Kapitel 9

Wie ich verloren ging

Der Bleistift in meinen Zähnen zittert - ach, was war passiert! Im Kino nennt
man so etwas eine „Tragödie“, aber für mich war es noch schlimmer.

Wir kehrten aus Paris zurück an den Strand, und von der Fahrt war ich noch
etwas benommen. Ich musste mich erst einmal bewegen, sauste zwischen
den Umkleidekabinen umher, sprang über die sonnenbadenden Damen,
beschnüffelte die Kinder, die ich kannte - wunderbar, ich bellte vor Freude.
Zum Teufel mit dem Zoo, willkommen Hundefreiheit!

Und dann... bin ich irgendwo gelandet. Ich wollte zurück zum Park, huschte

in einen grünbewachsenen Weg, fand mich in einem Gemüsebeet, kämpfte

mit einem Paar alter Stiefel, lief auf ein Feld, von da auf die Chaussee -
alles vergeblich. Verloren hatte ich mich...

Ich setzte mich auf einen Stein und zitterte nur noch, alle Geistesgegenwart
hatte ich verloren. Bis dahin hatte ich sogar nicht gewusst, was Geistesgegenwart überhaupt ist. Ich schnüffelte auf der Chaussee herum: fremde Schuhsohlen, Staub, Gummi, Motoröl...wo war meine Villa? Plötzlich ein Häuschen ganz allein für sich, Kinder an der Pforte, wie Mäuschen einander ähnlich.

Ich lief zurück zum Meer - aber das war ein anderes Meer! Auch der Himmel
war anders, das Ufer leer und kratzig. Alte und Kinder sammelten Austern
von den Felsen, niemand drehte sich nach mir um. Klar, blöde Austern sind
ja auch interessanter als ein obdachloser Foxterrier. Sand flog mir in die
Augen, ein Schilfrohr zischelte irgendeinen Unsinn - natürlich, dem Blödmann
ging’s gut, der war hier großgeworden und hatte sich nicht verlaufen.

Tränen, so groß wie Erbsen, liefen mir übers Gesicht. Aber das Schlimmste
von allem: ich war auch noch nackt!
Das Halsband war zu Hause, und auf dem Halsband stand meine Adresse.
Jedes Mädchen (dem ich es zeigen würde) hätte es lesen und mich nach

Hause bringen können.
Wenn nicht gerade Ebbe gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich
ertränkt...
Anmerkung: Dann wäre ich aber ein großer Dummkopf gewesen, weil ich
ja schließlich wiedergefunden worden bin.

                                       ***

Vor einem gelben Zaun lehnte ich mich an einen Telegraphenmast und

ließ das Köpfchen hängen. Auf einem Gemälde sah ich einmal einen Hund

in dieser Pose, wahrscheinlich auch verlaufen, und die Pose hatte mich sehr beeindruckt.
Und wieder hatte ich alles richtig gemacht. Hinter der Pforte zeigte sich ein
rosa Klecks. Ein Mädchen kam heraus (die sind immer netter als Jungs)

und setzte sich vor mich auf den Weg.
„Na, was ist mit dir, Hündchen?“
Ich schluchzte und hob leicht die rechte Pfote. Das war ohne Worte zu
verstehen.
„Hast du dich verlaufen? Möchtest du mit zu mir? Vielleicht suchen sie dich
schon? Meine Mutter ist ganz lieb, und mit Papa werden wir schon fertig.“

Tja, was tun? Im Wald übernachten? Bin ich ein wildes Kamel? Der Bauch
war leer. Ich ging hinter dem Mädchen her und leckte ihr dankbar die Knie.

Falls sie sich auch einmal verläuft, werde ich sie in jedem Fall nach Hause führen.

„Mama!“ piepste sie, „Mamachen! Hier bringe ich Fifi, sie hat sich verlaufen.
Kann sie so lange bei uns bleiben?“
Ogott! Warum Fifi?! Ich bin Mikki, Mikki!
Die wunderhübschesten Gedanken und Ideen purzeln in meinem Kopf umher,

aber die Menschensprache beherrsche ich nicht...na, was soll’s, wer
sich selbst eine Grube gräbt, fällt auch hinein.

Mama hob das Pince-nez vor die Augen (wahrscheinlich würde sie ohne
nicht sehen, dass ich mich verlaufen habe) und lächelte: „Was für eine Hübsche!

Gib der Kleinen doch ein Brötchen mit Milch. Sie macht einen sehr
anständigen Eindruck. Später sehen wir weiter.“

„Sie macht...“ - er macht, aber nicht sie! Bin doch ein Junge.

Aber schrecklich hungrig war ich, hier galt es, sich zu fügen.

