Auszüge Kapitel 4

An der Front...

... Am nächsten Morgen erhalte ich die Abordnung zur Zentralfront, gezeichnet vom Chef der Fernmeldeeinheiten der 31. Armee. Von allen Abgängern unserer Militärschule wird nur ein Mitglied meines Zuges ebenfalls dorthin versetzt - Oleg Kornew. An der Kasse des, glaube ich, Kiewsker Bahnhofes erhalten wir Freikarten zunächst nach Naro-Fominsk, von da über Moskau nach Wjasma.

 Es gelingt mir, meinem Vater die Abfahrtszeit mitzuteilen.

 Der Waggon ist rot, ein Güterwagen mit Etagenbetten und vollgestopft mit Soldaten und Offizieren, die an die Front geschickt werden.

 Oleg zwängt sich auf die untere Liege, ich auf die obere und gucke direkt in das Gesicht eines hübschen Mädchens - einer Sanitätsinstrukteurin.

 Dann geschieht etwas Peinliches.

 Papa steht auf dem Bahnsteig, aber ich sehe ihn nicht, das Mädchen atmet mir direkt in den Mund, und ihr Atem erregt mich.Zunächst küssen wir uns beinahe unwillkürlich, dann gierig und ohne Ende.

 Ein Arm von mir ist eingeklemmt, ich kann mich nicht drehen, wie beinahe jede Bewegung unmöglich ist, wir sprechen keuchend, flüstern, dass das wohl Schicksal sei, aber beim Ausstieg, fünfzehn Kilometer vor der vordersten Linie, verlieren wir uns für immer in der Menge, auch von Oleg werde ich getrennt.

 Den Stab der 31. Armee im Dorf Tschunegowo, in der Nähe Subzows, erreichen wir einzeln.

 

Gedicht, 60 Jahre später geschrieben - 15. März 2002

 

 То смех, то мат со всех сторон,/

 Махоркой, вшами, вещмешками./

 Воспоминаниями, снами,/

 Едой битком набит вагон./

 Винтовка чья-то подо мною,/

 И вдруг, о чудо неземное!/

 Губами, грудью, животом/

 И всем, что видно и не видно, /

 Я вдавлен в медсестру. Мне стыдно! /

 Но широко открытым ртом /

 Она судьбу мою вдыхает,/

 Вагон скрипит и громыхает, /

 А время третий час стоит. /

Так тесно, как в Аду у Данте,/

 – Молчи! – Она мне говорит...

 

 

Gelächter, Flüche um uns herum

 im bis zum Bersten gefüllten Waggon:

 mit Tabaksschwaden, Läusen, Plunder.

 Erinnerungen, Essensduft und uns.

 Wes Schraube ist das untenrum,

 da plötzlich: überirdisch Wunder!

 Mit Lippen, Brust und Bauch

 mit allem was man sehen kann und auch

 mit dem was nicht - bin angepreßt ich

 an eine Krankenschwester. Gott wie peinlich!

 Jedoch mit großem, offnen Mund

 saugt sie mein Unheil in ihren Schlund.

 Der Wagen grollt, die Bremse schreit

 die dritte Stunde steht die Zeit.

 So eng wie in der Hölle Dantes,

 nun schweig, sie spricht zu mir...

 

 Vor zwanzig Jahren versammelte ich in meinem Atelier die verbliebenen acht ehemaligen Soldaten meiner Fernmeldeeinheit, die in Moskau lebten. Wir tranken Wodka und erinnerten uns.

 - Schade, dass Shukow nicht gekommen ist, bemerkte Markow.

 - Was erzählst du denn, fragte ihn Denisow, Shukow haben wir vor Orscha   

  begraben.

 - Ist doch Unsinn, empörte sich Markov, nach dem Krieg hab ich ihn in Ungarn

  zum Zug nach Moskau gebracht.

 - Kannst du dich noch an den Übergang über den Njemen erinnern?

 - Nein.

 - Und an Goldap?

 - Nein.

 - Und an Irka Micheewa?

 - Natürlich, mit der...

 - Und Vera Semjonowa?

 - Natürlich, mit der...

 - Und ich hab mit Tanja Petrowa...

 - Ach, wo denn?

 Schweigen.

 - In Lubawitsch? Suwalki? In Löwenberg?

 

 Wir erinnerten uns an die Namen der Frauen, die wir geliebt, an die Freunde, die wir begraben hatten, aber wir kamen völlig durcheinander bei der Frage: wann, wo, mit wem, verwechselten das, was andere uns erzählt mit dem, das wir selbst erlebt hatten, und von jedem Geschehnis legte jeder einzelne seine eigene Version dar, die alle anderen völlig ausschloss.

 

 Ich hatte bereits über Memoiren nachgedacht, aber meine Versuche, bei Erinnerungslücken Unterstützung zu bekommen, stießen auf Unverständnis.

 Das, was sie belustigte, stimmte mich traurig.

 

 Пропали без вести, забыты, /

 убиты и в землю зарыты,/

 без вести, как древние страны /

 и звезды, нет вести с которых, /

 и розы, которых сорвали /

 без цели, а может, дельфины, /

 калужницы знают? Тюльпаны? /

 Коты на заборах, стрекозы?..

 

 Verloren ohne Nachricht, vergessen

 ermordet, in der Erde verscharrt,

 ohne Kunde, gleich antiken Staaten

 oder Sternen, deren Botschaft wir entraten

 oder Rosen, abgerissen

sinnlos, vielleicht wissen

die Delphine? Dotterblumen? Mirabellen?

Kater auf den Zäunen? Die Libellen?...

