30 Jahre später, Borissow, 9. Mai 1974
Ich gehe ans Telefon. Grigorij Lewin. Er fragt, ob ich zusammen mit einer Delegation der Veteranen der 31. Armee nach Borissow fahren könne, um an der feierlichen Veranstaltung zum dreißigsten Jahrestag der Befreiung der Stadt teilzunehmen.
- „Wann denn?“
- „Morgen. Heute sollen wir Reisegeld bekommen, das Hotel ist reserviert,
elf Veteranen fahren, du wärst der zwölfte“.
Bahnhof, der Zug fährt ein, feierliche Begrüßung. Im Hotel Vierbettzimmer.
Der ehemalige Chef der Politabteilung einer Division - Oberst im Ruhestand, ein ehemaliger Hauptmann der Artillerie, ein ehemaliger Kommandeur einer Partisaneneinheit, der Georgier Josseliani, und ich. Im Nachbarzimmer fünf
48-jährige Frauen, auf der Brust einer jeden ein oder zwei Ruhmesorden für gutgeschriebene 60 bis 100 abgeschossene Deutsche. Sie waren Scharfschützinnen gewesen, ihre Militärschule befand sich in der Orangerie des Palastes in Kuskowo.
Abends laden wir Männer-Veteranen die Damen Scharfschützinnen in unser Zimmer. Neben mir am Tisch sitzt die freundliche und fröhliche Mascha. Wir machen uns bekannt, ich Künstler, sie betreut die Perücken im Bolschoi-Theater. Die Perücke Lenskijs, Germans, die von Natascha Rostow. Ich frage sie, was ihr Mann so mache, aber es gibt keinen Mann und keine Kinder, und im Scherz schlägt sie mir vor, auf die Ehre unserer Bekanntschaft Bruderschaft zu trinken.
- „Mit Tee?“
- „Natürlich, mit was denn sonst?“
Währenddessen hat sich im Raum eine leidenschaftliche Diskussion entwickelt.
Der Komissar erinnert sich an eine Höhe drei Kilometer vor der Stadt, auf der die Deutschen in einer vorteilhaften Position lagen, wir hatten allerdings keine Wahl und versuchten dreimal, sie im Sturm zu nehmen. Es zeigt sich, dass der Artilleriehauptmann ebenfalls am Angriff teilgenommen hat und dabei zwei seiner besten Freunde verlor. Später, als wir die Anhöhe genommen hatten, beerdigte er sie mit eigenen Händen und stellte Pfähle und Tafeln mit ihren Namen auf.
Er versichert uns, dass die Deutschen letztendlich nur dank der Unterstützung seiner Batterie zum Rückzug gezwungen wurden. Mascha und ich achten allerdings mehr auf die Erzählung Josselianis. Als UdSSR-Champion im Laufen lädt Stalin ihn 1939 für zwei Wochen bei sich ein, und er verbringt diese vierzehn Tage auf der Datscha des Führers des Volkes. Im Dezember 1941 ruft Stalin ihn erneut zu sich, aus Tblissi, und ernennt ihn zum Kommandeur einer Luftlandetruppe. Er erzählt, wie er mit fünf MG-Schützen nachts in der Gegend von Borissow abspringt, um Partisanengruppen in Weißrussland zu unterstützen, bzw. zu gründen, wie er allerdings keine Widerstandsbewegung und keine Partisanen finden kann und die Bevölkerung ihnen feindlich entgegentritt. 1942 warten die Bauern auf deutsche Gesetze, die die Auflösung der Kolchosen und die Aufteilung des Landes in Privateigentum anordnen sollen.
Josseliani versucht sich mit seinen Schützen im Wald zu verstecken, aber überall trifft er auf Denunzianten und Verräter. Die Gruppe wird fast vollkommen vernichtet, er selbst verwundet und von den Ärzten des städtischen Hospitals gerettet. Dort werden verwundete deutsche Offiziere gepflegt, aber in einem versteckten Zimmer liegen er und der Rest seiner Männer.
