September 1944 - Februar 1945
Am 19. Januar 1945 erhalte ich über Funk den Befehl, meine Position zu räumen, den Zug zur Siedlung T. zu verlegen und dort auf weitere Anweisungen zu warten.
Vor drei Monaten überschritten wir die Grenze zu Ostpreußen.
Eine der Divisionen unserer Armee schlug eine Bresche in den Verteidigungsriegel an der Grenze.
Die Pioniere schütteten einen Panzergraben zu und beseitigten fünf Stachel-drahtriegel sowie einen weiteren Graben oder einen Wall. Auf diese Weise entstand in der Verteidigung ein fünfzehn Meter breites Loch, hinter dem ein Feldweg von Polen nach Ostpreußen verlief.
Nach hundert Metern stößt er auf eine Straße, auf beiden Seiten von Wald eingefasst, nach mehreren Kilometern erreicht man die Abzweigung zum Gutshof Gollubien, ein mit roten Ziegeln bedecktes zweistöckiges Gebäude, von allen möglichen Wirtschaftsgebäuden umgeben.
Im Innern hängen Teppiche und Gobelins aus dem 17. Jahrhundert an den Wänden, in einem der Kabinette ein Gemälde Rokotows, ihm gegenüber, wie im ganzen Haus, eine Unmenge Familienfotografien, Daguerreotypien vom Beginn des Jahrhunderts - Generäle und Offiziere im Kreise festlich gekleideter Damen und Kinder - dann Offiziere mit Pickelhauben aus dem 1. Weltkrieg und schließlich ganz aktuelle Fotos: Jungs mit Hakenkreuzarmbinden, zusammen mit ihren Schwestern, offensichtlich Studentinnen, ganz zuletzt das Abbild eines jungen SS-Obersturmführers, verschollen in Russland - die letzte Generation dieser traditionsreichen, kriegerischen, aristokratischen Familie.
Zwischen den Fotografien hängen Konterfeis preußischer Barone und erneut zwei Ölgemälde, noch ein Rokotow und ein Borowinkowski, erbeutete Portraitbilder russischer Generäle, ihrer Frauen und Kinder.
Unsere vor uns dieses 'Museum' besuchenden Panzerfahrer und Infanteristen verhielten sich dem ehemaligen Jagdhaus preußischer Könige gegenüber ganz und gar nicht gleichgültig: sämtliche Spiegel in vergoldeten Rahmen wurden von ihnen zerschlagen, Federbetten und Kopfkissen aufgeschlitzt, so dass Fußboden und Möbel von einer Flaum- und Federschicht bedeckt sind. Der Gobelin im Korridor reproduzierte das Rubens-Gemälde 'Geburt der Venus'.
Irgendwer, seine Rolle als Eroberer vollziehend, schrieb quer über ihn, mit roter Ölfarbe, das populäre Wort mit drei Buchstaben.
Der Gobelin, anderthalb Meter breit und mit den drei Buchstaben, erinnert mich an meine moskauer Vorkriegsbegeisterung für Kunst. Ich rolle ihn zusammen und verstaue ihn in meinem deutschen Beutekoffer, der mir bereits drei Monate als Kopfkissen dient.
Ich schaue aus dem Fenster. Der Herrensitz mit seinem Eingangshof und den Wirtschaftsgebäuden aus Backstein ist von einem gusseisernen Zaun umgeben, und hinter diesem, auf grünen Weiden, laufen, so weit das Auge reicht, Kühe herum, wimmernd, muhend, eine riesige Herde Schwarzbunter.
Eine Woche ist vergangen seit die Deutschen, Soldaten wie Zivilbevölkerung, kampflos geflüchtet sind. Die Kühe hat niemand gemolken.
Angeschwollene Euter, Schmerzen, Stöhnen. Zwei meiner Telefonistinnen, vom Dorf, melken mehrere Eimer voll, aber die Milch ist bitter, wir können sie nicht trinken. Dann plötzlich ein Höllenspektakel auf dem Hof. Ein Fernmeldesoldat hat den Hühnerstall entdeckt, öffnet das Gitterchen und hunderte hungriger Legehennen laufen auf den Hof. Meine Soldaten scheinen durchzudrehen. Wie die Wahnsinnigen rennen und springen sie umher, fangen Hühner, drehen ihnen die Hälse um. Jemand schleppt einen Kessel an. Rupfen und ausnehmen.
Mehr als hundert Hühnchen liegen schon im Kessel, und mein Zug hat 45 Leute. Sie kochen Bouillon und fressen, bis sie sich vor Erschöpfung irgendwo hinschmeißen und einschlafen. Das ist unser erster Abend in Ostpreußen.