 

 Wjasma. Ruinen. Zwei Stunden wandere ich durch die gewesene Stadt, bis ich zufällig ein Auto finde, das mich mit zum Armeestab nimmt.

 

 Die Ausbildung habe ich abgeschlossen, bin Leutnant. Die Wachvorschriften kenne ich auswendig. Habe vor einem halben Jahr übrigens selbst wegen eines garstigen Verstoßes gegen sie drei Tage Arrest kassiert. Ich stehe nachts mit dem Gewehr vor dem Lager der Schule auf Wache. Anderthalb Stunden bis zum Wachwechsel. Dann Schritte, und ich sehe eine Silhouette in etwa zwanzig Metern. Wie die Vorschrift verlangt, rufe ich: „Halt! Wer da?“ Die Silhouette antwortet nicht, ist jetzt zehn Meter entfernt. Ich rufe: „Halt! Ich schieße! Hinlegen!“ Ich hebe den Lauf, entsichere den Verschluss, aber sie geht weiter, ist drei Meter weg und schweigt. Ich habe den Finger am Abzug. Beschließe, in die Luft zu schießen, aber schieße nicht. Dann erkenne ich unseren Kompanieführer und rapportiere: „Genosse Leutnant! Offiziersschüler Rabitschew auf Posten Nr. 3“.

 Er windet mir das Gewehr aus der Hand und fragt: „Warum haben Sie nicht geschossen? Drei Tage Arrest“.

 „Genosse Leutnant, ich hatte Sie erkannt!“

 „Sie hätten schießen müssen. Drei Tage!“ Er gibt Alarm, der Wachkommandant läuft herbei und Oleg Kornew übernimmt den Posten. Ich lege das Koppel ab und begebe mich zur Hauptwache.

 

 Vor einem halben Jahr.

 

 Jetzt - ein Unterstand, am Eingang ein Unteroffizier, aber er steht nicht, entsprechend der Dienstvorschrift, er sitzt auf einer leeren Munitionskiste. Das Gewehr auf den Knien schüttet er Tabak auf ein Stück Zeitungspapier und knickt ein Ende als Filter um. Ich bin erschüttert, das sprengt meine Vorstellungskraft, ich schreie: „Aufstehen!“

 

 Er lacht nur, die Kippe im Mund, und fängt an, sich an einem Stein Feuer zu schlagen. Ende 1942 gab es noch keine Streichhölzer an der Front, man akklimatisierte sich an die Steinzeit, zwei Feuersteine, Zunder, kleingerissene Zweige. Der Funke fliegt, es glimmt das Zweiglein, das Zeitungspapier fängt Feuer und Rauch strömt aus der Nase. Ich erröte und erbleiche abwechselnd, schreie schon heiser: „Aufstehen!“ Und der Unteroffizier zwischen den Zähnen: „Ach, fick dich doch...!“

 Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich bücke mich und steige über eine Leiter in den Unterstand. Niemand da, zwei Tische mit Telefonen, Papiere, zwei abgeflachte Granathülsen mit brennenden Dochten, ich setze mich auf die Bank.

 Es klingelt, ich nehme den Hörer eines der Telefone ab. Eine heisere Stimme:

 „Ich f... dich in den A..., Herrgottnochmal,....“ usw.usw.

 Ich lege den Hörer auf. Es klingelt. Ich nehme ab. Dieselbe Stimme: „Wer ist denn da...“ höre ich sowie ungefähr das gleiche, nur noch versierteres und variantenreicheres Mat.*

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*  Mat - tabuisierte und allgegenwärtige obszöne Parallelsprache im Russischen, in der aus den drei Wörtern хуй, пизда, ёбать (Schwanz, Votze, Ficken) nahezu alle beliebigen Adjektive und Verben, teilw. auch Substantive gebildet werden können. Natürlich existiert gleichfalls ein reicher Vorrat fester Wendungen und Bedeutungen, man kann sich also komplett in dieser Sprache ausdrücken.

Normale Flüche gibt es selbstverständlich auch, aber wenn in Übersetzungen aus dem Russischen von groben Flüchen gesprochen wird, ist fast immer Mat gemeint - ein weltweit einzigartiger Sprachreichtum, der sich nicht übertragen lässt.

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Ich antworte: „Leutnant Rabitschew, eingetroffen aus der Reserve zur Verfügung des Chefs der Armee-Fernmeldeeinheiten“.Aha, Leutnant Rabitschew? Zehn Tage Arrest, melden Sie das Ihrem Vorgesetzten“. Er legt den Hörer auf. Ein Major tritt ein, ich trage vor: „Leutnant Rabitschew...“ etc.etc., das Mat am Telefon, die zehn Tage Arrest. Der Major lacht. „Da haben Sie Pech gehabt. Das war ein General, der Stabschef der Armee, und Sie hängen den Hörer ein. Gut, lassen wir das, Kapitän Moldawanow wird in zwei Stunden hier sein, aber bis dahin gibts zu tun. Sie müssen mir unbedingt Karten von der topografischen Abteilung holen, hier Ihre Legitimation“. Auf eine Blankovollmacht schreibt er meinen Nachnamen und erklärt, dass im dritten Unterstand links ein Pferd stünde, mit dem ich zum Dorf Semjonowo reiten müsse. Immer geradeaus, ein Dorf läge auf dem Weg und ein Flüsschen, nicht zugefroren. Hin - und sofort wieder zurück, um Moldawanow nicht zu verpassen.

Jawohl!“

 Ich stecke die Vollmacht in die Kartentasche. Gehe nach links, erster, zweiter, dritter Unterstand. Ich gucke - an einem Strommasten (ohne Strom) ist ein Pferd angebunden, statt des Sattels hat es ein Kissen auf dem Rücken, mit Stricken befestigt. Erstaunen und Unglauben.