Ich bin erschüttert.
Josseliani weiter: „1942 treffe ich auf kämpfende Einheiten der Zentralfront. Zu Beginn des Frühlings 1943 kann ich die Frontlinie überqueren. Bereits dutzende Kilometer vorher haben die Deutschen alle Dörfer und Siedlungen abgebrannt, nur Schornsteine ragen noch empor, alle Felder und Wege zwischen ihnen sind vermint. An der Zentralfont und im Kalininer Gebiet zerstörten die Deutschen die frontnahen Dörfer, um eine Partisanentätigkeit zu verhindern, wobei man konstatieren muss, dass diese in Weißrussland erst 1943 entstand, nach massenhaften Requirierungen und nachdem Frauen und Kinder zur landwirtschaftlichen Zwangsarbeit nach Deutschland entführt wurden.
Erst dann erinnerte sich die Bevölkerung Weißrusslands in Städten und Dörfern ihres Patriotismus'.“
Ich lausche seiner tragischen, für mich unerwarteten Erzählung, aber die zweifach dekorierte Mascha flüstert mir ins Ohr: „Hilf mir bitte, sie haben mich hier in ein Gemeinschaftszimmer gelegt, ich bin schon ganz panisch. Ich möchte nicht, dass alle erfahren, dass ich keine Beine mehr habe, ich mag meine Protesen nicht abnehmen, wenn andere zugucken.“
- „Mascha, aber was erzählst du denn da? Du bist mir doch gleich aufgefallen:
eine stolze Frau mit einem entschlossenen Gang! Machst du Witze?“
Aber Mascha hebt ihren Rock ein wenig, nimmt meine Hand und drückt sie an ein Bein - eine Holz- und Metallkonstruktion.
- „Ach du lieber Gott,“, stottere ich nur, „du bist eine Heldin, warum
verheimlichst du das?“
Ich sage sofort dem Hauptmann und dem Obersten Bescheid, wir gehen gemeinsam zur Rezeption und unsere Anfrage wird augenblicklich genehmigt.
In diesen vier Tagen laufen wir viel, durch die Stadt, durch Fabriken, über das Gelände der Gedenkstätte, und nie lässt Mascha erkennen, dass es sie ermüdet, sie lächelt stets und scherzt.
Dagegen verblassen, in meinen Augen, die Heldentaten Maresiews. *
* Sowj.Pilot, der nach einer Beinamputation weiter Kampfeinsätze flog
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Abends um 22 Uhr erscheint ein Mitarbeiter des Stadtkomitees: ein Militärjeep stünde uns einen Tag zur Verfügung, damit wir uns die Stätten der Kämpfe 1944 noch einmal anschauen könnten - die Schluchten, Höhen, Äcker und Sümpfe, an denen die deutsche Verteidigungslinie durchbrochen wurde...
„Hier irgendwo muss sich damals der Divisionsstab befunden haben...“
bemerkt der Oberst unsicher, „Unterstände und Gräben, 500 Meter weiter
links haben wir unsere Regimentskameraden begraben, und irgendwo dort
drüben krochen wir durch die Schlucht und haben die Deutschen aus
ihren Bunkern geworfen...“
Aber diese Bunker und Gräben, diese Höhe und jene Schlucht haben wir nicht entdeckt, wir konnten überhaupt nichts wiederfinden. In dreißig Jahren war nicht nur die Siedlung gewachsen, auch die Waldgrenze, die Äcker und Felder, der Sumpf und das Birkengehölz haben sich verändert, jeder Weg führt ganz woanders hin und unsere Erinnerung stimmt in keinem Fall mit dem überein, was sich vor unseren Augen ausbreitet. Wir erkennen einzig die zerstörte Brücke über die Beresina, die 1944 auf ihrem Rückzug von den Deutschen gesprengt wurde.