Mit dem Essen habe ich mich nicht beeilt, es sollte mehr danach aussehen,
als erwiese ich ihnen eine Gefälligkeit. Sie bitten mich zu Tisch? Danke, gerne.
Habe alles aufgegessen. Aber, um Himmels Willen, nicht auszudenken, wenn
ich irgendsoein hungriger Straßenköter gewesen wäre.
Dann kam Papa.
Warum er die Nase rümpfte, weiß ich nicht...
„Was ist das denn für ein Hund? Ist das jetzt eine neue Angewohnheit von
dir, Lilly, alle fremden Tiere ins Haus zu holen? Vielleicht hat er die Schwind-
sucht... aber sofort raus mit ihm! Nun?“
Ich? Die Motten?
Das Mädchen fing an zu flennen. Würdevoll schritt ich zur Tür.
Mama schickte jedoch einen strengen Blick Richtung Papa.
Zum Glück war er gut dressiert: schnaubte nur einmal, zuckte mit den

Schultern und ging hinaus auf die Veranda, um seine Zeitung zu lesen.
Na, hast du’s gefressen?

Ich stellte mich vor Mama auf die Hinterbeine, tat zwei drei elegante Tanz-
schritte und sprang über’s Fußbänkchen. Hopp! Vorwärts, einmal rund ums
Zimmer und zurück...
„Mamotschka, wie klug sie ist!“
Sogar noch klüger, als Mensch wäre ich schon lange Professor.
 

                                                     ***

Der neue Papa tut so, als bemerke er mich nicht. Ich halte es mit ihm genauso.
Im Traum habe ich Sina gesehen und aufgebellt vor Freude: sie fütterte mich
mit einem Löffel Mousse au Chocolat und sprach: „Du bist mein ein und alles,
sollte ich dich verlieren, werde ich nie im Leben heiraten“.

Lilly erwachte - im Fenster wurde es schon hell - und steckte ihr

Köpfchen aus dem Bett: „Fifi, was ist denn?“

Nichts. Ich leide nur. Den Katzen ist sowas egal: heute Sina, morgen Lilly.
Ich jedoch bin ein treuer und anhänglicher Hund.

Zweiter Tag ohne Sina.
Zu meinem neuen Mädchen kam ein dicker Junge zu Besuch, ihr Cousin.
Gottseidank haben Hunde keine Cousins.
Er setzte sich rittlings auf mich und erdrückte mich fast. Anschließend wollte
er mich vor das Auto spannen - aber ich habe mich entschieden geweigert!
Hunde? Vor ein Auto?! Dann zog er mich zum Klavier und stieß meine
Pfoten auf die Tasten - da habe ich aber nicht mitgespielt. Aus reiner
Höflichkeit unterließ ich es, ihn zu beißen.

Lillys Mama schätzte mich sehr, und als das Mädchen Suppe verkleckerte,
zeigte sie auf mich: „Nimm dir ein Beispiel an Fifi! Siehst du, wie vorsichtig
sie isst!“

Immer wieder Fifi! Wenn einem irgendwas nicht gefällt, dann sagt man „Fi!“.
Heißt Fi-Fi dann, daß einem etwas doppelt nicht gefällt? Wie sind sie bloß
auf diesen Namen gekommen? Unter dem Schrank fand ich Bauklötze mit
Buchstaben und legte sie aneinander: M-I-k-k-I. Ich zog das Mädchen am
Rock dahin: So, nun lies! Müsste doch klar sein!
Aber sie verstand nichts und rief: „Mama! Fifi kann Kunststücke!“
- „Gut, gib ihr Schokolade“.


Ach wann, wann holt man mich hier ‘raus? Bin sogar zum Rathaus gerannt,
vielleicht hat Sina dort eine Suchanzeige hinterlassen? Nichts dergleichen.
Auf dem Rückweg lag da so ein zottiger Kerl und knurrte: „Rr-rraw! Was
hast du alter Landstreicher hier verloren?“
Ich?! Landstreicher?! Blöder Bauer du! Glück für dich, dass ich so gut erzogen

bin und mich nicht mit jedem dahergelaufenen Köter zu fetzen pflege...

                                       ***

„Eine Last ist mir von den Schultern gefallen...“
Wohin, keine Ahnung - aber auf jeden Fall bin ich wiedergefunden!

Lilly spazierte mit mir zum Strand.
Plötzlich, weiter hinten: ein lila-weißes Kleidchen, ein gestreifter Ball und
blonde Löckchen. Sina!!
Ach, wie wir uns abgeküßt, wie wir gekreischt, wie wir geweint haben!

Lilly kam leise herbei und fragte: „Fifi gehört dir?“
„Ja, aber das ist nicht Fifi, sondern Mikki!“
„Ach Mikki, entschuldige, das wusste ich nicht. Darf ich sie dir zurückgeben?
Sie hat sich verlaufen und ich habe sie aufgenommen“.
Aber in ihren Augen sah man ebenfalls eine „Tragödie“.
Sina tröstete sie, hat sich „ganz-ganz-ganz“ doll bei ihr bedankt und versprach,

sie mit mir zu besuchen.

Selbstverständlich habe ich mich auf zwei Beinen vor Lilly aufgebaut und die
Pfoten verschränkt: Danke! Vielen-vielen-vielen Dank...

Ging hinter Sina her, noch ganz durcheinander, und wich keinen Schritt von
ihren dünnen, braungebrannten Beinchen.

Mikki