 

 Ich bin Moskauer, noch nie geritten, auch in der Militärschule haben wir es nicht gelernt. Da ist das Pferd, aber Sattel und Sporen gibts nicht. Ich versuche, mich am Kissen haltend, mit den Händen hochzuziehen - das Kissen rutscht nach unten. So gehts nicht. Auf der Wiese ist ein Baumstumpf. Ich ziehe das Pferd hinaus, ein Bein auf den Stumpf, beide Hände in die Mähne - ich sitze oben.

 

 Die Zügel angezogen - und das Pferdchen läuft, schlägt mit den Hufen fast an die Rippen, schneller Trab. Jede Sekunde werde ich hochgeworfen, ich kann mich an den Rhythmus nicht anpassen, nichts zu machen, und um nicht herabzufallen, kralle ich mich in die Mähne, umarme den Pferdehals und ziehe die Zügel unwillkürlich mal nach links, mal nach rechts. Das Pferd bleibt stehen, wendet den Kopf und betrachtet mich schwermütig.

 

 Nach zwanzig Minuten schmerzt alles, was sich zwischen meinen Beinen befindet, ich wechsel meine Sitzposition, werfe beide Beine mal zur linken, mal zur rechten Seite und drehe mich hin und her.

 

 Der Weg stößt auf das Flüsschen. Da ist die Furt. Damit das Wasser nicht in die Stiefel läuft, muss ich die Füße anheben. Wie durch ein Wunder verliere ich nicht das Gleichgewicht und halte mich im Sattel. An Staketenzäunen mit kleinen Pförtchen vorbei gehts durchs Dorf, in dem irgendeine Einheit liegt. Den letzten Kilometer lege ich zu Fuß zurück, das Pferd hinter mir herziehend.

 

 Die Kartenabteilung befindet sich am Ende des Dorfes, in einer bewachten Bauernhütte. Ich binde das Pferd an den Zaun, erhalte die Karten. Eine ziemlich schwere Rolle, etwa fünf Kilogramm. Ich komme nicht auf den Gedanken, darum zu bitten, sie mir umzubinden und nehme sie unter den Arm.

 

 Ein Bein auf einem Zaunpfosten, das andere werfe ich über das Pferd. Oben. Alles tut weh und ist unbequem. Los gehts. Dann kommen Wolken auf, es donnert, Blitze - und ein orkanartiger Windstoß fegt mich beinahe herunter. Mit beiden Händen ergreife ich die Mähne, die Rolle fällt auf die Erde. Das Einwickelpapier reißt auf, und einige Karten kreisen schon, wie Vögel, durch die Lüfte.

 Ich hüpfe vom Pferd und schaffe mit Mühe, die gute Hälfte von ihnen vom schneebedeckten Boden aufzuklauben. Ich sehe einen Stein, lege ihn auf die eingesammelten Karten und mit viel Glück gelingt es mir, auch die weggewehten restlichen zu finden. Ich schaue mich um. Das Pferd ist weg. Als ich auf die Jagd nach meinen Vögelchen ging, ist es abgehauen. Ich ziehe meine Bluse aus, wickele die Karten hinein und mache mich in düsterer Stimmung zu Fuß auf in Richtung Stab. Das Dorf. Am letzten Haus, an einen Zaun gebunden, steht mein Pferdchen mit dem Kissen. Einer der Soldaten oder Offiziere der dort stationierten Einheit hatte es aufgehalten.

 

 Ich bin glücklich. Ich denke, der erfolgreichen Ausführung meines ersten Armeebefehles steht nun nichts mehr im Wege. Mich auf den Zaun stützend, krabbele ich aufs Kissen, überquere die Furt, binde das Pferd wieder an seinen Strommasten, streife Bluse, Gurt und Tasche über.

 Rapportiere über die Erfüllung der Aufgabe.

 

Der Artilleriekommandeur der Armee, sein Stellvertreter und Flak-Kommandant Oberstleutnant Stepanzow sowie der stellvertretende Chef der Armee-Fernmeldeeinheiten Hauptmann Moldawanow beraten zwei Stunden lang, was sie mit mir und Oleg Kornew anstellen sollen. Den Frontbefehl zur Bildung einer besonderen Kompanie des LBAN*, der 100., haben sie bereits ausgeführt, aber

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* Luftbeobachtung, Alarm- und Nachrichtendienst - ВНОС (Войска воздушного наблюдения,

  оповещения и связи).

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was wird genau ihre Aufgabe und ihr Einsatzbefehl sein, wie organisiert man ihren Einsatz in der ersten Angriffswelle der Armee? Man gelangt zu keiner endgültigen Entscheidung. Oleg und mir unterstellt man etwa 150 Reservisten: Infanteristen, Fernmeldesoldaten, Artilleristen, ehemalige Lagerinsassen. Die Hälfte von ihnen kommt nach Verwundungen aus den Lazaretten zurück, die andere Hälfte sind Freiwillige oder ehemalige Angehörige von Strafbataillonen aus der Frontreserve.

 

Im Verlauf eines Monats sollen wir ihnen alles beibringen, was wir selbst im Birsker Militärinstitut gelernt hätten....

 

Innerhalb eines Monats muss die Kompanie in einsatzbereiten Zustand versetzt werden, um an Kampfhandlungen teilzunehmen....

 

Die Armee hält einen Frontabschnitt von 18 - 20 Kilometer Breite besetzt, ihr Hinterland ist einen bis zwanzig Kilometer tief.