О Березина, земли граница,/
Мост на дне, а новый не готов,/
Танков и повозок вереница, /
«Юнкерсов» пикирующих рев. /
Мост на дне, воронки у причала,/
Два десятка взорванных машин./
Кто за кем и чей черед сначала – /
Не разнять майоров и старшин. /
Время, словно пробка, сердце бьется, /
люди тонут, глохнут, говорят, /
А в кювете, несмотря, что топко,/
Кое-где уже костры горят, /
Смех и страх, а под ногами глина,/
Горький дым и сладкая конина.
O Beresina und Erden der Grenze,
Deine Brücke zerstört, die neue im Bau,
Der Panzer und Karren Rattenschwanze
Der Ju-87 Gebrüll und Gefauch.
Die Brücke zerstört und Trichter am Steg,
ausgebrannte Vehikel am Strand.
Wer macht sich zuerst auf den Weg,
wer ist Major und wer nur Sergeant.
Die Zeit steht still, das Herz es klopft,
Menschen ertrinken ertauben und reden,
aber im Graben, feucht-unangenehm,
glimmt irgendwo schon der erste Herd,
Lachen und Angst, unter den Füßen Lehm
bitterer Rauch und süßes Pferd.
Die alte Brücke existiert nicht mehr.
Die Minsker Chaussee macht einen Bogen und führt zur neuen.
Ich aber rede von der alten, der gesprengten, über der die Messerschmitts in der Luft kreisten, neben der die Pioniere, im Wasser stehend, die Pontonbrücke schlugen und vor der sich auf der Chaussee ein drei Kilometer langer Stau gebildet hatte: Panzer, Selbstfahrlafetten, schwere Artillerie, motorisierte Infanterie, Dodge und Studebaker-LKW, Katjuschas.
Ein Blick reicht aus: die Brücke finden wir nicht mehr.
Ich erinnere mich noch, wie wir rechts der gesprengten Brücke, gemeinsam mit dutzenden und hunderten nichtmechanisierter Abteilungen die Beresina über eine Furt passierten.
Ich blicke nach rechts - irgendein Gebäudeteil einer vorrevolutionären Fabrik,
parallel zum Fluss, bedeckt mit einer jahrhundertalten Schicht rostigen Stacheldrahtes. Das muss sich also weiter weg abgespielt haben.
Müde und enttäuscht kehren wir ins Hotel zurück. Dort erwarten uns bereits die Vertreter der Stadtverwaltung. Uns zu Ehren richten sie ab 20 Uhr eine Feier aus, und zwar im städtischen Club 'Blaue Flämmchen'.
'Blaue Flämmchen'. Gibt es da einen Zusammenhang?
1974 ertönten im Radio von morgens bis abends - das erste Mal nach Kriegsende - die Zeilen eines einzigen, neuen Liedes: „Frontkämpfer, legt die Orden an!“, und wir alle steckten unsere Medaillen und Orden schon nicht mehr an die Uniform, aber ans Jackett.
Blaue Flämmchen - so hieß eine Unterhaltungsshow des russischen Fernsehens, ausgestrahlt zu Feiertagen. Diese zu imitieren - das war der blaue Traum jedes Studenten- oder Fabrikclubs, jeder Unterhaltungseinrichtung auf Stadt-, Rayon- oder Republikebene.
Aber in der Stadt Borissow bereitete man den Tag der Befreiung nicht derart formal vor. Die Moskauer Veteranen begingen ihn gemeinsam mit denen aus Borissow.
In einer Art Hochzeitskleid, aus weißer Seide, erscheinen die wohl zwanzig hübschesten Mädchen der Stadt. Alle Orchester der Stadt sind zu einem einzigen vereint. Das Ganze findet in dem riesigen Klubsaal statt, an dessen Wand Tischchen mit Essen und Weinen aufgestellt sind, jedes für vier Personen: zwei Veteranen, zwei Mädchen. Das extra zusammengestellte Orchester hat für die Feier ein Repertoire aus Foxtrott, Tangos und Walzer aus der Zeit vor und nach dem Kriege eingeübt. Und dann geht es los.
