Auszüge Kapitel 18

Im befreiten Europa

....

Eine Pontonbrücke über die Donau. Immer noch Bratislava, aber schon Ungarn. Wir kreuzen die Chaussee Wien - Budapest. Noch eine Zeitlang Asphalt, dann plötzlich feiner Schotter, Schlaglöcher, Schlamm.

Auch die Architektur ändert sich.

Rechts kleine Häuschen, die an unsere ukrainischen erinnern: weiße, strohgedeckte Hütten, mit festgestampfter Erde als Fußboden, auf der linken Seite Gebäude mit venezianisch anmutenden, gewölbten Loggien.

Es ist heiß, wir haben Durst und halten an.

 

Ein eisernes Zäunchen, die Pforte verschlossen. Im Hof Hühner, Schweine, Hunde. Wir klopfen.

Auf der Schwelle zeigt sich kurz eine Frau, ist völlig verschreckt und schlägt die Tür gleich wieder zu. Fünfzehn Minuten vergehen.

Aus dem Haus hört man Stimmengeschrei und Weinen. Ein Mädchen mit Zöpfen rennt an uns vorbei. Noch fünf Minuten - und es ist völlig ruhig geworden, die ganze Familie muss sich irgendwo versteckt haben. Das Haus ist leer, die Tür verschlossen.

 

Wir steigen wieder in den Jeep. Meine Mitreisenden - Major Krainow, Hauptmann Samochlebow, Oberfeldwebel Lebedew - sind geknickt und wissen nicht, was sie davon halten sollen.

Es wird abend. Wir beschließen, im nächsten Dorf zu übernachten, halten am ersten Haus, klopfen und treten ein.

 

Durcheinander, heulen, Frauen rennen davon. Eine greift zum Bügeleisen, eine bleibt stehen, erblasst und schaut uns ungläubig an. Ein Mann tritt herein, um die fünfzig, verbeugt sich äußerst tief und lächelt, aber sowie er auf die Frauen blickt, bekommt er ein böses Gesicht.

- „Verstehen Sie Russisch?“ frage ich ihn.

- „Ja, ja, das russische Volk ist gut“, antwortet er, „vor dreißig Jahren war ich drei Jahre lang in Gefangenschaft in Russland, in Odessa und im Ural.“

Er hat ganz verliebte Augen, es fehlt nur wenig, dass er mich abküsst.

Ich trete einen Schritt zurück.

- „Die Russen, ja, ein starkes, gutes Volk“, erklärt er, „ich war selbst...“

- „Nun, wenn Sie die Russen so lieben, haben Sie doch bestimmt nichts

dagegen, wenn wir hier übernachten, vielleicht haben sie ein eigenes Zimmer

für uns?“

Er lächelt, krümmt sich und grimassiert.

- „Russen sind schok-schok (viele-viele)..“ bringt er heraus, „und Magyaren

gibts ebenfalls schok-schok. Ich bin ein armer Ungar, Proletarier. Wir

haben hier im Ort aber auch einen Bourgeois, der hat ein großes Haus und

Bett für russische Offiziere.“

 

Er guckt aus der Tür und zeigt mit dem Finger auf seinen Nachbarn. Das Haus

scheint tatsächlich größer zu sein.

- „Na, beim Bourgeois ist es wahrscheinlich besser...“ flüstert mir Hauptmann

Samochlebow zu.

Wir beschließen, dort zu übernachten. Klopfen an die Tür, ans Fenster. Klopfen zehn Minuten. Endlich zeigt sich der Bourgeois, in Hut und langen Unterhosen.

- „Russische Offiziere sind sehr gute Menschen“, murmelt er, „ich war mal in

Russland, in Odessa, schön da.“

- „Ach, auch in Gefangenschaft?“ bemerke ich.

Der Ungar nickt fünfmal, bückt sich dann unerwartet und versucht, mir den Staub von den Stiefeln zu wischen.

- „Wir müssen irgendwo übernachten“, sage ich, „wir brauchen ein Zimmer,

Betten.“

- „Ach so...“, sagt der Ungar, und auf seinem Gesicht erscheinen tausend

Fältchen, und in jedem ein Lächeln. „Natürlich, natürlich...“ Er fängt an zu

schlottern und fasst mich an die Schulter, kommt dicht an mich heran und

flüstert mir, mich dabei anspuckend, ins Ohr: „Ich bin ein Genosse, kein

Bourgeois, ich bin auch ein Genosse, ich habe eine große Familie - schok-

schok, aber da drüben, das ist ein Bourgeois, der hat ein Haus, Betten, ein

Töchterchen...“

- „So, der Bourgeois wohnt also da drüben?“

- „Ja genau, Obstler, hübsche Tochter, Bourgeois...“, brummt der 'Genosse'.