 

Unsere Beobachtung soll dieses ganze Gebiet umfassen, bzw. alle die in ihm stationierten Truppenteile. Zu den bereits vorhandenen müssen wir unser eigenes, paralleles Verbindungssystem aufbauen, zu den Korpsstäben, Divisionen, Flugplätzen, Artilleriebrigaden, Flakabteilungen sowie allen Fernmeldeknotenpunkten der Armee.

 

 

 

Am 26. Dezember erteilt mir Hauptmann Moldawanow um 16 Uhr den Befehl,

binnen 48 Stunden vierzig Kilometer Telefonkabel zu verlegen und auf den Höhen um die Dörfer Kalganowo, Kaskowo und Tschunegowo sechs Beobachtungs- und Kommunikationsposten einzurichten.

 

Dabei hatte ich, wie erwähnt, meine 48 Infanteristen aus der Armeereserve erst vor einem Monat überstellt bekommen. Zweiundzwanzig von ihnen waren verwundet worden und kamen aus dem Lazarett, acht altgediente davon hatten den finnischen Krieg und die Rückzüge 1941 überlebt, waren zwei- oder dreimal verwundet und ausgezeichnet worden. Drei von ihnen sind zum Feldwebel, zwei, Kornilow und Poljanskij, zum Oberfeldwebel befördert worden. Aber von den 26 anderen hatte noch keiner Pulver gerochen, sie kamen zur Reserve aus Gefängnis oder Lager - einer wegen Hooliganismus und einer Messerstecherei, die anderen wegen kleinerer Diebstähle. Sie erhielten geringe Strafen und schrieben während der Haft Eingaben, mit Blut und Heldenmut ihre Taten zu sühnen.

 

Alle waren sie sehr jung, zwischen achtzehn und zwanzig, und tatsächlich haben sie sich als die tapfersten Kämpfer erwiesen, belastbar und fähig zu aufopferungsvollen Taten, zumindest solange der Krieg in unserem Land geführt wurde, bis zur Offensive 1945, bis sie in Ostpreußen auf die feindliche 

Zivilbevölkerung trafen. Sicher gab es unter ihnen auch Maulhelden, Angeber, Feiglinge und Menschen ohne Ehre, aber sowohl das Gefühl, den Ellenbogen des Kameraden zu spüren und das soldatische Prinzip, sich gegenseitig zu helfen als auch die sichere Zuversicht, den Krieg zu gewinnen sowie die patriotischen Empfindungen, die 1943 in der Armee herrschten, bestimmten sie, ihre Defizite zu verheimlichen und letztlich, ja, wollten sie nicht so sein wie ihre Genossen, vermochten es wahrscheinlich auch nicht.

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Eine totalitäre Regierung, Menschen als 'Schrauben', auf ihre gesellschaftliche Funktion reduziert, der homo sovieticus - die Erkenntnis all dessen und seiner Bedeutung wurde mir erst beträchtlich später bewusst.

 

Damals jedoch - und das ist äußerst wichtig für das Verständnis derjenigen

Verstrickungen und Geschehnisse, um derentwillen ich das alles sechzig Jahre

später überhaupt aufschreibe, im Sinne einer Buße - damals habe ich meine Soldaten, ungeachtet der Bildungsunterschiede, meiner familiären Erziehung und meinen seelischen Erfahrungen als meine Freunde betrachtet und als Offizier geschaut auf sie wie auf meine Kinder. Im Verlaufe ihrer Ausbildung wollte ich ihnen alles vermitteln, was ich wusste und las ihnen abends Gedichte von Puschkin, Pasternak und Blok vor, aus der Bibel und den Dramen Shakespeares, und bessere, aufmerksamere Zuhörer habe ich im Leben nicht mehr gefunden.

 

An acht Stunden unterrichtete ich meine Soldaten vierundzwanzig Tage lang in allem, was ich selbst an der Militärschule gelernt hatte: Telefonie, Kabel verlegen, Kabel flicken, Telefon- und Funkstationen einrichten, Luftfahrt. Allerdings gab es auch Marschübungen, wir beschäftigten uns mit Waffen, Karabinern und MPis und schossen auf Ziele. Wir versorgten uns mit Handgranaten und warfen sie aus Unterständen, gewöhnliche mit Stiel, Eierhandgranaten und erbeutete deutsche. Wir verfügten über deutsche Maschinenpistolen, es gab Unterricht im Robben, wir beschäftigten uns mit den Dienstvorschriften, übten am Funkgerät, machten uns mit den deutschen Flugzeugen vertraut und lernten, sie am Motorengeräusch zu erkennen.

 

Zweifelsohne waren mir bei der Ausbildung unserer Neulinge meine erfahrenen Feldwebel eine große Hilfe. Aber schließlich haben wir, mit mehr oder weniger Erfolg, unsere früheren Infanteristen, Artilleristen und Lagerinsassen binnen vierundzwanzig Tagen in Fernmeldesoldaten verwandelt. Fast alles hatten sie erlernt, und es kam der Tag, da erhielten wir Gewehre, Maschinenpistolen, Patronen, Handgranaten und sechs Pferde mit Fuhrwerken. Aber aus irgendwelchen Gründen fanden sich im Armeelager nicht die benötigten 50 Kilometer Kabel und weder Summer- noch Induktionstelefonapparate...

 

Genau aus diesem Grund bin ich über den Befehl Hauptmanns Moldawanow höchst erstaunt.

- Genosse Kapitan, sage ich ihm, ich kann in 48 Stunden keine vierzig

Kilometer Kabel verlegen, ich habe keinen einzigen Meter und keinen

einzigen Telefonapparat.

- Leutnant Rabitschew, Sie haben einen Befehl erhalten, führen Sie ihn aus

und bestätigen Sie mir in 48 Stunden seine Erfüllung.