Der Reihe nach wird zu jedem der Tischchen ein Mikrofon getragen, eine junge und hübsche Moderatorin stellt jeden der Veteranen vor und jeder erzählt, was ihm noch im Gedächtnis geblieben ist. Aber es sind keine Schauspieler und keine Literaten. Es gibt einige interessante Auftritte, aber die meisten reden wie die Zeitungen oder über die Rolle Stalins. Jeder Beitrag endet mit einem Toast, die Veteranen stoßen mit den Mädchen an, diese verbeugen sich, machen einen Knicks und fordern jeden zum nächsten Tanz: Riorita, Onkel Wanja, Schmetterlinge im Regen... Ich sitze noch, warte auf meinen Auftritt und bin ziemlich nervös, weil ich beschlossen habe, den Leuten aus Borissow von dem unbeschreiblichen Anblick tausender Artilleristen, Infanteristen und Fernmeldesoldaten zu erzählen, die nackt durch eine Furt die Beresina überqueren....
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Hier halte ich an, so geht es nicht. Offensichtlich muss man anders beginnen.
Mit dem Frühling 1943? Mit Frühling und Sommer 1944? Mit dem Dorf Staraja Tuchinja?
Ende April begann die lehmige Unterschicht der bis dahin nahezu unpassierbaren Wege auszutrocknen. Die Strukturen der Armee und ihrer verschiedenen Einheiten veränderte sich rapide in Folge der Lieferungen des Lend-Lease Act. Ich versuche, mich an die Abläufe zu erinnern, werde mich aber wahrscheinlich in einigen Dingen irren.
Am 25. Juni 1944 blieben wir auf der Minsker Chaussee vor diesem oben beschriebenen Stau stecken, in dem im wesentlichen Panzer, Lkws und die Anderthalbtonner der Stäbe standen. Darüber kreisten einige Messerschmitts und Junkers.
Die Beresina-Brücke ist gesprengt und im Sturzflug zerstören deutsche Flugzeuge die Ponton-Brücke genauso schnell, wie sie errichtet wird, als wir, anderthalb Kilometer vor dem Fluss, rechts von der Straße, vor einem unbefestigten Feldweg das Schild „Furt über die Beresina“ entdecken.
Ich erinnere noch, wie wir uns freuten, an die Seite fuhren und auf den unbefestigten Weg abbogen, der Granatwerferabteilung hinterher, dann anhielten, um Luft zu schöpfen. Auf der Chaussee nämlich hatte über allem eine dichte Staubwolke gelegen. Hitze, Staub und Lärm, das Fluchen der Fahrer der feststeckenden Wagen, vermischt mit dumpfen Kommandos in Mat, ausgestoßen von die Kontrolle über ihre Einheiten verloren habenden Majoren und Obersten - alles das lag jetzt hinter uns. Die Messerschmitts - hinter uns, die Junkers - hinter uns, vor uns ein Hügel und hinter ihm geht es hinab zum abschüssigen Ufer des Flusses, aber welches Bild eröffnete sich uns?
Wereschtschagins 'Schipkapass'? Oder das andere, mit den Schädeln?
Hier gab es ein drittes, das niemandem bisher zu Gesicht gekommen war und in keinen Rahmen der Vernunft passte.
Von einem Ufer zum anderen ein Durcheinander von sich aufbäumenden, schwarzen Pferden und tausenden nackter, schwarzer Männer und Frauen mit schwarzen Granatwerfern, schwarzen Maschinenpistolen, Kanonen und Fuhrwerken, die entladenen Wagen auf den Schultern durch den Fluss tragend oder schwimmend ihre Uniformen gen Himmel streckend. Schwarz deswegen, weil Staub, Dreck und Schlick, Algen, Lehm und Schlamm das Wasser in schwarze Gülle verwandelt haben, eine Brühe mit der Konsistenz von Schmand. Schreie, Pfiffe und Wiehern, nackte, tierähnliche Wesen, Orang-Utans, fluchend, ausrutschend, etwas verlierend, untertauchend. Oben, am anderen Ufer, sich im Gras wälzend, denn im Dreck kann man sich Hosen, Rock und Bluse nicht überstreifen.
