Auszüge Kapitel 19

Urlaub 1946

Am 3. Mai 1946, dienstlich ins österreichische Eisenstadt geschickt, erfahre ich im Armeestab, dass alle meine Hoffnungen auf Demobilisierung eine Wunschvorstellung sind.

 

Eine tiefe Schwermut übermannt mich, unbedingt will ich Eltern und Freunde wiedersehen und den Idiotien des Militärlebens entfliehen, die die Existenz aller Offiziere unserer Besatzungsarmee ausfüllen. Zurückgekehrt zu meiner Einheit, stelle ich einen Antrag auf Urlaub in Moskau.

 

Seit einem halben Jahr schon schicken Oberste und Generäle, die ja alle ihre Geliebten haben, depressive Offiziere in Erholungsurlaub. Sie empfehlen ihnen,

sich in der Heimat mit jungen, alleinstehenden Frauen bekannt zu machen, sich standesamtlich registrieren zu lassen und mitsamt ihrer Ehefrau dann zu ihrer Einheit zurückzukehren.

 

Die Abordnungen und Urlaubsdokumente füllt man für zwei Personen aus.

 

Die Zeilen, in denen Passnummer sowie Vor- und Nachname der zukünftigen Ehefrau eingetragen werden muss, lässt man frei. Auch mir überreicht man zwei Exemplare - ein vollständiges für mich, das andere, für die wahrscheinlich künftige Gattin, blanko, in der Hoffnung, dass wenn ich erst eine Familie gegründet hätte und Kinder da wären, für ewig in der Armee bliebe.

 

Am 4. Mai reise ich aus Nagykanizsa ab, am 10. klingele ich an unserer Haustür
Haustür am Pokrowski-Boulevard.

 

Über unser Vorkriegstelefon versuche ich sofort, meine Vorkriegsfreunde ausfindig zu machen. Lena Sonina finde ich sofort, und sie führt mich direkt zu meinem früheren Freund Vitali Rubin.

 

Vitali, abgemagert, mit spitzen Gesichtszügen, liegt im Bett, partiell gelähmt.

Ich bin erschrocken, die Freundschaft mit ihm war die lichteste Periode meines Lebens vor dem Kriege. Er allerdings äußert keine Freude über mein Kommen, verhält sich höflich, aber gleichgültig.

Er fragt nach den Kämpfen.

Der Krieg ist doch schon vorbei.

 

Ich habe ihn überlebt, bin voller Optimismus und glaube fest an den schnellen Aufstieg unseres Landes, daran, dass Stalin Fehler der letzten Jahre korrigiert, dass nach dem Sieg alle Ungerechtigkeiten beseitigt werden. Die Unschuldigen werden aus den Lagern heimkehren. Unser Land hat den hohen Lebensstandard Europas kennengelernt und wird nicht anders können, diesem Weg zu folgen, gemeinsam mit Amerika, dem man in unverbrüchlicher Freundschaft verbunden ist.

Ich rede, Lena lächelt, das Gesicht Vitalis bleibt ausdruckslos. Ich glaube, er hegte in seinem Inneren nichts außer Verachtung für mich, und sooft ich ihn dann anrufe, lehnt er einen Besuch von mir ab und behauptet, er sei beschäftigt....

 

Mir hingegen ist er keinesfalls gleichgültig, dieser furchtlose, aufrechte, talentierte Mensch, der so schnell bereit war, sich neuen Ideen und einem anderen Leben hinzugeben...

 

«Забыть или ожесточиться?

Как это все могло случиться?

Как боль сердечную унять

от невозможности понять,

что ничего не повторится?

На тумбочке гора лекарств.

Лицо воздушное, худое,

и полон ненависти взгляд.

А я любому слову рад, –

вернулся в самое святое

из всех возможных государств –

в послевоенный край советский,

в блаженный год сорок шестой.

О, праздник русский, садик детский!

Неповторим и сложен путь

из мифа в лагерную жуть

или в тупик салонно-светский,

где, словно в храм, вошли в застой:

поэт-мечтатель, век-мучитель,

числитель – миг, военный китель

и портупея под чертой.

Тянулся разговор пустой,

запас воспоминаний таял...

Что делать?

Жертва и герой,

он свято ненавидел строй,

в котором я души не чаял...»