Zwei Stunden später geht es allen übel. Aber aufwachend, springen sie sofort auf und rennen zum Hühnerstall.
Morgens erscheint auf einem LKW ein Melder vom Kompaniestab und überreicht uns neue Landkarten.
Wenige Kilometer von der Grenze, also von uns entfernt, liegt die reiche ostpreußische Stadt Goldap.
Am Abend zuvor kreisten unsere Truppen sie ein, aber weder Zivilisten noch Soldaten verblieben in der Stadt, sie ist leer, und als unsere Regimenter sie betreten, verlieren Generäle und Offiziere vollkommen die Kontrolle über ihre Truppen. Infanteristen und Panzerfahrer laufen auseinander und stürmen Wohnungen und Geschäfte. Vitrinen werden zerschlagen, der Inhalt aufs Trottoir gekippt.
Tausende Paar Schuhe, Geschirr, Radios, Esservices, alle möglichen Haushalts- und Apothekerwaren - alles liegt durcheinander.
Aus den Fenstern der Wohnungen fliegen Kleidungsstücke, Wäsche, Kopfkissen und Federbetten, Gemälde, Grammophone und Musikinstrumente. Auf den Straßen entstehen Barrikaden. Genau in diesem Moment beginnt deutsche Artillerie mit ihrem Beschuss. Einige deutsche Reservedivisionen werfen unsere demoralisierten Truppen nahezu blitzartig aus der Stadt.
Auf Verlangen des Frontstabes war die Einnahme der ersten deutschen Stadt jedoch schon dem Oberkommando mitgeteilt worden. Es blieb nichts anderes übrig, als die Stadt erneut einzunehmen. Die Deutschen schlugen den Angriff zurück, allerdings ohne die Stadt zu besetzen, die so zur quasi neutralen Zone wurde.
Wir laufen zum Stall. Am Tor berichten zwei Soldaten einer selbständigen Artilleriebrigade, dass Goldap bereits dreimal den Besitzer gewechselt habe, aber seit heute morgen unbesetzt sei, die Straße dorthin allerdings beschossen würde. Ach du lieber Himmel. Mit eigenen Augen eine alte, deutsche Stadt anschauen! Sofort setze ich mich ins Auto, mit dem Gefreiten Starikow, der auch im Zivilstand Chauffeur war. Schneller, schneller! Wir hetzen über die Chaussee, links und rechts explodieren Granatwerfergeschosse. Ich ducke mich für alle Fälle, aber schon ist die Gefahrenzone vorbei. Vor uns, genau wie auf den erbeuteteten deutschen Postkarten, zwischen Marmorbrunnen und Denkmälern auf kleinen Plätzen, mit roten Ziegeln gedeckte, spitzdachige Häuschen, mit Wetterfähnchen obendrauf.
Wir halten im Zentrum der nahezu leeren Stadt.
Europa! Sehr interessant!
Aber wir haben uns eigenmächtig von der Truppe entfernt und sollten eigentlich unverzüglich zurück.
Die Türen sämtlicher Wohnungen stehen geöffnet, auf den Betten liegen richtige, mit Federn gefüllte Kopfkissen und überzogene Zudecks, in der Küche Gewürze, in bunten Döschen. In den Speisekammern stehen selbst eingemachtes Kompott, Suppen, verschiedenste Gemüse und das, woran man nicht einmal im Traum zu denken wagt: in verschlossenen Halbliterdosen (wie machen die das ohne Erhitzung?) frische Butter. Dazu selbstgemachte Weine, Liköre und Schnäpse, italienischer Wermuth und Cognac.
Und an der Garderobe: auf Kleiderbügeln hängen neue, zivile Anzüge, Dreiteiler, sogar in verschiedenen Größen. Noch zehn Minuten. Wir können nicht widerstehen, kleiden uns um und posieren wie junge Mädchen vor dem Spiegel: herrje, wie gut wir aussehen!
Jetzt wird's Zeit.
Zügig ziehen wir uns wieder um, schmeißen Kopfkissen, Decken, Federbetten, Uhren und Feuerzeuge aus dem Fenster. Ein Gedanke überkommt mich, ich erinnere mich an Moskau, in dem ich vor einigen Monaten für fünf Tage war.
Die Regale in den Geschäften waren leer, alles gabs nur auf Karten. Wie sich meine Mutter über meine Offiziersration gefreut hatte und die Dose Fett und die beiden Konserven amerikanischen Schweinefleisches, genauso wie über jedes Mittagessen, das ich für die Dauer meines Aufenthaltes in der Offizierskantine erhielt und nach Hause brachte.
Unsere Nachbarn waren halbverhungert.