- Aber, Genosse Kapitan...

- Leutnant Rabitschew, kehrt marsch!

 

Ich verlasse den Unterstand und reite ins Dorf, in dem mein Zug im Quartier liegt...

Völlig verdattert erzähle ich meinen Feldwebeln und Soldaten von diesem unausführbaren Auftrag. Zu meiner Überraschung machen Aufregung und Schwermut, die sich meiner bemächtigt haben, nicht nur keinerlei Eindruck, sondern scheinen sie, im Gegenteil, sogar ausnehmend zu belustigen.

 

- Leutnant, besorgen Sie die Telefone, die Kabel haben wir in zwei Stunden.

- Woher denn? Woher wollt ihr die denn nehmen?

- Leutnant, also... alle machen das so, ganz normale Sache, hundert Meter

weiter liegt die Divisionsleitung, längs der Chaussee mehrere Dutzend

Leitungen von Armeeeinheiten. Von jeder schneiden wir anderthalb oder

zwei Kilometer ab und schicken noch fünf Leute in die Etappe, da gibts ein

ganzes Netz vom anderen Armeeflügel, da können wir drei, vier Kilometer

abschneiden. Bis zum Morgen kriegt das niemand mit, und dann haben wir

unseren Befehl schon erfüllt.

- So, ihr schlagt also vor, das ganze System der Armeekommunikation zu

zerstören? Nein, an kriminellen Aktionen beteilige ich mich nicht, was habt

ihr denn noch für Vorschläge?

 

Meine Sergeanten fluchen und sind stinksauer.

- Eine Möglichkeit gibts noch, bemerkt der Funker Xabibullin, aber die ist

gefährlich: kreuz und quer im Niemandsland verlaufen tote Kabel, unsere und

deutsche. Aber der Streifen ist nicht breit, wenn wir bemerkt werden,

schießen die Fritzen, die setzen auch MGs und Granatwerfer ein, vielleicht

können wir nicht zurück.

- Um 6 Uhr morgens gehen wir ins Niemandsland, ich gehe, wer kommt mit?

 

Bedrückte Gesichter. Niemand hat Lust, von Granatwerfern und Maschinengewehren beschossen zu werden. Ich schaue in das Gesicht unseres intelligentesten Oberfeldwebels: „Tschistjakow, kommst du mit?“

- „Wenn Sie befehlen, ja, aber sollten die Deutschen auf uns schießen, drehe

ich um“.

- „Ich komm auch mit“, sagt Kabir Talibowitsch Xabubullin.

Also ich, Tschistjakow, Xabibullin und meine Ordonnanz Grischetschkin.

Das sind alle.

 

Um sechs, nachdem wir die vorderste Infanterie verständigt haben, kriechen wir ins Niemandsland. Wir robben, eng an die Erde geschmiegt, schweißüberströmt, und wickeln etwa 300 Meter Kabel auf die Rolle. Wir sind ungefähr 100 Meter vor unserer Linie, als uns die Deutschen bemerken. Sie nehmen ihre Granatwerfer in Betrieb. Tschistjakow hält mich am Ärmel fest.

- „Zurück!“ ruft er, die Stimme heiser vor Aufregung.

- „Und das Kabel?“

- „Du spinnst, Leutnant, wir müssen sofort zurück!“

Ich schaue in die verschreckten Augen Grischetschkins, und mir wird selbst ein wenig mulmig.

 

Zum Glück haben die Infanteriebeobachter mit der Artillerie telefoniert, und die schickt ein paar Salven auf die deutschen Schützengräben.

Verdreckt, mit 300 Meter Kabel, kriechen wir zu unserer Linie zurück, rollen uns über die Brustwehr und fallen, völlig außer Atem, auf den Boden des Grabens.

Zum Glück - lebend. Alle fluchen und sind verärgert. Tschistjakow blickt mich hasserfüllt an. In den nächsten anderthalb Stunden befehle ich Kornilow, die benachbarten Leitungen abzuschneiden, begebe mich selbst zur Telefonvermittlung der Division und stelle mich ihrem Kommandeur vor - dem Bruder des bekannten Komponisten, Oberleutnant Pokras.

 

Wir erklären einander, wo in Moskau wir wohnen, ich erzähle ihm von Osip Brik, er trägt mir auswendig etwas aus der 'Vergeltung' Bloks vor. Wir reden und reden. Nach einer Stunde bietet er mir leihweise fünf Telefonapparate an.

In der Nacht verlegen wir mit den kriminell erworbenen Kabeln sämtliche vorgesehenen Leitungen, morgens erstatte ich Hauptmann Moldawanow über die Befehlsausführung Bericht.

- „Gut gemacht, Leutnant.“

- „Ich diene der Sowjetunion.“

 ....

 

Im Dorf Kaskowo gibt es keine Einwohner mehr, vermutlich wurden sie nach Deutschland deportiert, es stehen jedoch noch ein Paar leerer Hütten. Aus den dort gefundenen Brettern, Tischen und Bänken fertigen wir für alle drei Unterstände Türen und Fenster, sogar mit Glasscheiben. Wir beheizen die Öfen und bereiten das Essen. Es ist bereits dunkel.

Grischetschkin kocht in einem Topf Griesbrei mit Eipulver, welches wir als Wochenration anstelle von Butter erhalten haben, im anderen eine Suppe mit Schweinefleisch aus der Dose und getrockneten Kartoffeln.

Es muss nach 22 Uhr sein, als jemand an unser Fenster klopft.

