ihnen etwas vom Bahnhofsbuffet bringen
     zu lassen, auch wenn wir nur für drei Minuten halten, Käse vielleicht,
     Aufschnitt und Wein“.
-   „Danke, Monsieur, ich danke Ihnen vielmals“, entgegnet Glafira freudig
     und übersetzt seine Worte ihrem Mann.
-   „Für dich kann er von mir aus was bringen lassen, ich will nichts, ich bin
     satt“.
-   „Wie auch nicht, nach deinem gestrigen Gelage... da würde es bei jedem
      drei Tage dauern, bis er wieder Appetit bekommt...“
-   „Mach mir hier keine Vorwürfe und halt den Mund!“
-   „Werd ich nicht!“
-   „Nun, dann begib dich in die Arme deines Verkäuferchens, aber mich

     lass bitte in Frieden“.
-   „Idiot! Eifersüchtiger Idiot!“
-   „Sagt eine Idiotin“.

Zwischen unseren Eheleuten wird eine leichte Verstimmung merkbar.
Der Commisvoyageur schaut sie mit aufgerissenen Augen an, merkt
aber am Tonfall, worum es geht. Er fragt vorsichtshalber bei Glafira an, ob
ihr Mann Französisch verstünde und hebt dann an: “Ach, immer diese
    Ehemänner! Ehemänner - das sind doch entsetzliche Menschen. Ihr
    Gemahl, scheint es, ärgert sich darüber, dass ich Ihnen meine Waren
    präsentierte und ihn so zu Geldausgaben nötigte. Ohje, Ehemänner
    wissen den Wert ihrer Frauen nicht zu schätzen. Wahre Liebe existiert
    nur vor der Hochzeit, das predigen doch alle Romane. Sowie die Frau
    unter der Haube ist, hört der Mann auf, sie zu lieben und wird zuweilen
    unerträglich. Habe ich nicht recht?“
 
Im Großen und Ganzen vermag Glafira Semjonowna dem auf Französisch
geäußerten Grundgedanken zu folgen und antwortet mit  „Oui, Monsieur“.

Im Vortrag des Vertreters vernimmt Nikolai Iwanowitsch mehrfach das Wort
‘l’amour’, dessen Bedeutung er wohl kennt. Er verfärbt sich erst rot,

und dann bricht es aus ihm hervor: „Jetzt nimmt sich dieser Halunke auch

    noch heraus, einer verheirateten Frau etwas von Liebe zu erzählen!

    L’amour... l’amour... da sag ihm, er soll sich seine Liebe sonstwohin

    stecken, sonst werde ich ihn höchstpersönlich zum Schweigen bringen!“

Da entflammt auch Glafira: „Es scheint, du möchtest hier einen Skandal
   inszenieren... versteht kein Wort von dem, was gesprochen wird und will
   sich lächerlich machen... von der Liebe war in einem ganz anderen Zu-
   sammenhang die Rede...“
-   „Mir völlig gleich in welchem Zusammenhang, aber ich erlaube es nicht,
     dass ein x-beliebiger französischer Hornochse meiner Frau etwas von
    Liebe erzählt, dass du’s nur weißt“.
-  „Er sprach von der Liebe zwischen Ehemann und Gemahlin“.
-  „Aber nicht in meiner Gegenwart!“ fordert Nikolai Iwanowitsch und erhebt
    seine Stimme.
-  „Weswegen schreist du eigentlich? Was krakeelst du denn hier herum?“
-  „Weil ich Lust habe zu schreien und zu krakeelen. Setz dich jetzt an meine
    Seite und bleib da sitzen. Ich wünsche nicht, dass du dich fürderhin mit
    ihm unterhältst. Nun setz dich dich um, bleib da sitzen und halt die
    Klappe“.

Nikolai Iwanowitsch zieht das Kissen hinter dem Rücken seiner Frau hervor
und legt es auf seine Bank. Glafira kämpft kurz mit Tränen, fügt sich aber
und setzt sich um.

Der Franzose hat wohl verstanden, dass es zwischen unseren Eheleuten
einen Streit gab und schweigt bis auf weiteres. Beim nächsten Halt fällt ihm
jedoch ein, dass er versprochen hatte, irgendetwas zu essen zu besorgen, er
springt aus dem Waggon, kehrt aber schnell zurück und berichtet
Glafira: „Tout de suite, Madame, on vous apportera quelque chose à manger
    et à boire“.
Als sich der Zug wieder langsam in Bewegung setzt, erscheint am Fenster
das Kepi des Schaffners. Im Laufen zieht er die Scheibe hinunter und reicht
in Papier gewickelte Sandwiches sowie eine Flasche Wein und ein Glas
herein.
-  „S’il vous plâit, Madame“, sagt der Commisvoyageur mit einer leichten
    Verbeugung, auf den Schaffner weisend.
-   „Brauchen wir nicht... wir brauchen nichts...“ ärgerlich wedelt Nikolai
    Iwanowitsch mit den Händen, aber Glafira fällt ihm ins Wort.
-  „Wie, brauchen wir nicht? Willst du mich verhungern lassen? Ich will jetzt
    was essen!“, und fragt den Kondukteur, ihm Flasche und Brot aus der
    Hand nehmend: „Combien?“
-  „Trois Francs, Madame“.
-  „Prenez quatre... pour boire..“

Die Tränen unterdrückt sie, man muss dem Vertreter ja für seine

Bemühungen danken. Sie nimmt sich zusammen und flüstert,

ohne ihm ihr Gesicht zuzuwenden: „Merci, Monsieur“.