Die fauchenden und schnaufenden Pferde erscheinen mir wie Drachen, die Menschen wie Teufel in einem Höllenkessel oder bei einem Bacchanal, nur wer hier die Teufel, wer die Sünder oder die Gerechten sind, lässt sich nicht auseinanderhalten.
Ich erinnere mich, wie wir selbst uns aller Kleidung entledigen, die Pferde ausspannen und eins nach dem anderen ans andere Ufer führen, wie wir nackt die entladenen Fuhrwerke auf Händen hinüberschleppen, dann die Funkgeräte, Kabeltrommeln, Maschinenpistolen, Munitionskisten, Telefonapparate, wie wir ausrutschen, nach Luft schnappen, zurückbleiben, uns an der Brühe verschlucken, wie der schwarze Schlamm in Mund, Nase und Ohren gerät und wir ihn nicht wieder loswerden können.
Hin und zurück, hin und zurück.
Ich habe keine Ahnung, wie ich mir den Dreck wieder abgewaschen habe.
Ich weiß nur noch, wie wir am anderen Ufer stehen, bekleidet, und die sechs Gespanne mit Material und Waffen neben uns.
Wir errreichen die Stadt, und am Straßenrand glückliche Bauern, Frauen, Omas, und alle mit einer Flasche Wein in der Hand, einem Glas und einem Stück Speck, und keine Einladung dürfen wir ausschlagen. Wir küssen, trinken und werden mit jedem Meter betrunkener.
Woher kommen italienischer Wein und deutsche Zigaretten? Wir werden überschüttet mit ihnen. Die Bevölkerung hat die Lagerhäuser an der Eisenbahnstrecke gestürmt, unsere Rationen hingegen sind aufgebraucht, wir haben weder Heu noch Hafer, die Pferde zu füttern.
Ich lasse einen Wagen entladen und führe den Zug in einen Hinterhof, es ist der Garten eines zweistöckigen Hauses an der Petrowskij-Straße. Auf das leere Fuhrwerk ich, Grischetschkin und zwei meiner Feldwebel.
Ein Lagerhaus. Vier Säcke Hafer und Heu, nur im Kopf dreht es sich schon ein wenig, ich schicke einen Feldwebel los, zu fragen, wie wir wieder zurück zur Petrowskij-Straße kommen. Er geht in ein Haus, in ein zweites und ist verschwunden. Warten können wir nicht, wir fahren irgendwohin los, ich schicke den zweiten Feldwebel, er betritt das erste Haus, das zweite. Wir warten.
Wieder kommt ein Alter angelaufen, mit Weinflasche und Glas, wir können nicht ablehnen. Im Gebäude gegenüber schreit eine Frau. Ich springe vom Wagen ins Haus, erblicke einen mir unbekannten Soldaten, der einer Frau den Rock herunterreißt und ziehe den Nagan aus der Pistolentasche. Der Soldat bemerkt mich, lässt die Frau los und verschwindet wutentbrannt. Ich dagegen bin völlig hin, um nicht umzufallen, halte ich mich an der Wand fest und draußen an einem Zaun.
Wagen und Pferdchen stehen noch da, aber Grischetschkin ist weg. Mit Mühe ziehe ich mich auf die Säcke, mir wird immer schwindliger.
Die Feldwebel abgehauen, Grischetschkin abgehauen, wohin ich fahren soll, weiß ich nicht, und plötzlich fühle ich mich so erniedrigt, dass ich anfange zu schluchzen. Das erste und letzte Mal im Krieg, dass ich weinte. An das weitere erinnere ich mich nicht.
Jemand rüttelt an meiner Schulter. Ich wache auf. Kompaniechef Roshizkij steht über mir und schaut mich voller Verachtung an. Ich gucke mich um. Ich bin im Hof, im Garten in der Petrowskij-Straße, mein Zug um mich herum. Das begreife ich nicht. Aber Roshizkij begreift auch nichts.