 

2. Februar 1943

...je weiter unsere Truppen vorrücken, desto mehr Fritze geraten in Gefangenschaft. Ich habe viel zu tun, in der Freizeit lese ich, allerdings ist das einzige Buch, dessen ich habhaft werden konnte, das Evangelium. Womöglich werde ich noch Theologe... Oleg sehe ich nur selten, uns trennen jetzt ein paar Dutzend Kilometer. Meine Ernährung? Die sogenannten Einmannportionen: Brot (Roggenzwieback), Grütze, Zucker, Konzentrate (Fett und Fleisch), Pfeffer und Senf...“

 

13. März 1943

Meine Lieben! Vermutlich dauert es, bis Ihr meinen Brief erhaltet. Und Zeit

zum Briefeschreiben finde ich momentan auch wenig. Der Fritz läuft, und läuft derart, dass unsere Einheiten ihn gar nicht einholen können... Ich bin durch Dutzende Ortschaften gekommen, die von der Okkupation befreit wurden, habe mit Hunderten von Leuten gesprochen, die schon nicht mehr wie Menschen aussahen. Täglich rücken wir etwa 30 Kilometer vor... In den letzten sechs Tagen war ich gezwungen, mir allerhand anzuschauen. Auf ihrem Rückzug haben die Deutschen Straßen und Dörfer vermint, wir müssen uns vorsichtig bewegen. Gestern kamen wir durch ein Gebiet, in dem eine größere Panzerschlacht stattgefunden hatte. Ein endloses Feld. Ein Berg von Wracks - abgeschossene Panzer, ausgebrannte, ineinander verkeilte. Ein Berg von Leichen. Auf einem Seitenweg lagen zerfetzte Fritze: Köpfe, Beine, Arme....

Beim Abzug zerstören die Deutschen die Öfen. Sie holen Tische aus den Häusern, Truhen, Pflüge, Vasen, zerbrechen, zerstören und verbrennen sie. Alles Gusseisen wird zerschlagen, jedes Gebäude vermint. Die Bevölkerung wollten sie mit sich treiben, und die Menschen versteckten sich in den Wäldern. Einige Tage lebten sie dort in Gräben und kehren jetzt zurück....

 

16. März 1943 (Brief an die Eltern)

Ich möchte ein paar Worte zu dem sagen, was ich mit eigenen Augen gesehen und von Augenzeugen gehört habe. Ich folge den Fußstapfen der Deutschen. Über ihre Tritte ist noch kein Gras gewachsen. Sie wirtschafteten hier anderthalb Jahre, griffen nicht an und zogen sich nicht zurück. Sie schufen Ordnung in den Dörfern, plünderten die Stadtbevölkerung aus, hängten Leute auf....

Wenn ein unvernünftiges Kind sich an etwas stößt, fängt es an, diesen Gegenstand zu schlagen, brennen dem Wurstmacher die Würste an, zerschlägt er den Ofen. Im Kalininsker Landkreis gibt es nicht einen heilen russischen Ofen mehr. Auf dem Rückzug wurden die Deutschen zur Bestie. Anfangs steckten sie die Häuser in Brand und trieben das Vieh weg. In den letzten Tagen begannen sie, auch die Bevölkerung zu verbrennen. Einem Jungen, der weglaufen wollte, schnitten sie Nase und Ohren ab. Heute besetzten unsere Truppen einen Ort, in dem die Deutschen die gesamte Einwohnerschaft verbrannt hatten. Unsere stürmten vorwärts und entrissen den Händen der Henker halbtote Überlebende.“

 

 

Die Tür des Unterstandes öffnet sich, und herein tritt ein unbekannter Hauptmann. Er sei auf Skiern zu seiner Einheit unterwegs, habe aber den vom Schnee zugewehten Weg verloren und bitte um meine Erlaubnis, hier zu übernachten. Nachdem wir uns bekannt gemacht haben, lade ich ihn ein, unser Abendessen mit uns zu teilen, er zieht dafür einen Flachmann aus dem Rucksack.

 

Wir trinken auf den Sieg. Es offenbart sich, dass wir beide Moskauer sind. Ich erzähle ihm von unserem regierungseigenen Haus am Pokrowskij-Boulevard, er von seinem in der Palicha-Straße. Ich berichte von unserem begeisterndem Zirkel im Haus der Pioniere, von meiner Passion für Geschichte und Poesie, meiner Mutter, Mitglied der KPdSU seit 1925, von meinem Vater, dem eben der Orden 'Zeichen der Ehre' verliehen worden ist für sein Mitwirken an der Erschließung neuer Ölquellen und der Rettung der bestehenden, von meinem Bruder, der vor einem halben Jahr als Panzerkommandant vor Stalingrad ums Leben kam. Er füllt unsere Gläser erneut und schlägt vor, auf unsere Eltern zu trinken.

Dann unterhalten wir uns über Bücher, über Puschkin, Shakespeare und Majakowski und gehen unwillkürlich zum 'du' über, bis uns Müdigkeit überfällt und wir einschlafen.

 

Morgens allerdings zieht Kapitan Pawlow seinen roten Dienstausweis aus der Tasche und gesteht, das er mich nicht zufällig besucht habe, sondern im Auftrage des Smersch, des Militärgeheimdienstes. Die gestrige Unterhaltung habe ihm jedoch deutlich gemacht, dass ich ein sowjetischer Mensch sei, ein Komsomolze, dass ich freilich einen Fehler begangen hätte, indem ich meinen Leuten das Evangelium vorlas, dabei rate er mir, im Vertrauen, mich vor meinem Sergeanten Tschistjakow in Acht zu nehmen, der der Smersch geschrieben habe, ich würde in meinem Zug religiöse Propaganda betreiben und er, Pawlow, empfehle mir, das in der verlassenen Hütte gefundene Buch unverzüglich ins Feuer zu werfen während er, seinerseits, die Denunziation Tschistjakows ebendorthin befördere und dass ich überhaupt Glück gehabt hätte, dass dieses Stück Papier in seine Hände geraten sei und nicht in die seiner Kollegen. Es käme mir letztlich besser zu, meinen Soldaten aus der Literaturzeitschrift 'Snamja' vorzulesen, oder Gedichte von Pasternak und Blok, oder Skakespeares Romeo und Julia. Ich danke dir, Kapitan Pawlow!