 

Auf der Schwelle des bourgeoisen Hauses sitzt ein Ungar in Unterhose.

- „Genosse“, sage ich, „Sie sind der Bourgeois...?“

Er verbeugt sich und versucht etwas zu erklären, dabei mit dem Finger auf das Haus seines Nachbarn zeigend. „Bur-ghu-a...“ bringt er silbenweise hervor.

- „Merkwürdige Leute“, merkt Major Krainow an, „mir scheint, die können sich

gegenseitig nicht leiden, einer scheißt den anderen an...“

 

Natürlich ist uns der Gedanke, im Freien zu übernachten, nicht sehr sympathisch, aber jetzt hat schon unsere Neugier Oberhand gewonnen: wie wohnt denn nun eigentlich ein ungarischer Bourgeois? Über wieviele Schweine, Hühner und Hunde verfügt er, wieviel Obstler und Töchterchen hat er anzubieten?

Man lässt uns allerdings in kein einziges Haus.

Das ganze Dorf ist mittlerweile wach.

Die Männer machen einen Diener, die Frauen zetern, die Kinder plärren und die Hunde bellen sich die Seele aus dem Leib. Die höflichen Leute geben uns Hinweise, wie wir den Bourgeois finden könnten.

Es ist mittlerweile ganz dunkel.

Wir suchen uns die verlässlichsten 'Genossen' heraus und setzen sie fast mit Gewalt in unseren Jeep: „So, jetzt bringt ihr uns zum Bourgeois!“

Eins, zwei, drei, vier Kilometer. Durch zwei andere Dörfer, es ist stockdunkel, man kann nichts mehr erkennen. Endlich bittet uns einer, das Auto anzuhalten. Wir stehen vor einem großen, gemauerten Haus.

- „Bourgeois!“ hebt der Ungar den Zeigefinger, „sehr gut!“

 

Schweinehunde!“ sagt Hauptmann Samochlebow, „guck dir an, wohin sie uns

geführt haben!“

Wir stehen vor einem riesigen, völlig verwahrlosten und halbzerstörten Pferdestall.

Verschimmeltes Heu, Dung, Wind, Sterne, 28. Juni 1945. Ungarn.

 

22. Juli 1945

 

.......

Nach Wien führten mich drei Dienstreisen. Ordonnanz und Übersetzer war der neunzehnjährige Sascha Kurmanow.

Er stammte aus der smolensker Oblast und wurde 1943 zusammen mit seiner Mutter zur landwirtschaftlichen Arbeit nach Schlesien verschickt, wo er drei Jahre als Knecht und Bauer arbeitete und die Sprache erlernte. Nach Ende des Krieges und seiner Befreiuung zog man ihn in meine 31. Armee ein, die dann der 1. Ukrainischen Front unterstellt wurde, damals noch von Marschall Konew

geführt, und deren Stab sich in Wien befand, in der sowjetischen Besatzungszone.

 

So reisen wir also im November 1945 das erste Mal nach Wien, für eine Woche. In meiner Division, in Ungarn, in Nagykanizsa gab es nur Einzelrationen: Trockenbrot, amerikanisches Dosenfleisch, Kombifett, Grütze, Bohnen, Zucker. Wir melden uns also in der Kommandantur an und man schickt uns ins Offiziersgästehaus. Betten und Bettwäsche sind vorhanden, aber weder Küche noch Herd, um sich Suppe oder Grütze zu kochen, gar nicht zu reden von Teewasser.

So empfahl uns der Chef des Gästehauses, uns in einer Privatwohnung einzuquartieren.

Das war natürlich Glückssache, aber damals geschahen manchmal noch Wunder. Versuchen Sie doch heute einmal, in irgendeiner moskauer oder petersburger Wohnung unterzukommen. Doch zu jener Zeit waren die Wiener am Verhungern. Die sich auf den Bürgersteigen für einen Kanten Brot Anbietenden waren keine Prostituierten, sondern Studentinnen und Schauspielerinnen, Damen aus den besten Familien, und die Menschen nicht nur in unserer, auch in der amerikanischen und englischen Zone waren bereit, russischen Offizieren Zimmern in ihren Wohnungen für Tage, Wochen oder Monate zu überlassen - für ein paar Dosen Schweinefleisch oder ein Kilo Dauerbrot.

 

So beschlossen auch wir, uns für einen Teil unserer Rationen in einem österreichischem Haus einzumieten.