 

ist er verbittert, hat er vergessen

wie nur konnte das alles geschehn

wie nur beruhigen des herzens pressen

aus der unmöglichkeit zu verstehn

dass nichts mehr so wird wie einst?

im nachtschrank des kummers labsal

das antlitz gläsern und hager

und voller hass der blick.

ich harre des wortes in qual

heimgekehrt in den über allen

erhabensten, heiligen staat -

ins sowjetische land, nach dem krieg,

im glückseligen jahr sechsundvierzig.

ein russisches fest, ein garten für kinder!

ein einzigartiger weg, und gewunden

vom mythos ins dunkle des lagers

oder aufs abstellgleis der elite,

den wie einen dom betraten, in agonie:

der poetische träumer, der gegenwart schinder,

der zähler von augenblicken, uniformen

und hängenden koppeln.

leeres gerede zieht sich hin

es schmilzt der erinnerungen sinn...

was tun?

als opfer und held

hasst er erhaben die welt

die mir gefällt...

 

Verstehen konnte ich ihn hingegen nicht, und dies umso mehr, als meine Freunde, die erst kürzlich verstorben sind, so dachten wie ich. Es handelte sich um Juri Bessmertny, der später einer der begabtesten Mediävisten werden sollte, Professor und Doktor der Wissenschaften, sowie um Lew Sirotenko, der bald darauf seine Dissertation an der Shukowski-Akademie verteidigte.

Der Krieg rechtfertigt alles“.

Rechtfertigen? Alles?

 

Bericht Lena Soninas (1946, für den genauen Wortlaut bürge ich nicht)

 

Im Oktober 1941 schreibt Vitali sich bei der Moskauer Bürgerwehr ein. Vor Jelnja wird ihre Division eingekreist und vernichtet. In Folge einer schweren Kontusion verliert er das Bewusstsein und stellt beim Aufwachen fest, dass er der einzige Überlebende ist. Rund um das Gebüsch, in dem er gelegen hat, befinden sich große Bombenkrater. Unter den vielen herumliegenden Körpern der getöteten Volkswehrmänner entdeckt er einen schwerverletzten General, den Divisionskommandeur.

Der General öffnet die Augen, er zieht ihn in den nächsten Bombentrichter und verbindet ihn, so gut er kann. Der General kommt zu sich und schreibt seine Adresse auf. Die Deutschen entdecken sie nicht, und nach drei Tagen, in einem Gegenangriff, erreichen unsere Infanteristen das Schlachtfeld. Vitali kriecht aus seinem Versteck. Den General schicken sie im Flugzeug nach Moskau, ihn selbst erst zum Smersch, um sich zu rechtfertigen, warum er am Leben geblieben war, und dann, ohne sich Gewissheit verschafft zu haben, in ein Konzentrationslager bei Tula.

Die vielen Pud schweren Kohlensäcke zu schleppen hält sein Rückgrat nicht aus. Der von ihm gerettete General hat unterdessen, aus dem Lazarett entlassen, die Suche nach ihm aufgenommen. Er findet einen Sterbenden in einem Lagerhospital und schafft ihn in seinem Flugzeug nach Hause. Vitali überlebt, Kopf und Arme sind in Ordnung, aber die Beine bleiben auf Grund des schweren Wirbelsäulentraumas gelähmt. In den drei Kriegsjahren beendet er ein Studium an der Historischen Fakultät der MGU, lernt mehrere Sprachen, darunter auch Chinesisch, das er perfekt spricht, und verteidigt seine Doktordissertation.

 

Nach einer erfolgreichen Operation einige Jahre später kann er seine Beine wieder benutzen, er heiratet. Er beschäftigt sich mit der Geschichte Chinas und fördert zu Tage, dass sich im Mittelalter dort mehrere totalitäre Staaten herausbildeten, deren innere Ordnung in verblüffender Weise sowohl an das hitlersche, wie auch an das stalinsche Imperium erinnern. Er veröffentlicht darüber mehrere Aufsätze in Fachzeitschriften der Akademie der Wissenschaften. Seine Ergebnisse passen allerdings schlecht in die Konzepte der offiziösen Deutungen und er wird einer der Gründer der Dissidentenbewegung.

Sein gesamtes Leben verdient höchste Achtung. Leider starb er in den 70er Jahren bei einem Autounfall.

Er war mein Freund, ich habe aufmerksam jeden seiner Schritte verfolgt und bin ihm zweifellos in Vielem verpflichtet.

 

.....

Am nächsten Tag stehe ich mit Viktor Urin in der langen Schlange vor der 'Cocktail-Hall'. Am Eingang ein Portier mit einer Tafel: 'Keine freien Plätze'. Wir stehen eine halbe Stunde, eine ganze.

Vielleicht gehen wir woanders hin?“

 

Plötzlich tritt ein junger Mann an den Portier heran, schwarze Haare, hager, mit gestärktem Kragen und eleganter Krawatte, imposant und ein wenig frech.