....

 

Im Februar 1943 nehme ich auf dem Weg zum Armeestab eine, laut Karte, Abkürzung. Roshizkij hatte mich einbestellt, um mich bei der Verlegung einer Fernmeldeeinheit im Zuge der Vorbereitungen zur Frühjahrsoffensive zu konsultieren.

 

Der Weg windet sich durch den Wald, und als dieser plötzlich endet, liegt ein abgebranntes Dorf vor uns, aber aus dem Rohr einer Erdhütte kommt Rauch.

Grischetschkin und ich beschließen, durchgefroren wie wir sind, uns dort aufzuwärmen und, wenn möglich, auch zu frühstücken. Fünf Stufen geht es hinab, eine Tür mit gläserner Klappe. Drinnen ist es warm, ein Fass, eine Bank, Tisch und Pritschen. Eine alte und eine junge Frau, ein kleines Mädchen, fröhlich machen sie Platz für uns.

 

Grischetschkin stellt Grütze, Brot und eine Dose Mixfett auf den Tisch und fängt an, für alle eine Suppe zu kochen, während ich mich mit der jungen Frau unterhalte. Sie ist ebenfalls Moskauerin und arbeitete bis zum Krieg in einer Telefonzentrale.

 

Ich teile ihr mit, dass ich Fernmeldeoffizier bin. „Und ich“, sagt sie, „habe das Fernmeldetechnikum abgeschlossen, kenne alle Telefonapparate und habe bei der Vermittlung gearbeitet. Nehmen Sie mich doch mit“, fordert sie, „ich möchte auch gegen die Fritze kämpfen... Im Mai 41 habe ich meine Oma auf dem Dorf besucht, und mich dann sechs Monate im Wald versteckt, eine Erdhütte gegraben. Viele gabs davon. Zwei Kilometer entfernt von uns war eine Panzerschlacht, die Soldaten brachten mir einen verwundeten Leutnant, aber ich konnte ihm nicht helfen, er starb in meinen Armen... Nehmen Sie mich doch mit, Leutnant!“

Eine schöne, furchtlose, drahtige Frau, eine professionelle Telefonistin.

- „Setz dich auf das Fuhrwerk“, sage ich, “ in zwei Stunden bist du beim Chef

der Fernmeldeeinheiten...“

 

Der Wald liegt hinter uns, und vor uns eröffnet sich ein grausames Bild. Auf einer riesigen Fläche, bis zum Horizont, stehen Panzer herum, deutsche und unsere, und zwischen den Panzern tausende stehender, sitzender und im Kriechen erfrorener Soldaten, unsere und deutsche. Einige sich aneinander- lehnend, andere sich umarmend, sich auf ein Gewehr stützend oder die MPi noch in den Händen.

Viele haben abgeschnittene Füße. Unsere Infanteristen, nicht in der Lage, den Fritzen die neuen Stiefel von den gefrorenen Beinen zu ziehen, hackten die Füße ab, um sie später im Bunker aufzutauen und dann ihre eigenen mit Gamaschen gegen die neuen Beutestiefel einzutauschen.

Grischetschkin stöbert in den Taschen tiefgefrorener Fritze und erbeutet zwei Feuerzeuge und ein Päckchen Zigaretten, das Mädchen schaut gleichgültig auf eine Szene, die sie schon dutzendfach gesehen hat, während mich Horror überfällt. Die Tanks sind aufeinander zugekrochen, sind miteinander zusammengestoßen, stellten sich auf die Hinterbeine und die Menschen, wahrscheinlich unsere und die gegnerischen auch, sind alle umgekommen, die Verwundeten erfroren.

 

Und warum hat niemand sie begraben, warum hat sich das keiner näher angeguckt? Die Front ist nach vorn gewandert und die hier, die von Horizont zu Horizont Sitzenden und Stehenden, hat man vergessen.

 

Nach zwei Stunden sind wir beim Armeestab. Das Mädchen bringe ich zu den Telefonisten und kümmere mich um unsere Probleme. Abends erblicke ich sie noch im Unterstand eines der höheren Offiziere, neben einem Oberstleutnant mit heruntergelassenen Hosen.

Am nächsten Morgen im Bunker des Chefs der Politabteilung.

Das war das letzte Mal.

 

Ich nächtige in einem Gästebunker. Intendant Schtscherbakow macht sich über mich lustig, er findet meine Naivität albern.

- „Naja, vielleicht kommt sie ja doch noch an die Front“, meint er, „wenn sie es

aushalten kann, von den Offizieren vom Smersch gebumst zu werden...

immerhin hat sie ein Jahr im okkupierten Teritorium verbracht...“

Ohne Überprüfung durch den Smersch kommt man nicht in die Armee, und dies war erst ihr Beginn. Meine Naivität macht mir Angst.

Ein Gefühl der Beschämung begann in mir zu glimmen, und es glimmt seit sechzig Jahren.

 

 

Aus einem Brief vom 2. Februar 1943

Kriege meine Verpflegungsration: Trockengebäck, Grütze, Zucker, Konzentrate, Fleischkonserven, Pfeffer und Senf, dazu die Zusatzration für Offiziere: Butter, Konserven und Papirossi. Zum Frühstück koche ich Grütze, mittags Suppe, abends Suppe. Fürs Pferd: Hafer, Heu, Salz“.