Nikolai Iwanowitsch guckt finster und schweigt, wendet sich schließlich

aber doch zu ihr um: „Nun ess auch, wenn du drum gebeten hast“.
 
Es erfolgt keine Antwort. Glafira Semjonowna sitzt in ihr Kissen gedrückt
und weint.
-  „Na wenn du nicht möchtest, kann ich mich ja um den Wein kümmern“,
   sagt unbeeindruckt Nikolai Iwanowitsch, gießt sich das Glas voll und
   trinkt es auf einen Zug aus.

Keine halbe Stunde später hat sich Glafira ausgeweint, wischt sich unauf-
fällig die Tränen aus den Augen und beginnt, abgewandt von ihrem Mann,
mit dem Verzehr der Sandwiches.

Der Commisvoyageur war schon lange eingeschlafen - oder tat zumindest
so.

Kapitel 75

Wie im Wohnzimmer

Nach dem nächtlichen Mahl schmollen die Eheleute vor sich hin und streiten
nicht mehr laut. Nikolai Iwanowitsch hat die Flasche nahezu allein geleert
und ihm, obwohl er seiner Ehefrau gepredigt hatte, wegen der Gauner
vorsichtig zu sein und abwechselnd zu schlafen, fallen als erstem die Augen
zu. Glafira Semjonowna ist noch munter und beschaut sich die im dunklen
Fenster vereinzelt aufblitzenden Lichter, aber unter dem gleichmäßigen
Rattern der Räder fällt bald auch sie, mit einem reizenden Gähnen, in einen
festen Schlaf.

Als sie erwacht, hält der Zug im ersten Dämmerlicht gerade auf einem Bahnhof.

Die beiden Mitreisenden sind ebenfalls schon wach: der Dicke gähnt
und ist gerade dabei, die Pantoffeln wieder gegen seine Halbstiefel

einzutauschen, der Commisvoyageur hat sich erhoben und macht

seine Toilette, d.h. er betrachtet sich in einem kleinen Klappspiegel

und bürstet, wichst und zwirbelt seinen Schnauzer.

-  „Dies ist die letzte Station vor Genf“, sagt er mit einer artigen Verbeugung   
    zu Glafira, „in einer Viertelstunde sind wir da“, und erkundigt sich, ob sie
    sich erholen konnte.
-  „Merci“, flüstert sie und beginnt, ihren Mann zu wecken, der mit völlig
    verständnislosen Augen auf seine Frau blickt.
-  „Wir müssen unsere Sachen zusammensuchen, wir sind gleich da“.
-  „Wo denn?“
-  „Na in Genf!“

Nikolai Iwanowitsch wirft einen schiefen Blick auf den sich striegelnden
Franzosen und legt seine Stirn in Falten: „Fährt der Schwätzer da auch hin?“
-  „Woher soll ich das wissen? Gefragt hab ich ihn nicht!“
-  „Sieht so aus. Weißt du was, Glafira Semjonowna, irgendwie hab ich keine
    Lust auf Genf. Soll doch zum Teufel gehen, die Stadt - komm, lass uns
    weiterfahren“.
-  „Wie: zum Teufel gehen? Das ist die Schweiz hier, mit ihren Alpen, hier
    haben wir den gleichen Blick auf die Gipfel wie auf den Bildern in unserem
    Wohnzimmer - aber in natura!“
-  „Was wollen wir mit den Gipfeln? Und den Aussichten? Sind mir scheiß-
    egal. Die Berge sehen wir auch von der Bahn aus, wirklich, ist mir
    völlig gleichgültig...“ spricht Nikolai Iwanowitsch mit dumpfer Stimme und
    wirft immer wieder einen nervösen Blick auf den Commisvoyageur.
-  „Dir mag das egal sein, aber mir nicht. Nein, nein, ich möchte mir Genf
    angucken und die Alpen, über die Stadt habe ich viel gelesen, erst vor
    kurzem. Hier verbrachte der Marquis de Fourmas seine Flitterwochen mit
    Leonie - im silbrigen Licht des Mondes sind sie über den See gerudert...“
-  „Schon wieder ein Roman? Ach, verflucht...“
-  „Da kannst du fluchen wie du willst, in Genf bleiben wir einen Tag. Das
    hast du deinen pariser Schweinereien zu verdanken...“
-  „Geht das schon wieder los? Wegen meiner Verfehlungen habe ich dir
   doch gerade für 170 Francs Spitzen und anderen Tüdelkram gekauft!
   Schweinereien! Das ist ja unglaublich, wie nachtragend du bist... guck dich
   lieber selber an...“ erregt sich Nikolai Iwanowitsch und schielt zum
   Franzosen hinüber.
-  „Entschuldige, nun erzähl keinen Unsinn. Ich weiß wohl, worauf du
   anspielst, aber das ist mir einfach zu dumm... einen Tag bleiben wir in
   Genf“.