Zwei Stunden lang finden wir nichts. Wir gehen vom Stadtzentrum bis zur englischen Zone, dann durch Außenbezirke wieder zurück. Sascha führt die Gespräche, aber die Türen schlagen vor unseren Nasen zu. Es wird Abend. Wir haben uns schon damit abgefunden, in unser Gästehaus zurückzukehren, als uns eine Frau in einem Landhaus erklärt, sie betriebe zwar kein Hotel, wohl aber die Nachbarn nebenan, dabei auf ein kleines Holzhaus zeigend.

 

Ein Zaun mit eisernen Gittern. Wir klingeln. Eine ältere Dame erscheint, lächelt und sagt: „Добро пожаловать!“

Wir folgen ihr und werden von ihrem Mann begrüßt. Es ist selbstverständlich kein Hotel, das Häuschen ist so groß wie eine zweistöckige, moskauer Datscha.

Wir erhalten die beiden Zimmer unten, das Ehepaar geht nach oben.

 

Es stellt sich heraus, dass wir in der englischen Besatzungszone gelandet sind.

In fünf Minuten sind wir uns einig. Wir geben ihnen unser sämtliches Trockenbrot, sie uns: zwei Betten, Frühstück und Abendbrot, und zu diesem setzen wir uns gemeinsam zu Tisch: es gibt Borschtsch mit Zwiebeln. Die alten Leute necken sich gegenseitig, ich fühle mich wohl, hier ist so etwas wie ein Zuhause, etwas längst Vergessenes.

 

Die beiden sind eine Art Emigranten. Der Großvater des Opas und die Großmutter der Oma kamen schon Anfang des 19. Jahrhunderts aus Russland nach Wien.

Meine Enkel sind alle Nazis“, klagt die Enkelin der russischen Ausgewanderten.

Es ist 18 Uhr und ich frage, was es hier Interessantes gebe, wie man den Abend verbringen könne. Beide empfehlen uns, das Theater 'An der Wien' zu besuchen, das einzige, das noch spiele, das Ensemble der Wiener Oper trete dort auf. „Schaffen wir das?“ - „Aber sicher doch, die Straßenbahnhaltestelle Schönbrunn befindet sich zweihundert Meter entfernt.“

 

Auf unserer Suche nach einem Nachtlager hatten wir das kaiserliche Schloss wohl übersehen.

Um 19 Uhr kaufen wir die Karten, sie geben keine Oper, sondern das Ballett

'Coppelia' von Delibes. Tänzerinnen und Tänzer schwanken leicht, vor Hunger.

Aber es gibt Dekorationen, Musik, Spiel, Mystik, E.T.A. Hoffmann und einen vollen Saal.

Amerikaner, Engländer und Franzosen sitzen da mit jungen Österreicherinnen, und unsere Offiziere auch.

 

Am nächsten Tag will ich die Albertina besuchen, aber sie ist geschlossen, ich gehe stattdessen in das Naturhistorische Museum.

 

Wien begeistert mich mehr und mehr. Beide Museen sind in einem barocken, der Heldenplatz zwischen ihnen in einem leidenschaftlichen Stil ausgeführt, und dann der unglaubliche Stephansdom. Dahinter der Schwarzmarkt, auf dem jeder alles verkauft und alte Aristokraten, unter Platanen schlendernd, versuchen, abscheulich schmeckende österreichische Zigaretten zu verhökern.

Und schon ist alles vorbei.

Wir trampen zurück in die ungarische Stadt Nagykanizsa.

Nicht weit vom Balaton.

 

В моем понятье это сплошь столы, /

как до войны, положим, на Арбате./

Но, вероятно, врет мое понятье. /

Здесь продается все из-под полы /

и существует в виде априорном. /

Недаром этот рынок назван черным./

Здесь познает превратностей науку/

и социолог, и карманный вор./

Здесь академик разжимает руку, /

в которой ржавый бритвенный прибор. /

Здесь продают короны и жилеты /

и короли, и нищие валеты./

Шутя, меняет этот черный клуб/

конец войны на модные штиблеты/

табак – на время /

и любовь – на суп.

 

nichts als tische, so wie damals

vor dem krieg, vielleicht auf dem arbat

alles schwarz hier auf dem hexensabbat

aber sicher lüge ich mir in den hals.

auf dem markt, dämonisch schwarz wie ein maori

hinterm klapptisch gibt es alles a priori

und verdunkelt sich der bildung sinn und zweck:

einst soziologe, jetzt auch taschendieb -

in des professors hand verblieb

ein rostiges rasierbesteck.

verscherbeln tut man kronen wie auch bauchspeck

herz- und kreuzkönig mit den ganzen luschen

und scherzend tauscht die schwarze truppe

den friedensschluss in zeitgemäße puschen

tabak für zeit

und sex für suppe