Warum mir das einfiel? Ach so, deswegen. Wir, halbverhungert und abgerissen, gewinnen den Krieg, den die Deutschen verlieren und überhaupt nicht nötig gehabt hätten, vollgestopft, wie sie waren.
Daran dachte ich, als ich zusammen mit Starikow all die Sachen auf die Ladefläche des LKW warf, mit der Absicht, sie unter meine Soldaten zu verteilen, auf dass sie zumindest drei Nächte lang wie Menschen schlafen könnten. Kopfkissen haben sie drei, einige von ihnen schon sechs Jahre nicht gesehen.
Wir sind nicht allein in der Stadt. Genau wie wir sammeln noch einige dutzend Soldaten und Offiziere aus verschiedenen Einheiten Trophäen und es stehen unterschiedlichste Fahrzeuge herum, Anderthalbtonner, Studebakers und Jeeps, vielleicht dreißig oder vierzig. Da erscheint plötzlich eine Fokke-Wulff, ein wendiger und höchst manövrierfähiger Aufklärer, über der Stadt, und keine zehn Minuten später beginnen deutsche Batterien mit dem Beschuss. Wir sehen zu, dass wir verschwinden. Vor und hinter uns detonieren die Granaten, wir verfahren uns in den uns unbekannten Gässchen und Straßen. Aber mit Hilfe meines Kompasses halten wir Kurs nach Osten und erreichen, an brennenden LKWs vorbei, letztlich die Chaussee, auf der wir gekommen sind, geraten erneut unter Beschuss, haben aber Glück und sind abends beim Kompaniestab....
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Über breite, gut ausgebaute Straßen, bereits komplett von Minen geräumt, jagen
unsere LKWs, vollgestopft mit Männern, Gepäck, Technik und Proviant, vorbei an
brennenden Dörfern und Städtchen und durch das lodernde Insterburg. Wir
schlucken glühende Luft, vermischt mit Rauch, unsere Wimpern sind abgesengt,
am Mittag des zweiten Tages sind alle derart erschöpft, dass wir beginnen, die
Orientierung zu verlieren und ich beschließe, in einem fünfzig Meter von der Straße
entfernten, unbeschädigten Bauernhaus zu rasten.
Alle sechs LKWs und das Funkgerät unterstehen mir. Tarasow und Stscherbakow mit ihrem Jeep sind zurückgeblieben, und keineswegs zufällig.
Stscherbakow mit seiner Ordonnanz und seiner Freundin Anja schnappte sich noch die zwanzigjährige Telefonistin Rita aus dem Divisionsstab sowie einen Zehnliter-Ballon Wodka, und zusammen mit Tarasow blieben sie in irgendeiner heilen Bauernhütte, eine knappe Tagesfahrt hinter uns. Abends tranken sie auf die Offensive und nachts schob Stscherbakow dem halbbetrunkenen Tarasow die üppige und erfahrene Rita unter, und er war wohl der einzige, mit dem sie noch nicht geschlafen hatte. Am zweiten Tag vermochte unser asketische, stolze und talentierte Tarasow nicht mehr ohne Rita zu leben, am fünften erwischte er sie auf dem Dachboden, mit dem Soldaten Sizukow auf ihr....
.... er klettert auf den Dachboden des deutschen Bauernhauses, in dem sein Stab logiert, und schneidet sich an beiden Armen die Pulsadern auf. Seine Ordonnanz entdeckt ihn kurz vor dem Exitus, verbindet ihn und schafft ihn ins Lazarett. Abends schneiden sie Rita aus der Schlinge, an der sie schon baumelt und können sie gerade so eben wiederbeleben.
So offenbaren sich in unserer Einheit Romeo und Julia. Aus dem Hospital zurück, ruft mich Tarasow und versetzt Rita in meinen Zug. Er weiß, dass ich mich meinen Telefonistinnen bewusst nicht nähere.
Über dieses Thema hatten wir uns schon oft unterhalten, meine Meinung war ihm seit langem bekannt. Natürlich gefielen mir eine ganze Menge, und nachts träumte ich von ihnen. Heimlich war ich mal in Katja verliebt, dann in Nadja oder Anja, die mir weit entgegenkamen, sich an mich schmiegten, mich küssten oder sogar mehr oder weniger einluden, alles auf scherzhafte Weise, wie sie vorgaben. Ich jedoch wusste, dass es ihnen ernst war, kannte mich aber und mir war klar, dass ich mich nicht würde zurückhalten können, wenn ich darauf einginge und jede Dienstordnung wäre zum Teufel. Auf Händen würde ich sie tragen und könnte mich als Vorgesetzten selbst nicht mehr achten. Wenn ich ihnen einmal etwas durchgehen lassen würde, müsste ich es ständig machen, und, aus Gründen der Gerechtigkeit, den anderen auch, aber wie sollte man dann arbeiten und Krieg führen?