Mit diesen Worten erhebt sich Glafira und beginnt, ihre Sachen

einzusammeln und zusammenzuschnüren.

In voller Fahrt erreicht der Zug Genf. Es ist merklich heller geworden,

und durch den Morgennebel ahnt man die verschwommenen Umrisse

der Berge, die Gipfel von Wolken verborgen.

Sie sehen Frauen in blauen Kleidern und Strohhüten zur Arbeit gehen,

mit Harken über der Schulter oder mit Weidenkörben an der Hand

und kleine, steinerne Häuschen, inmitten der Weinberge links

und rechts verteilt. Nikolai Iwanowitsch betrachtet sich das alles finster,

unzufrieden auf seinen Lippen kauend.

-  „Na, meine Romanistin“, bemerkt er bei der Einfahrt des Zuges giftig,
    „in welcher Sprache unterhält man sich denn hier: in Französisch oder
    in Deutsch?“
-  „Das hören wir gleich“.

Beim Aussteigen möchte der Commisvoyageur Glafira beim Tragen helfen,
wird aber von Nikolai Iwanowitsch fortgescheucht: „Nicht nötig.. allez... da
    schau an, wie dienstfertig... möchte sich was einstecken, was?“
-  „Alter Idiot...“ seufzt Glafira Semjonowna nur.

Sie übergeben ihre Sachen einem Gepäckträger, werden am Ausgang jedoch
von einem älteren Herrn in formellem Jackett und mit Zigarre im Mund, einen
Angestellten in Arbeitsbluse neben sich, angehalten: „Qu’est-ce que vous
    avez la, Monsieur? Ouvriez!“
-  „Monsieur le visiteur des douanes...“ erklärt der Gepäckträger.

Unsere Eheleute verstehen nicht sofort und schauen sich fragend an,
während Zöllner und Gepäckträger gestikulierend versuchen, sie zum
Öffnen ihrer Reisetasche zu bewegen. Dies beobachtend, springt der
Commisvoyageur herbei und wirkt auf den Beamten in Französisch ein,
dabei auf unsere Reisenden deutend.
Diesem Redeschwall ausgesetzt, lässt sich der Beamte zu einem
„Allez“ herab und unser Ehepaar passieren.

-  „Das war sicher der Zoll?“ errät schließlich Glafira Semjonowna.
-  „Woher soll ich das denn wissen?“ ruft Nikolai Iwanowitsch ärgerlich, „ich
   weiß nur, dass dieser schmierige Trottel, dieser Frechdachs mit
   gewichstem Schnurrbart uns nicht in Ruhe lässt und sich in absolut alle
   unsere Angelegenheiten einmischt!“
-  „Aber er hat uns doch geholfen, wegen ihm haben sie uns durchgelassen“.
-  „Ich wünsche seine Unterstützung nicht“.

Im Foyer stehen die Angestellten der verschiedenen Hotels, mit den

Namen ihrer Häuser auf der Schirmmütze.
-  „Otel de Russie“ entziffert Nikolai Iwanowitsch auf einem Schildchen,
   „Na Gott sei Dank, endlich mal ein russisches Hotel, wunderbar... Ey,
    забирай наши веши...“ winkt er es heran, „ein Zimmer für uns... da habt
    ihr im Otel de Rossie bestimmt ein hübsches Zimmerchen mit zwei
    Betten...“ fragt er den Hoteldiener auf Russisch.

Dieser nimmt das Gepäck auf, antwortet jedoch mit „Comprends pas,
    Monsieur“.
-  „Wie? Ist Portier des Hotels ‘Rossia’ und spricht kein Russisch! Das ist ja
    ein Ding - was soll das für ein ‘Rossia’ sein?“
-  „Er ist nur der Kutscher, vielleicht sprechen sie im Hotel russisch...“ meint
    Glafira, „komm, gehen wir...“

Der Hoteldiener setzt sie in seine Kutsche, springt auf den Bock, fährt sie
durch eine breite Straße mit hohen grauen Häusern, biegt um eine Ecke und
hält. Bis zum Hotelentree haben sie keine drei Minuten gebraucht.

-  „Wie - schon da?“ fragt Nikolai Iwanowitsch verwundert, aus der Kalesche
   kletternd, „da hat sich die Fahrt nicht gelohnt, das hätten wir auch zu Fuß...
   alle Teufel, da führen sie die Leute extra an der Nase herum, um hinterher
   2 Franken pro Passagier zu kassieren...“
-  „Nun steig schon aus und mecker nicht wegen vier Francs. Für das
    Besäufnis in Paris waren dir 700 nicht zu schade...“ bemerkt Glafira
    spitz.