Ich, der Zugkommandeur, habe getrunken und bin inmitten meiner Soldaten eingeschlafen. Nicht so tragisch. Er hat sich ja selbst bewirten lassen.
Aber wie habe ich wieder zu meinem Zug gefunden? Wer hat mich aus dem irren Chaos der befreiten Stadt geholt?
Roshizkij fährt weiter, ich frage Peganow.
„Leutnant“, sagt er mir, „Sie haben da ein wunderbares Pferdchen, das
hat Sie ganz allein hergebracht“.
„Und wo ist Grischetschkin?“
„Der ist nicht da“.
Die junge Moderatorin tritt zu mir und bittet mich, den Zuhörern etwas zu sagen.
Ich fange an zu erzählen: „Anderthalb Kilometer vor der Brücke... Stau...
Messerschmitts... Die Furt... die nackten schwarzen Menschen an Teufel, die
Pferde an Drachen erinnernd... die getragenen Fuhrwerke, die sich im Gras wälzenden Entblößten...“
Plötzlich ertönt eine Frage aus dem Saal: „Was erzählen Sie uns denn hier?
Wir haben hier gar keine Furt!“
„Wie, keine Furt...“, entgegne ich, „anderthalb Kilometer...“
Der ganze Saal im Chor: „Hier gibts keine Furt!“ Sie verschlucken sich vor Lachen.
„Aber anderthalb Kilometer...“
Eines der Mädchen am Tisch steht auf, nimmt mich in den Arm, und wir tanzen den Vorkriegstango „Schmetterlinge im Regen“.
„Walja!“, beschwöre ich ihr, „aber das stimmt alles, was ich erzählt
habe!“
„Ach, Leonid Nikolajewitsch“, sagt sie, „macht doch nichts, haben Sie ein
Gläschen zuviel getrunken...“, küsst mich und führt mich zu meinem Stuhl
zurück, während der nächste Veteran über unseren großen
Generalissimus redet und mein Auftritt bereits vergessen ist. Ein kompletter
Reinfall.
Am nächsten Morgen stehe ich um 6 auf, gehe zur Brücke, dann drei Kilometer die Chaussee zurück und versuche, über einen Feldweg zum Fluss hinunter zu gelangen, was sich aber als unmöglich erweist, weil sich dort über mehrere Kilometer die Ziegelmauer der alten Fabrik hinzieht. Tatsächlich keinerlei Furt. Bin ich tatsächlich schon debil?
Aber eine Furt gab es, und die schwarzen Pferde-Drachen. Wahrscheinlich ein anderer Fluss, eine andere Stadt? Ich hab das doch nicht geträumt?
Ich versuche, mich zu erinnern.
Zuhause in Moskau liegt in einer Kiste ein Bündel der Briefe, die ich in den Kriegsjahren, 1942-44, meinen Eltern geschickt habe. In einem von ihnen hatte ich den Übergang beschrieben.
Ob er noch da ist?
Wieder in Moskau.
Ich bin wieder am Arbeiten, aber der Gedanke an die nichtexistente Furt lässt mir keine Ruhe. Und endlich schnappe ich mir das Bündel, finde den Brief und mir wird alles klar. Da hat der Zeitabstand mir übel mitgespielt. Den Wegweiser gabs, aber nicht anderthalb, sondern acht Kilometer vor der Brücke, wir machten damals also einen großen Umweg und der Flussübergang geschah nicht in der Nähe der Stadt, sondern wahrscheinlich dutzende Kilometer entfernt. Am Abend fuhren wir Richtung Brücke, die ganze Nacht zunächst auf der Minsker Chaussee, dann auf dem Feldweg, am nächsten Morgen der Flussübergang und um 15 Uhr waren wir in der Stadt.
Und wie kam Roshizkij mit seinem Jeep dahin? Sicher mit allen anderen Fahrzeugen über die nachts fertiggestellte Pontonbrücke. Doch, es gab diese Flussüberquerung, nein, erfunden hatte ich nichts.