Ich muss erwähnen, dass der frühere Tarasow ebenso dachte, wie ich, und sich auch so verhielt. Allerdings gab es noch einen anderen Grund.
Mir war völlig klar, unter welch schweren Bedingungen diese achtzehnjährigen Mädchen an der Front lebten, bei völliger Abwesenheit von Hygiene, in einer Kleidung, die für Kampfhandlungen völlig ungeeignet ist, in Strümpfen, die zerrissen sind und ständig herunterrutschen, in Filzstiefeln, die nicht trocken werden und scheuern, in Röcken, die am Laufen hindern und den einen zu lang, den anderen viel zu kurz sind. Auch mit der Existenz von Regelblutungen
hatte niemand gerechnet, und eine Absenz während ihnen wurde von keinem Soldaten oder Offizier geduldet, wobei es unter letzteren nicht nur verliebte Jüngelchen gab, sondern auch subtile Sadisten.
Wie unnachgiebig diese jungen Mädchen Selbstbewusstsein und weibliche Würde verteidigten, um sich dann doch in einen Soldaten oder jungen Leutnant zu verlieben, woraufhin die Feldwebel im Auftrage von Offizieren mit dem Rang eines Schweinehundes diese Soldaten drangsalierten und die Mädchen letzten Endes genötigt wurden, sich unter diese Mistkerle zu legen, die sie schließlich, im besten Falle, einfach rausschmissen, im schlechtesten öffentlich lächerlich machten oder, was auch vorkam, schlugen. Wie sie sich schließlich in ihr Schicksal ergaben und sich daran gewöhnten, die täglichen hundert Gramm Wodka auf ihre, zwangsweise, zerbrochene Jugend zu kippen...
So ist der Mensch, der alles Schlechte schnell zu vergessen beginnt, um es später dann auch noch zu romantisieren, und wer denkt noch daran, dass die Mädchen oft schon nach einem halben Jahr schwanger in die Etappe geschickt wurden, in der einige ihre Kinder zur Welt brachten und ins Zivilleben wechselten, während andere, und das war die große Mehrheit, nach einer Abtreibung zu ihrer Einheit zurückkehrten, bis zur nächsten Abtreibung.
Ausnahmen gab es. Auch Auswege.
Der beste: FFG*, Frontfrau eines Generales, etwas schlechter dagegen: die eines Obersten (sie konnte jederzeit von einem General weggenommen werden)...
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* ППЖ - походно-полевая жена
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Im Februar 1944 erreichten die Gerüchte über den Fernmeldeleutnant, der seine Mädels nicht, wie man heute sagt, zu bumsen pflegte, auch die Generäle im Armeestab.
Verschiedene FFG's nämlich betrogen ihre Generalsliebhaber wieder und wieder mit jungen Soldaten. So erhielt mein Zug auf direkte Anordnung des Armeebefehlshabers eine neue Telefonabteilung - sechs Telefonistinnen, wegen Verfehlungen im Arbeitsfeld der Liebe strafversetzt, sechs FFG's,
die ihre Generäle betrogen hatten, und zwar den Chef der Politabteilung, den Stabschef, die Kommandeure zweier Korps, den Hauptintendanten und noch irgendeinen Militärchef.
Sie waren sämtlich durchaus lasterhaft, vom Schicksal verwöhnt und anfangs recht hilflos unter den Bedingungen unseres nomadenhaften Frontlebens.
Zu ihrem Vorgesetzten ernannte ich Oberfeldwebel Poljanski, einen absolut zuverlässigen Menschen von riesenhafter Statur, verlässlich und in allen Dingen geschickt. Ich wusste, wie sehr er sich nach seiner Frau und seinen vier Töchtern sehnte. Sein Stellvertreter wurde der schon ältere Dobrizyn, ebenfalls Familienvater. Zu zweit hoben sie den Unterstand aus. Hackten Bäume um.
Etagenbetten, drei Trennwände, das Metallfass als Ofen, ein Tisch für die
Telefone, das Gestell für die MPs, die Kerosinlämpchen, Patronen, Handgranaten. Alle Dörfer ringsum waren abgebrannt, sie mussten alles eigenhändig zimmern.
Die Mädels konnten gut fluchen, und das vielfältig abgestufte, heisere Mat Poljanskis stieß auf Gegenliebe und versöhnte sie. Eine Woche ging vorbei, und sie schienen ihre Mission erfüllt zu haben...