 

Ein vergessener Brief vom 17. Dezember 1942

Wir befinden uns jetzt in Frontnähe, bis jetzt habe ich 30 Soldaten in meinem Zug. Neunundzwanzig davon haben gesessen, wegen Diebstählen, Rowdytums und Messerstechereien. Jungs wie Feuer!

Vor Kurzem unterhielt ich mich mit einem von ihnen:

- Musatow, sag mal, warst du schon mal im Theater?

- Und du, willst du sagen, dass du schon mal warst?

- Natürlich.

- Da lassen sie doch keine einfachen...

- Wie, reinlassen, wer denn?

- Na, da der Zar, die Adligen....

- Woher bist du eigentlich, frage ich, hast du die letzten Jahre unterm

Stein verbracht?“

 

Die Frühjahrsoffensive hat begonnen.

Ich versetze meinen Zug in Alarmbereitschaft, wir rücken über eine verminte Chaussee etwa zwanzig Kilometer vor.

Direkt an der Straße, an einem Kilometerpfahl, ragen die Schornsteine eines von den Deutschen abgebrannten Dorfes in die Luft. Ich entdecke dort mehrere

unbewohnte Erdhütten und quartiere meine erschöpften Männer hier ein. Ich selbst steige in ein vorbeifahrendes Auto, das zum Glück angehalten hat, und brause los, um den Armeestab einzuholen.

Nach ungefähr vierzig Kilometern lasse ich den Anderthalbtonner anhalten, weil ich erfahren habe, dass sich der Stab hinter dem Dorf Neu-Dugino befindet, zu dem man durch die Schlucht, die unsere Straße schneidet, gelangt.

 

Es ist bereits 15 Uhr. Ich gehe ein Stück einen Feldweg entlang und beginne den Abstieg in die von Gebüschen gesäumte Schlucht, als nach zehn Schritten eine Kugel an meinem Ohr vorbeipfeift. Ich ducke mich und fange an, zu laufen. Der nächste Schuss streift beinahe meine Hand. Sofort werfe ich mich in den schlammgefüllten Graben neben dem Weg. Die nächste Kugel geht über meinen Kopf hinweg, ich beginne zu robben. Nach fünfzig Metern macht der Weg eine Biegung und geht wieder bergan. Ich robbe noch zehn Meter und stehe wieder auf. Ich befinde mich schon nicht mehr im Sichtfeld der Schützen, der Knick und das Gebüsch verdecken mich. Ich ziehe meinen Nagan und laufe, was ich kann. Keine Schüsse mehr.

 

Am Wegrand liegt ein totes Kind, Nase und Ohren abgeschnitten, im dreihundert Meter entfernten Dorf scharen sich Offiziere und Generäle um drei Autos. Rechts vom Weg glimmt noch der Stall der Kolchose, das Vorgefallene erschüttert mich schwer.

Die Offiziere sind vom Frontstab gekommen und verfassen den Bericht über das Verbrechen der deutschen Okkupanten. Auf dem Rückzug trieben die Deutschen alle alten Männer und Frauen, Mädchen und Kinder zusammen, sperrten sie in den Stall, übergossen diesen mit Benzin und zündeten ihn an.

Die ganze Bevölkerung des Dorfes verbrannte.

 

Ich stehe auf dem Feldweg und beobachte, wie die Soldaten aus dem noch qualmenden Haufen schwarzer Balken und Asche die verkohlten Leichen von Kindern, von Mädchen, von Alten heraustragen, durch meinen Kopf schwirrt die Phrase 'Tod den deutschen Okkupanten!'.

Wie konnten sie so etwas tun? Das sind doch keine Menschen! Wir siegen, und dann finden wir sie. Sie dürfen nicht am Leben bleiben.

 

Und überall um uns herum, auf dem gesamten Weg, vor dem Fond schwarzer Pumpenschwengel, flimmerten die weißen Rohre und Schornsteine der verbrannten Dörfer und Städte. Jeden Abend diskutierten meine Telefonisten, wie sie sich nach dem Sieg an den Deutschen rächen werden. Ich betrachtete das als selbstverständlich. Gericht, Erschießung, Galgen, auf jede Weise, auf jede Art, nur nicht auf die, die sich dann anderthalb Jahre später in Ostpreußen wirklich ereignen sollte.

Nicht im Bewusstsein, nicht im Unbewussten der Menschen, mit denen ich kämpfte, die ich im Jahre 1943 liebte, war das aufzufinden, was 1945 passierte.

Aber warum entwickelte es sich, woher kam es?

 

Ich stehe vor der rauchenden Asche, schaue auf das grausige Bild, und auf den Weg treten auf einmal die Frauen und Mädchen, die weglaufen und sich in den umliegenden Wäldern verstecken konnten, und in mir erwacht ein Gedanke, der für immer in mir überdauert hat: wie schön sie sind!

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Wir marschieren über die Minsker Chaussee nach Westen, und über den Seitenstreifen marschieren unsere Leute, die befreit wurden, nach Osten, nach Hause, und mein Herz schlägt vor Freude, vor neuen Gedanken - in welch einem wunderbaren Land lebe ich, und mein optimistischer, papierener, formelhafter Patriotismus entwickelt sich ganz organisch zur Hauptsubstanz meines Lebens. Unglücklicherweise hatte ich damals noch nicht verstanden,

dass es keinen Krieg ohne Bestialität gibt, die Quälerei unschuldiger Menschen in den Folterkammern der Lubjanka und den Gulags hatte ich vergessen.