Viktor packt ihn am Ärmel, stellt ihn mir mit den Worten vor: „Das ist der Dichter Michail Werschinin“ und erklärt ihm, dass ich sein Genosse sei, ein Leutnant.

Der Portier grinst, nimmt die Tafel ab und lässt uns drei außer der Reihe ein.

Im vollbesetzten Saal hat Mischa Werschinin einen eigenen, ständig für ihn reservierten Tisch.

 

Der Kellner kommt sogleich und nimmt die Bestellungen auf, während Mischa ein Buch aus der Tasche zieht und es mir hinreicht. Ein neuer Gedichtband von ihm, gerade erst in Jugoslawien gedruckt, und jedes Gedicht ist einem berühmten Poeten gewidmet: Blok, Puschkin, Lermontow, Verlaine, Shakespeare, Josip Broz Tito und vielen, vielen anderen.

Ich frage: „Und was macht Tito hier?“

 

Daraufhin erzählt Mischa, dass er die Partisanen besucht und den zukünftigen Marschall dort persönlich kennengelernt habe, der ihn wegen seiner furchtlosen Reportagen sehr schätzte und ihn selbst und Marschall Rybalko mit dem höchsten Orden des jungen Jugoslawiens auszeichnete, und zwar als einzige Russen.

Als ich sechs Wochen später erneut nach Moskau komme, und diesmal für immer, stellt sich heraus, dass Mischa der engste Freund Wolodja Pospelows ist und dieser erzählt mir begeistert, wie geschickt Mischa Werschinin es angestellt hätte, einen seiner Freunde am Institut unterzubringen.

 

Der Notendurchschnitt reichte bei diesem eigentlich nicht aus, aber Mischa rief den Direktor an, angeblich im Auftrage des Außenministers Molotow, und tat so, als telefoniere er aus dessem Vorzimmer, und so haben sie ihn doch zugelassen.

Das ist nicht nach meinem Geschmack. Die Begeisterung Pospelows ist mir genauso unangenehm wie die Lüge Werschinins und die Maniriertheit Urins.

Mit wem habe ich mich da befreundet?

 

Diese Frage schwirrt auch noch sechs Wochen später durch meinen Kopf, als ich einen meiner besten Freunde aus der Vorkriegszeit wiedersehe, Rewol Bunin, der während des Krieges am Konservatorium studierte und die Klasse Schostakowitschs blendend abschloss.

 

Er bemüht sich, mich in den Kreis seiner Kollegen zu ziehen, alles junge Komponisten, doch bald zeigt sich, dass ich da nicht hineinpasse. Schon mein erster Bericht über meine Kriegserlebnisse sowie meine romantischen Prognosen über die zukünftige Entwicklung der UdSSR führen zu einer vollständigen Entfremdung.

 

Sie sind eingeschüchtert durch das Mat, das bei mir unwillkürlich immer wieder durchbricht, während ich ihren Slang befremdlich und unangenehm finde. Vielleicht bin ich im Unrecht? Warum bin ich unter ihnen ein Fremdkörper? Alle sind sehr talentiert. Ich empfinde das bittere Gefühl, ungenügend zu sein.

In Gegenwart von Studenten wie Jura oder Erna fühle ich mich wohl, mit bereits tätigen jungen Dichtern oder Komponisten habe ich Probleme und fühle mich unglaublich minderwertig.

 

Wie einfach ist es im Krieg gewesen, und wie schwierig gestaltet sich das 'Zivilleben', von dem ich fünf Jahre lang geträumt habe.

 

Mischa Werschinin

Als Tito nach Moskau kommt, ist beim Empfang im Kreml seine erste Frage an Stalin: „Warum ist denn der Dichter Werschinin nicht hier?“

Sofort holt man Mischa mit einem Auto der Regierung ab und setzt ihn beim Bankett direkt neben die beiden Josefs.

Als Mao kommt, sitzt Mischa bereits als Stammgast der Staatsempfänge inmitten der stalinschen Elite und neben dem Komponisten Muradeli, der bemerkt: „Wenn mir die Worte gehorchten, würde ich sofort eine Hymne verfassen, auf das Treffen der großen Führer Mao und Stalin.“

Mischa greift sich eine Serviette, notiert die benötigten Wörter und schon am nächsten Tag singt das ganze Land die neue Hymne 'Moskau - Peking“.

Vier Jahre später, als Alescha Stejman eines seiner Monumente am Wolga-Moskwa-Kanal errichtet, wendet sich ein politischer Häftling an ihn und bittet, mich zu grüßen. Mischa.

Das ist alles.

Mehr weiß ich von Mischa Werschinin nicht... Und nach zwanzig Tagen ist mein Urlaub beendet.